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L aurie musste nur einen Blick auf Dana Licameli werfen und wusste, dass Grace recht gehabt hatte. Dana deutete immer an, in welcher Stimmung sich Brett gerade befand, bevor sie sein Büro betrat. Diesmal schüttelte Dana bloß den Kopf und winkte sie in Bretts innerstes Heiligtum.
Brett war nicht zum Leiter der Fisher Blake Studios aufgestiegen, weil er Kompromisse einging. Er war knallhart und streng und verschwendete keine Zeit mit Geplänkel. Sein Verstand lief immer auf Hochtouren, und er erwartete, dass die Welt sein Tempo mitging. Mehr als einmal hatte er Laurie angeschnauzt, weil sie nicht schnell genug redete, obwohl man ihr mehr als einmal gesagt hatte, dass ihr Maschinengewehrstakkato an alte Filmkomödien erinnerte. Aber Bretts Erfolge gaben ihm das Recht, das Studio so zu leiten, wie es ihm gefiel, außerdem nahm Laurie an, dass sein klassisches Fernsehgesicht – volles, stahlgraues Haar, markanter Kiefer – auch nicht schadete.
Mit einer Begrüßung hielt er sich auch heute nicht auf. »Kendra Bell«, schleuderte er ihr ohne jede weitere Erklärung entgegen.
Sie hätte wissen müssen, dass Ryan sofort zu Brett laufen würde, nachdem sie das Interview ohne ihn anberaumt hatte. Wie lange, überlegte sie, wollte sie es noch hinnehmen, dass er ihr beim Chef immer wieder in den Rücken fiel?
»Ich wollte mich gerade auf den Weg machen, um mich mit ihr zu treffen«, antwortete Laurie und warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr. »Ryan hat ein Problem mit seinem Zeitplan – ihm ist eine Sitzung mit seinem Personal Trainer dazwischengekommen –, aber es war der einzige Termin, der für Kendra passt.« Laurie war es leid, sich für jede kleine Entscheidung zu rechtfertigen, nur weil Ryan immer darauf aus war, seinen Einflussbereich zu vergrößern.
Brett hob genervt die Hände und brachte sie damit zum Schweigen.
»Warum triffst du dich mit ihr, wenn du den Martin-Bell-Fall abgelehnt hast?«
Jetzt erst begriff Laurie, dass sie mit ihren Vermutungen falsch gelegen hatte. Nicht Ryan steckte hinter Bretts Anfrage, sondern Robert und Cynthia Bell, Kendras Schwiegereltern.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie abgelehnt, Brett. Das ist eine lange Geschichte, die Kurzversion lautet: Kendra hat sich mittlerweile zur Teilnahme bereit erklärt. Ich treffe mich jetzt mit ihr, um mir ihre Version der Geschichte anzuhören und vergewissere mich, dass wir auch die anderen Beteiligten mit an Bord haben, bevor wir uns an die Arbeit machen.«
»Du hast die Ehefrau und die Eltern des Opfers, wen brauchst du noch? Der Typ war doch berühmt, schon bevor seine Ermordung auf den Titelseiten landete.« Wie immer machte Brett ihr sofort klar, dass Auflage und Einschaltquote die Währung ihrer Branche waren – nicht journalistische Qualität.
»Ich gehe davon aus, dass du mit Martin Bells Eltern gesprochen hast?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Zumindest wirkte er jetzt nicht mehr so, als würde er jeden Moment auf sie losgehen. »Nicht direkt. Aber Robert Bells Steuerberater spielt mit jemandem Tennis, der an der Northwestern in derselben Studentenverbindung war wie ich.« Es konnte einem schwindlig werden, wie solche Verbindungen manchmal liefen, aber Laurie verstand schon. »Ich habe zugesagt, mich darum zu kümmern.«
»Botschaft angekommen«, sagte sie und salutierte tatsächlich. »Ich hätte nur gehofft, du vertraust mir mittlerweile und weißt, dass ich einen Fall nie ohne einen guten Grund ablehnen würde.«
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie man so sagt.« Als er ihren Blick bemerkte, fügte er noch an: »Aber ich hab’s schon kapiert.«
Sie wollte schon gehen, als er noch etwas loswerden musste. »Versuch beim nächste Mal, Ryan im Voraus Bescheid zu geben, wenn du dich mit jemandem triffst. Der Junge hat einen Killerinstinkt.«
Brett konnte Laurie manchmal den letzten Nerv rauben, trotzdem wollte sie sich nicht die Laune von ihm verderben lassen.
Als sie an Grace vorbeikam, hatte sie eine Idee. »He, wie lautet noch mal der Name dieser Website, auf der du und Jerry letzte Woche nach einem neuen Lokal für die Happy Hour gesucht habt?«
Grace strahlte. »Tipsy-dot-com«, verkündete sie. »Wir haben einen tollen Laden für Mojitos gefunden. Steht denn ein Treffen an?«
»Nicht ganz«, entgegnete Laurie, »trotzdem danke.« Die Website hatte es Jerry und Grace ermöglicht, Bars und Lokale anhand von diversen Kriterien in der Nähe des Studios zu suchen.
An ihrem Schreibtisch rief sie die Site auf und suchte nach Lokalen, die in einem Umkreis von einem Kilometer zu Kendra Bells Wohnung lagen. Es gab seitenweise Einträge – Downtown war nach wie vor ein äußerst beliebtes Ausgehviertel.
Laurie klickte auf das Filtermenü und wählte »Bar« aus. Nur noch sechsunddreißig Einträge. Auf der zweiten Trefferseite wusste sie, dass sie es gefunden hatte. Jetzt wusste sie auch, was mit »Deckung« gemeint war.
Sobald sie im Taxi saß, rief sie ihren Vater an. »Dad, kannst du deinen Kontakt beim NYPD mal fragen, ob es sich bei Kendras Bar um das ›Cover‹ handelt? Eine Kellerbar zwölf Straßen von ihrer Wohnung entfernt?«
Wenige Minuten später rief Leo zurück. »Du erinnerst dich an das, was ich dir gestern Abend über das Verhalten der Ermittler erzählt habe?«
Natürlich erinnerte sie sich. »Die Polizei schweigt, solange keine Notwendigkeit besteht, etwas zu korrigieren?«
»Ich hab ihn gefragt, ob es sich um das Cover handelt. ›Kein Kommentar‹, war die einzige Antwort. Und dann hat er mir noch gesagt, dass die Tochter vielleicht ganz nach dem Vater schlägt. Gute Arbeit, Laurie.«
Sie nahm ihre Notizen für ihr Treffen mit Kendra zur Hand und änderte den letzten Stichpunkt: Mysteriöser Unbekannter im Cover.