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aurie lief es kalt über den Rücken. Sie wusste, dass sich die New Yorker Polizei in diesem Fall sehr zugeknöpft gab und Martins Eltern bereit waren, ihren Einfluss geltend zu machen, um die Ermittlungen in ihrem Sinne zu steuern. Aber jetzt beschuldigte Kendra Daniel Longfellow, den dienstjüngeren Senator des Bundesstaats New York, des Mordes. Brett Young und die Hausjustiziare des Senders würden nie zulassen, dass sie diesen Vorwurf in der Sendung auch nur flüsterte, solange nicht unumstößliche Beweise dafür vorlagen.
»Ich habe die vollständige Berichterstattung zu dem Fall gelesen, Kendra, und Senator Longfellow und seine Frau wurden kein einziges Mal erwähnt.«
»Natürlich haben Sie nichts darüber zu sehen bekommen!«, empörte sich Kendra. »Dafür haben die Longfellows schon gesorgt. Die beiden beherrschen es meisterhaft, das politische System und die Medien zu manipulieren.«
Laurie sah jetzt, wie mühelos Martin offenbar anderen hatte einreden können, dass Kendra nicht ganz richtig tickte.
»Sie glauben im Ernst, dass ein US
-Senator mitten im Greenwich Village Ihren Mann erschossen hat? Der Täter ist auf Martin zugegangen, als er in die Einfahrt einbog. Jeder Nachbar hätte ihn ganz leicht erkennen können.« Laurie konnte sich dieses Szenarium beim besten Willen nicht vorstellen.
»Er war damals noch nicht Senator. Longfellow war noch Mitglied der State Assembly und hat darin noch nicht mal
unseren Distrikt vertreten. Würden Sie bei einer Gegenüberstellung den Abgeordneten zwei Distrikte weiter erkennen?«
Laurie überlegte. Wann war Longfellow in den US
-Senat eingezogen? Fast zwei Jahrzehnte lang hatten zwei Senatoren den Bundesstaat New York vertreten, bis einer davon ins Kabinett des Präsidenten berufen wurde. Um die freigewordene Stelle zu besetzen, war der Gouverneur von New York ermächtigt, einen Ersatz zu ernennen. Er entschied sich für den aufstrebenden Politiker aus der State Assembly, den gut aussehenden ehemaligen Staatsanwalt Daniel Longfellow. Drei Jahre zuvor war Longfellow dann für die volle sechsjährige Amtszeit zum Senator gewählt worden, die ursprüngliche Ernennung hatte sich aber ungefähr zum Zeitpunkt von Martin Bells Ermordung ereignet.
»Woher kannte Ihr Mann überhaupt Mrs. Longfellow?«
»Beide haben die Hayden School besucht und waren später im Vorstand der Ehemaligenvereinigung«, sagte Kendra. In kaum einer Privatschule in New York City war das Konkurrenzdenken so ausgeprägt wie in der Hayden School an der Upper East Side. »Leigh Ann war genauso wie ich, bevor Martin und ich uns kennengelernt haben: immer gestylt, anderen immer einen Schritt voraus, diejenige, die jede Gruppe, der sie angehört, auch anführt. Und genau wie ich schien sie sich mit der Rolle der glücklichen Ehefrau zufriedenzugeben, die hinter ihrem prominenten Mann steht. Sie sehen doch, wie weit es Daniel mit Leigh Ann an seiner Seite gebracht hat. Nach Mindys Geburt hat sich Martin plötzlich freiwillig gemeldet, die jährliche Auktion zugunsten der Hayden School zu leiten. Und raten Sie mal, wer ihm zur Seite gestanden hat? Natürlich Leigh Ann. Dass sie mit meinem Mann so viel Zeit verbringen konnte, lag zum Teil daran, dass ihr Mann der State Assembly in Albany angehörte. Plötzlich verbrachte Martin mehr Zeit mit Leigh Ann als mit mir und den Kindern.
«
»Haben Sie der Polizei von Ihren Vermutungen erzählt?«
»Ja, von Anfang an. Ich habe meinen Verdacht geäußert, dass die beiden eine Affäre haben, Daniel Longfellow hat das wahrscheinlich ebenfalls getan. Damals wusste ich es noch nicht, aber es gab wohl schon Gerüchte, dass Longfellow den freigewordenen Sitz im Senat übernehmen soll, sobald die Ernennung des gegenwärtigen Senators ins Kabinett offiziell würde. Hätte er seine Frau an einen prominenten Arzt verloren, hätte das seine politische Karriere vermutlich in erheblichem Maße beeinträchtigt.«
Laurie hatte es im Fall von Alex selbst miterlebt. Auch er hatte sich Sorgen gemacht, dass ein einflussreicher Politiker oder sogar nur ein über Twitter verbreitetes Gerücht seine Ernennung zum Bundesrichter verhindern könnte. War es denkbar, dass jemand, der etwas anders gestrickt war – eine durch und durch niederträchtige Person etwa –, einen Mord in Betracht zog, um seine politische Laufbahn zu retten?
