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D
er Duft von Rhoda Carmichaels Parfüm, einer Mischung aus Lilien und Babypuder, erfüllte den Aufzug. Rhoda hatte ihr allgegenwärtiges Handy in der rechten Hand und in der linken eine Handtasche von der Größe eines Kleinkindes.
Alex warf Laurie ein verhaltenes Lächeln zu, während die Stockwerksanzeige nach oben kletterte. Sie wusste, ihm ging der gleiche Gedanke durch den Kopf: Rhoda wird darauf aus sein, dass wir noch hier, an Ort und Stelle, den Vertrag unterzeichnen.
Rhoda hatte noch nicht den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als bei Laurie und Alex die Alarmglocken schrillten. Sie sprach von einer »nur leicht eingeschränkten Aussicht«, Maklerjargon für einen schmalen Himmelsabschnitt, der über der gegenüberliegenden Ziegelwand gerade noch so zu erkennen war. »Altehrwürdiges Gebäude« hieß altmodisch, verdreckt oder beides. Und das ultimative Todesurteil lautete »mit potenziell viel Charme« – genauso gut hätte man von jemandem sagen können, er »bemühe sich redlich«.
Als Laurie mit Alex durch die Räume ging, versuchte sie sich ihr gemeinsames Leben hier vorzustellen. Da Timmy leidenschaftlich gern Trompete spielte, mussten die Wände massiv genug sein, damit sich die Nachbarn nicht gestört fühlten. Sowohl sie als auch Alex würden gelegentlich zu Hause arbeiten, also musste zumindest ein Büro verfügbar sein. Und natürlich brauchte Ramon einen Bereich für sich und eine Küche, die seinen Fertigkeiten gerecht wurde
.
Es dauerte nicht lange, und sie sprachen darüber, welche Wände einzureißen und wohin die Badezimmer und die Küche zu verlegen seien. Allein der Gedanke daran erschöpfte sie. Die Wohnung war nicht geeignet.
»Steht die Situation Ihres Vaters einem Abschluss im Weg?«, wollte Rhoda wissen.
Laurie sah sie überrascht an, sie verstand die Frage nicht ganz.
»Die Lage«, erklärte Rhoda. »Sie sind diesbezüglich sehr wählerisch. Ich gehe mal von einem Radius von sechs Straßenzügen aus, die zwischen der Schule Ihres Sohns und der Wohnung Ihres Vaters liegen sollen. Wenn wir hier flexibler wären, könnte ich für Sie sicherlich was Perfektes finden.«
»Es gibt da etwas Spielraum, aber mein Sohn muss zur Schule. Und mein Dad hat sein Leben. Daran lässt sich nun mal nichts ändern«, sagte Laurie.
»Ich weiß. Aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Sie haben Ramon, der, scheint es, so gut wie alles kann, also könnte er auch Ihren Sohn zur Schule fahren. Wenn also Ihr Vater in der Nähe wohnt – oder vielleicht sogar bei
Ihnen –, können Sie so gut wie überall in Manhattan etwas erwerben, dann müsste nur noch Timmy zur Schule gebracht werden.«
Laurie sah ihren Sohn vor sich, der hinten im schwarzen Mercedes saß, statt, die Tasche auf dem Rücken, zusammen mit ihrem Vater zur Schule zu stapfen. So hatte sie sich seine Zukunft nicht vorgestellt.
»Ich kann meinen Vater nicht darum bitten umzuziehen«, sagte sie. »Außerdem würden sich dann er und Ramon darum streiten, wer zu Hause das Sagen hat. Zwei solche Sturköpfe verträgt kein Haushalt.«
Alex musste lachen.
Rhoda gab es auf. »Gut«, sagte sie achselzuckend. »Wir werden für Sie die perfekte Wohnung finden. Worauf Sie aber auch
achten sollten, sind die Ansprüche der Eigentümergemeinschaften. Manche von denen könnten Vorbehalte gegen Sie haben.«
»Wir sind nicht unbedingt ein Schwerverbrecher-Pärchen.« Sie klang defensiv, wusste Laurie, aber wie sollte sie sonst darauf reagieren?
»Ich weiß, ich weiß«, kam es schnell von Rhoda. »Ich hätte es anders formulieren sollen. Aber es würde mich nicht wundern, wenn manche Ihrer Arbeit wegen nicht allzu glücklich wären, Laurie. Immerhin haben Sie sich dadurch bereits einige Male in Gefahr gebracht, rechnen Sie also damit, dass Sie darauf angesprochen werden.«
»Niemand muss sich deswegen Sorgen machen«, versicherte ihr Alex. »Wie gesagt, der Marshals Service wird in jeder Wohnung, die wir beziehen, ein topmodernes Sicherheitssystem einbauen.«
Rhoda gab ein theatralisches Seufzen von sich. »Nun, das wird für so manches Gebäude in anderer Hinsicht ein Problem werden. Manche werden wenig begeistert sein, wenn die übrigen Bewohner durch Einbaumaßnahmen Beeinträchtigungen hinnehmen müssen.«
»Entweder bin ich also eine wandelnde Gefahrenbringerin«, sagte Laurie, »oder Alex genießt ein zu hohes Maß an Sicherheit. Noch irgendwelche Gründe, warum man uns nicht haben möchte?«
Rhoda wand sich. Ihr lag offensichtlich noch mehr auf der Seele. »Es würde mich kaum überraschen, wenn manche Eigentümergemeinschaft Alex auf seine bisherige Arbeit als Strafverteidiger anspricht. Auf seine eher berüchtigten Mandanten.«
Nicht schon wieder
, dachte Laurie. Alex hatte sich bereits selbst Sorgen gemacht, dass ihm einige alte Fälle in den Senatsanhörungen Probleme bereiten könnten. »Alex hat soeben
eine rigorose Überprüfung durch das FBI
über sich ergehen lassen und die Zustimmung beider Kammern im Senat erhalten. Man möchte doch meinen, dass das für jede Eigentümergemeinschaft genügen sollte.«
»Ich bin sicherlich übervorsichtig«, sagte Rhoda. »Ich möchte nur nicht überrascht werden. Keine Sorge. Wir werden die richtige Wohnung für Sie finden. Da bin ich mir ganz sicher.«
Sie dankten Rhoda, dass sie sich Zeit für sie genommen hatte, und stiegen in Alex’ Wagen.
