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achdem sich Laurie von Kendra verabschiedet hatte, ging sie die 5th Avenue hinunter in Richtung Washington Square Park. Die Sonne schien, es war der erste warme Frühlingstag und eine Einladung für die New Yorker, den Park wie einen öffentlichen Strand zu nutzen. Junge Frauen, noch in ihrem Büro-Outfit, lagen im Gras, einige mutige Jungs hatten ihre Hemden ausgezogen und warfen sich ein Frisbee zu. Zuschauer versammelten sich hier und dort, etwa um den Klavierspieler, der unter dem Triumphbogen Chopin zum Besten gab, oder um die Breakdancer, die am Brunnen ihre akrobatischen Nummern vorführten und deren bassgewaltige Lautsprecher das Klavier übertönten. Frühling in der Stadt fühlte sich an wie ein Wiedererwachen, und jeder kam aus seinem dunklen Winterversteck, um die frische Luft zu atmen.
Auf dem Weg ins Herz des East Village bereitete sich Laurie schon mal auf die Kellerbar vor, das Cover, wo man unabhängig von der Jahreszeit wohl nie viel Sonne zu sehen bekam. Während der Studentenzeit hatte sie sich auch in solchen grabkammerähnlichen Bars mit klebrigem Fußboden und graffitibeschmierten Toiletten herumgetrieben, mittlerweile aber war es schon eine Weile her, dass sie einen Abend an einem solchen Ort verbracht hatte.
Sie schob die schwere Tür am unteren Ende einer steilen Treppe auf und trat ein. Der vertraute Geruch von verschüttetem Bier, den auch die Putzmittel nicht übertünchen konnten, schlug ihr entgegen. Die Happy Hour stand bald an, trotzdem
war das Lokal leer. Ein LED
-Schild mit dem Schriftzug »The Cover« flackerte über der Theke, Neonlichter verzierten die Wände und warfen bunte Schatten in den Raum. Die Vorstellung, dass Kendra sich hier ein paar Drinks genehmigt oder in der hinteren Ecke am Flipperautomaten angestellt hatte, fiel ihr schwer.
»Bin gleich da«, war eine träge Stimme von unter der Theke zu hören. Kurz darauf tauchte eine junge Frau mit teilweise rasiertem Kopf und gepiercten Augenbrauen und Lippen auf. Als sie Laurie erblickte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck, aus Gleichgültigkeit wurde Überraschung. Schon klar, Laurie gehörte nicht zum üblichen Publikum des Ladens.
Laurie lächelte sie freundlich an. »Ich hoffe, ich rede mit jemandem, der auch schon vor fünf Jahren hier gearbeitet hat.«
Die Barkeeperin sah sie nur verständnislos an. »Fünf Jahre?« Ihr Ton gab zu verstehen, dass vor so langer Zeit nichts geschehen sein konnte, was irgendwie von Belang wäre. Wahrscheinlich war sie zu dieser Zeit noch auf der Highschool gewesen.
Sie öffnete eine Tür mit dem Personal
-Schild, rief etwas und drehte sich wieder zu Laurie um. »Deb ist schon seit … na ja, seit Ewigkeiten hier.«
Eine ältere Frau mit tiefen Falten und unordentlich hochgesteckten Haaren kam hinter der Tür hervor. Ihr hageres Gesicht wirkte, als würde sie wirklich »seit Ewigkeiten« in der Kellerbar arbeiten, es waren dann allerdings nur acht Jahre, wie sich herausstellte. Aber das reichte Laurie.
»Haben Sie mal eine gewisse Kendra Bell gekannt?«, fragte Laurie und kam gleich auf den Punkt, indem sie einen Fünfzig-Dollar-Schein auf die Theke legte.
Deb lächelte. Natürlich erinnerte sie sich. »Hab sie immer gemocht. Traurig, was dann passiert ist, was?«
»Sie haben also gewusst, wer sie war? Dass ihr Mann, Martin Bell, im Licht der Öffentlichkeit stand?
«
»Nein, das nicht. Sie war einfach nur Stammgast. Wir haben gequatscht, aber ich hab noch nicht mal ihren Namen gekannt. Sie hat sich meistens ausgejammert – vor allem über ihren schrecklichen Macker. Angeblich ein grausamer Aufschneider, der sie betrogen hat.« Deb zeigte mit einem fragenden Blick zu den Schnapsflaschen, aber Laurie schüttelte den Kopf. »Ganz wie Sie wollen«, sagte sie, nahm eine Flasche Old-Crow-Whiskey und schenkte sich selbst ein Glas ein.
»Und Sie sind ganz sicher, dass es sich um Kendra Bell handelte?«, fragte Laurie.
»Absolut. Sie hat mir sogar mal von ihrem Medizinstudium erzählt, nur ist sie nie richtig Ärztin geworden. Damals hab ich ihr nicht geglaubt. Sie war für mich nicht so der Studentinnen-Typ, wissen Sie? Was die so von sich gegeben hat, war bloß betrunkenes Gerede.«
Laurie ließ erneut den Blick schweifen, betrachtete den groben Teppich, der an der Wand hinter dem Billardtisch hing. Die junge Barkeeperin hatte sich wieder unter der Theke zu schaffen gemacht. »War sie immer allein hier?«, fragte Laurie.