»Wissen Sie zufällig, ob die Polizei Ihren Verdachtsmomenten nachgegangen ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Man sollte meinen, dass ich als Witwe auf dem Laufenden gehalten werde, aber es wurde schnell klar, dass man mich eher als Verdächtige sah, nicht als Familienangehörige. Seinen Eltern dagegen wurde der rote Teppich ausgerollt.«
Laurie wollte gegenüber den Bells dieses Thema anschneiden, wenn sie sich das nächste Mal mit ihnen unterhielt. Sie machte sich eine entsprechende Notiz. »Inwiefern wurden Sie von der Polizei als Tatverdächtige behandelt? Sie wurden nicht verhaftet, Sie wurden auch nie öffentlich als Verdächtige genannt.«
»Das war auch gar nicht nötig. Ich hab doch die Blicke der Polizisten gesehen, die an dem Abend eingetroffen sind. Es war ihnen anzumerken, dass sie mich nicht mochten.
«
»Nicht mochten?
Ein Tatort ist keine Bühne für einen Persönlichkeitswettbewerb.«
»Genau. Aber sie haben mich sofort in eine Schublade gesteckt. Ich sollte sogar einen Drogentest machen. Ich habe mich entschieden dagegen verwehrt – nicht ohne Durchsuchungsbeschluss.«
»Verzeihen Sie, Kendra, aber Ihr Mann war kurz zuvor ermordet worden. Warum haben Sie mit der Polizei nicht so weit wie möglich kooperiert?«
Kendra sah sich im Lokal um und vergewisserte sich, dass ihnen keiner zuhörte. Drei neue Gäste waren gekommen, aber Kendra und Laurie waren immer noch für sich. Laurie hatte das Gefühl, dass sie dafür Dennis, dem Barkeeper, zu danken hatten. »Weil sie ihre Zeit verschwendeten, wenn sie gegen mich ermittelten, während sie doch eigentlich den Mörder meines Mannes suchen sollten«, kam es entrüstet von Kendra.
»Verzeihen Sie, wenn ich das so sage: Laut mehreren Berichten müssen Sie aber ziemlich aus der Rolle gefallen sein, angeblich waren Sie damals generell ›völlig neben sich‹, besonders aber auch, nachdem Sie von Martins Tod erfahren haben.«
»Mache ich auf Sie den Eindruck, als stünde ich unter Drogeneinfluss?«
»Jetzt? Natürlich nicht. Aber vor fünf Jahren habe ich Sie nicht gekannt.«
»Hören Sie, ich möchte darüber nicht im Fernsehen zur besten Sendezeit reden müssen, aber im Nachhinein kann ich sagen, dass ich an einer postpartalen Depression gelitten habe. Es hat wahrscheinlich mit Bobbys Geburt angefangen. Deswegen habe ich es nicht mehr geschafft, auf meine Assistenzstelle zurückzukehren. Und statt in Behandlung zu gehen, habe ich dann das zweite Kind gekriegt. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich war damals keine gute Mutter. Ich bin kaum aus dem Bett gekommen. Martin – noch dazu als Arzt – hätte den Grund
dafür erkennen und mir helfen müssen. Stattdessen hat er sich mit der perfekten Leigh Ann vergnügt, und um die Kinder mussten ich und die arme Caroline uns kümmern. Nach seinem Tod habe ich eine Therapie begonnen und endlich die Behandlung erhalten, die ich von Anfang an gebraucht hätte. Nur seine Eltern wollen nicht akzeptieren, dass ich mich geändert habe.«
Laurie ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht schon längst auf eine Wochenbettdepression als mögliche Erklärung gekommen war. Eine ihrer Freundinnen hatte nach der Geburt des ersten Kindes fast ein Jahr damit zu kämpfen gehabt.
»Sie meinen, Ihre Schwiegereltern wollen Ihnen immer noch die Kinder wegnehmen?«
»Natürlich. Sosehr ich auch hoffe, dass Sie den Fall aufklären – der wahre Grund für meine Teilnahme an der Sendung ist, dass ich sie beschwichtigen möchte. Sie sind der Grund, warum Martin so war, wie er war – charmant und talentiert, aber auch skrupellos und grausam. Ich will nicht, dass Bobby und Mindy so aufwachsen.«
Allmählich gewann Laurie ein sympathischeres Bild von Kendra. Dennoch wollte ihr nicht recht einleuchten, warum sie sich der Polizei gegenüber nicht etwas aufgeschlossener verhalten hatte. Sie ging zum nächsten Punkt auf ihrer Liste. »Angeblich sollen Sie nicht unbeträchtliche Summen von Ihrem gemeinsamen Konto abgehoben haben, der Polizei aber wollten Sie nicht erläutern, wofür Sie das Geld verwendet haben.«
»Es ging nicht darum, dass ich das nicht gewollt
habe. Ich konnte
es nicht. Ich war wegen meiner Depression ziemlich mitgenommen. Von Zeit zu Zeit musste ich aber aus dem Haus, und alles, was man in New York unternehmen kann, kostet Geld. Manchmal habe ich mich nur in ein Taxi gesetzt und mich nach Staten Island oder zum Jones Beach fahren lassen, wo ich allein sein konnte. Oder ich bin zum Shoppen gegangen
und habe wie wild eingekauft. Einmal habe ich achthundert Dollar für hochhackige Louboutins mit Leopardenmuster ausgegeben, die ich bis heute kein einziges Mal getragen habe. Schuhgröße vierzig, falls es Sie interessiert.« Sie lächelte traurig. »Dass ich das Geld zum Fenster hinausgeworfen habe, war vielleicht meine Rache an Martin für seine Affäre.«
Eine Menge Geld auf den Kopf zu hauen ist weit davon entfernt, jemanden umzubringen
, dachte Laurie.
