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L aurie trat durch die Drehtür des Otto und spürte sofort, wie sie Hunger bekam, als ihr der Duft von Tomatensauce und frischen Kräutern in die Nase stieg. Nach der Wohnungsbesichtigung in der Mittagspause war für ein Essen keine Zeit mehr geblieben.
Überrascht sah sie Kendra mit einem Mann in ihrem Alter an der Bar des Restaurants sitzen. Kendra hatte noch ihre Praxiskleidung an. Ihr Begleiter trug ein weißes Hemd, das ihm eine Nummer zu klein war, dazu eine gestreifte Krawatte und Khakis. Es war erst drei Uhr nachmittags, die einzigen anderen Gäste waren ein Pärchen am anderen Ende der Theke. Vielleicht hatten sich Kendras Gewohnheiten in den vergangenen fünf Jahren gar nicht so sehr geändert.
Kendra nahm Blickkontakt auf und schien sich auf dem Barhocker etwas aufrechter hinzusetzen, als Laurie auf sie zukam. Nachdem sich Laurie auf dem freien Hocker neben ihr niedergelassen hatte, beugte sich ihr Begleiter zu Laurie herüber und gab ihr kurz die Hand. Er hatte ein schmales, weiches Gesicht, haselnussbraune Augen, bereits schüttere braune Haare und eine große Brille mit einem breiten schwarzen Gestell. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Verabredung störe, aber ich habe darauf bestanden, nachdem Kendra mir erzählt hat, wohin sie will. Ich bin Steven Carter. Ich arbeite mit Kendra.«
»Er meint damit, er ist mein Chef«, stellte Kendra klar. »Und ein sehr fürsorglicher noch dazu.«
Laurie erinnerte sich, dass der Name im letzten Gespräch mit Kendra gefallen war. Bei Carter handelte es sich um den alten Studienfreund, der Kendra als Assistenzärztin eingestellt hatte. Allerdings fragte sich Laurie, warum Kendra ihm überhaupt von diesem Treffen erzählt hatte. Denn am Vorabend hatte sie noch darauf bestanden, dass ihr gegenwärtiger Arbeitgeber in der Sendung namentlich nicht genannt würde. Laurie stellte sich schließlich nur mit ihrem Namen vor, ohne die Sendung zu erwähnen.
Der Barkeeper – glatzköpfig, aber mit einem makellos getrimmten grau melierten Vollbart – unterbrach sie und fragte, ob sie einen Prosecco wolle.
»Haben Sie beide auch einen bestellt?«, fragte Laurie.
Kendra schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht viel, außerdem ist es dafür noch viel zu früh. Tut mir leid, das klingt so ablehnend. Wir haben nur Kaffee und Eis geordert. Beides ist hier unübertroffen. Aber Dennis bringt Ihnen gern alles, was Sie wollen.«
»Das will ich meinen«, kam es fröhlich vom Barkeeper, der offenbar Dennis hieß und der die Augen zusammenkniff, wenn er lächelte. »Und Kendra hat ganz recht, wenn sie Steven als fürsorglich bezeichnet. Ich habe den strikten Befehl, jeden rauszuwerfen, der sie zu belästigen versucht. Kendra ist ein guter Mensch. Wir mögen sie.«
Allmählich dämmerte Laurie, warum Kendra dieses Lokal gewählt und ihren Chef mitgebracht hatte. Sie wollte Laurie zu verstehen geben, dass es Menschen gab, die sie ganz anders wahrnahmen als ihre Schwiegereltern.
Laurie bestellte einen Cappuccino und dazu auf Stevens Drängen ein Glas mit Blutorangen- und Mokkaeis.
»Schon daran können Sie sehen, dass ich zu den Stammkunden gehöre«, sagte Steven.
»Dann besprechen wir also diese Angelegenheit, wenn wir mit dem Eis fertig sind?«, schlug Laurie an Kendra gewandt vor .
