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E s war kurz vor siebzehn Uhr, als Kendra und Laurie das Otto verließen. Die Frühlingssonne schien noch, was guttat nach der Dunkelheit im Restaurant. Kendra war erleichtert, als sich die Produzentin an der 5th Avenue verabschiedete. Laurie ging nach Süden in Richtung Washington Square Park davon. Kendra schlug den Weg nach Norden ein, nach Hause, genoss das warme Sonnenlicht auf dem Gesicht und versuchte sich zu beruhigen, obwohl ihre Gedanken wild durcheinanderwirbelten.
Zunächst war alles wie geplant verlaufen. Steven war mitgekommen, damit Laurie auf jeden Fall erfuhr, dass sie noch zu Martins Lebzeiten von seiner Affäre gewusst hatte. Außerdem hatte er sie in ein gutes Licht gerückt – was sonst kaum jemand tat. Sogar Dennis war ihr zur Seite gesprungen.
Als Laurie dann ihre Fragen stellte, hatte Kendra gedacht, sich ganz gut behauptet zu haben. Sie hatte sich darauf vorbereitet – es war klar, dass Fragen zu ihrer psychischen Verfassung und zu ihrer Ehe kommen würden, zu den Auseinandersetzungen mit der Polizei und den Geldabhebungen. Hätte das Gespräch hier geendet, wäre sie überzeugt gewesen, sich gut verkauft zu haben.
Aber dann hatte Laurie einen letzten Punkt angeschnitten. Vielleicht war die Frage, ob sie Bars aufsuchte, um Gesellschaft zu finden, einfach nur ein Schuss ins Blaue hinein – jedenfalls war es eine Frage, die von ihrer angeblichen Alkoholsucht herrührte. Aber Kendra hatte das schreckliche Gefühl, dass Laurie auf den Mann anspielte, den sie nur als »Mike« kannte .
Wenn sie nur an ihn dachte, wurde ihr übel.
Sie hatte bei ihrem Leben – dem Leben ihrer Kinder  – geschworen, ihn in der Sendung mit keinem Wort zu erwähnen. Was soll ich jetzt tun? , dachte sie.
Sie zog ihr Handy heraus und rief »Mike« an. Er meldete sich gleich beim ersten Klingeln. »Ist das Treffen vorbei?«, fragte er.
Er telefonierte wahrscheinlich mit einer Freisprecheinrichtung, denn im Hintergrund waren Autos und Hupen zu hören. Er saß in einem Auto. Unwillkürlich sah sie die Straße auf und ab und suchte nach ihm.
»Wir haben uns gerade verabschiedet.«
»Und?«
Er bestand darauf, dass sie ihn über alle Einzelheiten der Produktion auf dem Laufenden hielt. Sie wagte es nicht, ihn zu verärgern. »Sie hat nur die alten Presseberichte aufgewärmt. Nichts, womit ich nicht umgehen könnte. Sie hat nicht nach dir gefragt.« Streng genommen stimmte das sogar.
»Wann triffst du sie das nächste Mal?«
»Das weiß ich nicht. Sie sagt, sie würde sich melden, sobald der Produktionsplan steht.«
»Vergiss nicht, wenn du von mir erzählst, erzähle ich ihnen von dir. Dann gehst du wegen Mordes ins Gefängnis. Deine Kinder kommen dann zu ihren Großeltern, wo ihnen jeden Tag eingebläut wird, dass du ihren Vater umgebracht hast. Aber nur, wenn sie dann, nach deiner Verurteilung, noch gesund und munter sind.«
Die Drohung, die er damit gegen Bobby und Mindy aussprach, war unmissverständlich. Sie begann zu zittern. »Bitte, tu ihnen nichts.«
»Zwing mich nicht dazu.«
Einmal, erinnerte sie sich, hatte sie Martin bei einem fürchterlichen Streit an den Kopf geworfen, dass er der grausamste Mensch sei, den sie kenne. Jetzt aber hatte sie es mit jemandem zu tun, der noch bösartiger war als Martin. Mit zitternder Stimme sagte sie: »Ich werde niemandem etwas verraten. Ich schwöre es.«
»Es ist an der Zeit, dass wir uns mal wieder treffen.«
Bei dem Gedanken gefror ihr das Blut in den Adern. Mittlerweile ging es ihr gar nicht mehr ums Geld. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er sie als seinen persönlichen Geldautomaten benutzte. Der Mann jagte ihr eine abgrundtiefe Angst ein. »Wann?« Sie hörte selbst das Zittern in ihrer Stimme.
»So funktioniert das nicht. Das weißt du. Ich ruf dich an, und du kommst. Bring den üblichen Betrag mit.«
Der übliche Betrag waren neuntausend in bar. Sie vermutete, er wollte nicht, dass sie zehntausend abhob, diesen Betrag nämlich müssten die Banken melden, was Ermittlungen nach sich ziehen würde. Sie hörte den Motor seines Wagens aufheulen, dann war die Leitung tot.
Sie schloss die Augen und atmete dreimal tief durch, während sie um Fassung rang.
Sie hatte, als sie Laurie von ihrer zerrütteten Ehe erzählt hatte, von Gaslight und von Manipulation gesprochen und damit beschrieben, wie Martin sie anderen gegenüber als verrückt dargestellt hatte. Im Film beginnt Ingrid Bergman selbst an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Martin hat mich in den Irrsinn getrieben , dachte Kendra.
Hatte sie Steven wirklich von den Klagen wegen Behandlungsfehlern erzählt, die gegen Martin vorgebracht wurden? Sie konnte sich nicht daran erinnern. So wie sie sich auch nicht an die schrecklichen Dinge erinnern konnte, die ihr in einer Bar angeblich gegenüber einem Fremden herausgerutscht waren, der sich Mike nannte. Was habe ich in diesen Black-out-Zuständen noch alles getrieben? , fragte sie sich.
Obwohl sie sonst nicht religiös war, ging sie in die episkopalische Kirche in der 10th Street. Eben waren die Türen für den abendlichen Gottesdienst geöffnet worden, aber Kendra wollte nicht lange bleiben. Sie ging zur letzten Bankreihe, kniete sich zu einem stillen Gebet hin, wie sie es so oft zuvor getan hatte, und bat um Vergebung für etwas, von dem sie nicht glaubte, dass sie es getan hatte.
Werde ich jemals die Wahrheit erfahren? Werde ich jemals erfahren, wer meinen Mann umgebracht hat?