»Ich verstehe, dass wir das alles wieder durchkauen müssen, aber, Laurie, bitte versprechen Sie mir, dass Sie dem nachgehen, was ich über Leigh Ann Longfellow gesagt habe. Ich fürchte nämlich, dass die Polizei mir kein Wort geglaubt hat.«
»Genau darum geht es uns doch bei unserer Sendung«, versicherte Laurie. »Wir beschäftigen uns mit allen Gesichtspunkten – deshalb möchte ich Sie auch auf die Klagen ansprechen, die Steven erwähnt hat. Jemand hat Martin verklagt?«
Kendra machte eine wegwerfende Geste. »So ist das eben, wenn man Arzt ist. So gern ich Kinderärztin werden wollte, zu den Nachteilen gehört auch das Risiko, dass man verklagt wird. Bei Martin war es noch schlimmer. Schließlich hat er Patienten mit chronischen Schmerzen behandelt. Das waren keine einfachen Fälle, glauben Sie mir.«
»Worum ging es bei diesen Klagen?«
»Die Einzelheiten kenne ich nicht. Martin hat sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit mir darüber unterhalten. Nach seinem Tod haben die Anwälte Vergleiche geschlossen, die aus dem vererbten Vermögen beglichen wurden.«
»Von wem wurde Martin im Fall von Behandlungsfehlern vertreten? Dann könnte ich dort mal nachfragen.«
»Das weiß ich nicht.«
Laurie machte sich eine weitere Notiz. Auch dieser Punkt musste weiterverfolgt werden. Nun stand nur noch ein Thema auf ihrer Liste, und das hatte es in sich. »Sie sagten, Sie mussten
hin und wieder aus dem Haus, weil Sie für sich sein wollten. Gehörte dazu auch, dass Sie eine Bar aufsuchten?«
Kendra stöhnte auf. »Die Boulevardpresse hat es so hingestellt, als wäre ich vierundzwanzig Stunden am Tag in Wodka mariniert worden. Ich sagte Ihnen doch: Ich habe an einer postpartalen Depression gelitten. Schlagen Sie es nach. Dazu gehört, dass man sich in der einen Minute hundemüde fühlt, in der nächsten ist man dagegen ruhelos, panisch und unkonzentriert. Auf manche wirkt das dann vielleicht so, als wäre man betrunken.«
»Sind Sie ausgegangen, um Gesellschaft zu finden?«
»Nein. Um die Wahrheit zu sagen, an manchen Tagen habe ich es noch nicht mal unter die Dusche geschafft, so schlimm war es.«
Laurie musste vorsichtig vorgehen. Dass Kendra das Cover aufgesucht hatte, stand nicht in den Zeitungen. Unter keinen Umständen durfte Kendra Verdacht schöpfen, dass sie mehr wusste, als über die gängigen Medien zu erfahren war. Das wollte sie sich für das Kreuzverhör aufheben, wenn die Kameras liefen.
Sie probierte es ein letztes Mal. »Sie und Steven scheinen mit dem Barkeeper hier gut bekannt zu sein. Hatten Sie damals auch ein Lieblingslokal?«
»Ich sagte doch, nein!«, blaffte Kendra.
Laurie nickte und schob ihren Stift in die Spiralheftung des Notizbuchs. »Für heute habe ich keine weiteren Fragen. Nochmals vielen Dank, dass Sie sich mit mir getroffen haben«, sagte sie. »Wir melden uns wieder, wenn wir uns an die Ausarbeitung des Produktionsplans machen.«
Angesichts Kendras Verärgerung bemühte sie sich sehr um einen freundlichen Plauderton, während sie darauf warteten, dass Dennis die Rechnung brachte, die sie mit der Kreditkarte des Studios bezahlte
.
Zwei Treffer, obwohl sie mit den Dreharbeiten noch gar nicht begonnen hatte. Zum einen hatte Kendra in der Frage, ob sie an einer Wiederaufnahme des Falls mitwirken wollte, ihre Schwiegereltern belogen. Und jetzt, davon war Laurie überzeugt, hatte sie erneut nicht die Wahrheit gesagt. Die Polizei musste sie mit der Tatsache konfrontiert haben, dass sie sich mit einem mysteriösen Unbekannten im Cover getroffen hatte. Eher unwahrscheinlich, dass Kendra sich nicht mehr daran erinnern konnte.
Die Chancen stehen gut, dass ich gerade mit einer Mörderin Kaffee getrunken und Eis gegessen habe
, dachte sie. Sie will nicht, dass ich vom Cover erfahre. Also werde ich der Bar als Nächstes einen Besuch abstatten.