»Kendra hat mich bereits ins Bild gesetzt«, sagte Steven. »Wir stehen uns sehr nah. Wenn alles etwas anders gelaufen wäre, hätten wir vielleicht sogar geheiratet. Wenigstens bilde ich mir das gern ein.«
Kendra sah etwas verlegen zu Laurie. »Mit Steven und mir ist es während des Studiums ständig hin und her gegangen.« Das hatte sie am Vortag nicht erwähnt. »Und dann ist er mir als sehr guter Freund verbunden geblieben, nachdem das alles geschehen ist. Natürlich habe ich ihm erzählt, dass ich mich zur Teilnahme an Ihrer Sendung bereit erklärt habe.«
»Und mir ist es wichtig zu zeigen, dass Kendra nicht verrückt ist. Martin war derjenige, der sie so hatte darstellen wollen. Ich habe es selbst erlebt.«
»Sie kannten Martin gut?«, fragte Laurie.
Steven verzog höhnisch das Gesicht. »Als ob sich dieser arrogante, egomanische Schnösel jemals dazu herabgelassen hätte, sich mit einem armseligen Dermatologen abzugeben, der keinen erstklassigen Stammbaum vorzuweisen hat.«
»Martin war nicht immer ein freundlicher Mensch«, sagte Kendra. »Aber er hat mich geheiratet. Und ich habe auch nicht unbedingt blaues Blut in den Adern.«
»Nein, aber du bist Kendra, was in jeder Hinsicht besser ist.«
Nachdem das Eis serviert wurde – das so köstlich war wie versprochen –, bemerkte Laurie, dass Steven kaum seinen schwärmerischen Blick von Kendra nehmen konnte.
»Sie waren also nicht unbedingt ein Fan des ermordeten Wundertäters«, sagte Laurie.
»Wundertäter? Du meine Güte!«, kam es wütend von ihm. »Kendra, besonders Kendra will mir immer einreden, dass Martin Bell auch seine guten Seiten hatte, aber es treibt mich zur Weißglut, wenn ich sehe, wie er nach seinem Tod als Heiliger dargestellt wurde, während man Kendra durch den Schmutz gezogen hat. Ehrlich, wenn er noch am Leben wäre, hätte man ihn längst entlarvt.«
»Entlarvt?«
»Er war ein Betrüger. Ein Scharlatan. Eine Kanaille, durch und durch.«
Kendra seufzte. »Steven, ich möchte es nicht bereuen, dass ich dich mitgebracht habe.«
Auf den ersten Blick schien Kendra wirklich besorgt zu sein, aber Laurie wusste natürlich, dass Menschen in der Lage waren, alle möglichen Gefühle vorzutäuschen. Vielleicht war Stevens Auftritt von Anfang an von Kendra geplant worden. Steven sollte schlecht über den Toten reden, damit sie es nicht tun musste.
»Kendra hat mich regelmäßig angerufen und war jedes Mal fix und fertig. Die Leute meinen, sie hätte unter Drogen gestanden? Nein, sie war einfach nur deprimiert und gestresst von ihrer Ehe. Martin ist wie der Märchenprinz in ihrem Leben aufgetaucht, aber als er sie dann als seine Frau und Mutter seiner Kinder in sein Schloss gesperrt hatte, hat er sie nur abscheulich behandelt. Er hat sie betrogen. Er hat sie schlechtgemacht. Und er war noch nicht mal ein guter Arzt. Er hatte ständig Klagen am Hals.«
Kendra zuckte sichtlich zusammen. »Steven, woher weißt du das?«
»Du hast es mir doch selbst erzählt.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern«, antwortete Kendra traurig.
»Weil du damals nicht du selbst warst. Wie auch immer«, sagte er und nahm den letzten Löffel von seinem Eis, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass Kendra keinerlei Anschuldigungen gegen Martin erhebt. Darum geht es in dem Fall nicht. Was sie Ihnen also erzählen wird? Das hat sie mir schon alles erzählt, als es geschehen ist. Ich habe ihren Verfall im Lauf der Ehe gesehen. Ich lasse euch beide jetzt allein. Ihr habt viel zu besprechen.«
Und auch jetzt bemerkte Laurie, dass Steven keine Eile hatte, Kendra wieder loszulassen, als er sie zum Abschied umarmte.