»Haben Sie die neue Wohnung gekauft?«, fragte Ramon hinter dem Steuer.
»Noch nicht«, antwortete Alex.
Laurie legte die Hand auf seine. »Entschuldige meine hohen Ansprüche. Dein Leben wäre ohne mich viel weniger kompliziert.«
Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Soll das ein Witz sein? Ich bin doch derjenige mit den aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen und den ›berüchtigten‹ Mandanten. Offensichtlich spielte Rhoda auf den Carl-Newman-Fall an. Und sie hat nicht ganz unrecht. Viele New Yorker haben seinetwegen Geld verloren.«
»Aber es ist ja nicht so, dass du ihm geholfen hast, die Geschäftsberichte zu frisieren.«
Alex zuckte mit den Schultern. Er wusste schon sehr lange, dass für manche Menschen Strafverteidiger ebenso schlimm waren wie ihre Mandanten. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn wir nicht gerade in die Nachbarschaft eines seiner Opfer ziehen«, sagte er.
Lauries Telefon in der Handtasche klingelte. Sie sah aufs Display. Es war Leo. »Hallo, Dad.«
»Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich. Der Stern deines alten Vaters scheint im NYPD
im Niedergang begriffen zu sein.«
»Ich glaube dir keine Sekunde.
«
»Vielleicht auch nicht, aber ich hab versucht, die Ermittlungsunterlagen im Fall Bell für dich zugänglich zu machen. Der Leiter der Mordkommission sagte mir, der Fall sei noch nicht abgeschlossen. Ich hatte ja den Eindruck, dass da keiner mehr einen Finger rührt, aber sie wagen es nicht, ihn ad acta zu legen, weil die Familie Druck ausübt.«
Da Laurie Robert und Cynthia Bell kennengelernt hatte, konnte sie sich sehr gut vorstellen, wie das Paar seinen Einfluss geltend machte. »Hast du ihnen gesagt, dass die Familie an der Produktion beteiligt ist?«
»Ja. Ich hab sogar angeboten, dass die Eltern, wenn nötig, mit der Polizeiführung ganz oben telefonieren. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sie keinesfalls etwas unternehmen möchten, was später Kritik auf sich ziehen könnte – wie zum Beispiel Informationen herausrücken, die noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.«
»Du hast also keinerlei neuen Hinweise bekommen?«
»Kaum. Er hat lediglich die Gerüchte bestätigt, die ich gehört habe. Kendra war zur Tatzeit benebelt und völlig neben sich, hat sich dann aber fürchterlich aufgeregt, als man ihr Blut abnehmen wollte. Sie war entschieden dagegen, und da die Polizei keinen Durchsuchungsbeschluss hatte, konnte man sie nicht dazu zwingen. Mehr wollte er nicht erzählen, er hat aber schließlich bestätigt, dass Kendra mehrmals eine Kellerbar aufgesucht hat.«
»Und sich dort mit einem Mann getroffen hat? Oder?«
»Mit mehr wollte er nicht herausrücken. Wie gesagt, sie werden dir ihre Ermittlungsergebnisse nicht aushändigen. Aber einen Anhaltspunkt hat er mir noch gegeben. Als ich ihn auf den mysteriösen Unbekannten ansprach, sagte er: ›Ich will nicht behaupten, dass es ihn nicht gegeben hat, aber wenn – und falls wir ihn ausfindig gemacht hätten –, dann würde Kendra ihre Deckung verlassen müssen.‹
«
»Ihre Deckung?
«
»Ja. Seltsame Formulierung. Vielleicht wurden verdeckte Ermittlungen angedacht, um zu beweisen, dass sie einen Auftragskiller angeheuert hat. Wenn ich es mir recht überlege, würde ich auch so vorgehen.«
»Das reicht erst mal.« Und sehr viel fröhlicher fuhr sie fort: »He, Dad, Rhoda hat vorgeschlagen, dass du bei uns einziehst, wenn Alex und ich geheiratet haben.«
Alex neben ihr schmunzelte nur.
»Damit Ramon ständig überwacht, wie viel gesättigte Fettsäuren ich zu mir nehme? Und er mein Bier gegen Limo austauscht, wenn ich schlafe? Nein, ich bleibe bei mir zu Hause, bis sie mich mit den Füßen voran raustragen, vielen Dank auch.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Ich liebe dich, Dad.«
»Ich dich auch. Und pass auf dich auf, solange du einen Mord aufzuklären versuchst, ja?«
»Mach ich.«