»Meistens schon.« Blinzelnd richtete Deb den Blick zur Decke und versuchte sich zu erinnern. »Aber ein paarmal hat sie sich mit einem Typen getroffen. So einen, der richtig tough ausgesehen hat. Kahl geschorener Schädel, fieser Blick. Mir ist es vorgekommen, als hätte er sie einfach reden lassen. Vielleicht hat er sie auch nur angeschnorrt, damit sie ihm die Zeche zahlt, dafür hat er sich das Gemotze über ihren Mann angehört.«
Laurie holte ihr Handy aus der Handtasche und rief ein Bild von Steven Carter auf, Kendras Studienkollegen und jetzigem Arbeitgeber. Kendra war seit mittlerweile fünf Jahren Witwe und nach wie vor lediglich Stevens Bekannte und Angestellte, nicht seine Freundin oder gar Ehefrau – was nicht unbedingt auf eine Liebesbeziehung schließen ließ. Aber Laurie wollte sicherstellen, dass ihr hier nichts entging
.
Deb lachte auf, als sie das Foto sah. »Der war das sicher nicht. Verglichen mit dem Typen, von dem ich rede, ist das ein Fred Rogers.«
Laurie nickte. »Haben Sie ihn seit Martin Bells Ermordung noch mal hier gesehen?«
»Nein, weder dieser toughe Typ noch Kendra haben sich danach noch mal blicken lassen. Als ich kurz nach dem Mord das Hochzeitsfoto in der Zeitung gesehen habe, hätte ich sie beinahe nicht erkannt. Mit der Lady ist es ganz übel bergab gegangen. Ich wollte ihr beim nächsten Mal mein Beileid aussprechen, aber, wie gesagt, dazu ist es nicht mehr gekommen. Sie ist nicht wieder aufgetaucht. Und er auch nicht.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Whiskey. »Kennen Sie sie, oder was?«
Laurie erklärte ihre Sendung und sprach von der Wiederaufnahme der Ermittlungen im Mordfall Martin Bell. »Ich sammle so viele Informationen über Kendra Bell wie möglich.«
»Da sind Sie nicht allein, wenn Sie meinen, dass da irgendwas seltsam ist mit der. Ich hab damals bei den Bullen angerufen und denen erzählt, dass sie sich ständig über ihre Ehe ausgelassen hat. Auch den Typen mit der Glatze hab ich erwähnt. Es gab doch eine Belohnung, und wenn man was abgreifen kann, lass ich mir das nicht durch die Lappen gehen. Klar, es geht auch um Gerechtigkeit. Ich hab sie gemocht und so, aber wenn sie es war, dann gehört sie hinter Gitter.«
»Wäre es vielleicht möglich, dass wir hier drinnen filmen können? Und Sie sich vielleicht mit unserem Moderator zusammensetzen und ihm alles erzählen, was Sie gerade mir erzählt haben?«
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. »Das wäre ziemlich cool.«
Laurie dankte Deb und der jungen Barkeeperin und verließ das Lokal. Als sie die steilen Stufen ins Sonnenlicht hinaufstieg, hatte sie das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden.
Vielleicht habe ich mir die Beschreibung des mysteriösen Unbekannten mit dem fiesen Blick zu sehr zu Herzen genommen
, dachte sie.
Aber auch in der Bowery, auf dem Weg zur U-Bahn-Station in der Lafayette Street, wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihr jemand folgte. Sie trat in einen Laden für Handtaschen und beobachtete den Passantenstrom, der draußen vorbeizog. Ihr Herz machte einen Satz, als sie einen großen Mann mit kahl rasiertem Schädel entdeckte, der am Fußgängerüberweg an der 3rd Street wartete. Er trug eine Pilotensonnenbrille, daher wusste sie nicht, ob sein Blick so »fies« war, wie Deb ihn beschrieben hatte.
Sie wandte sich vom Schaufenster ab und warf der Angestellten ein schnelles Lächeln zu. Dann holte sie ihr Handy heraus, um, wenn nötig, sofort die Polizei rufen zu können, und verließ den Laden.
Sie sah über die Schulter. Der große Typ war jetzt einen halben Block hinter ihr. Ihre Blicke trafen sich, und er beschleunigte seine Schritte.
Laurie eilte in den nächsten Laden und wartete, ob er ihr diesmal folgte. Aber er tat es nicht, sondern überquerte mit energischen Schritten die Straße. Ihr Herz pochte. Er hat mich beschattet und mitbekommen, dass ich ihn entdeckt habe
, dachte Laurie. Wohin geht er jetzt?
Sie spähte durchs Schaufenster und verlor ihn kurzzeitig aus den Augen, da ein weißer SUV
, der hinter einem großen Laster geparkt hatte, auf die Bowery Street fuhr. Dann erhaschte sie hinter dem Wagen den großen Mann, glaubte zu sehen, wie er sich nach unten beugte und sich wieder aufrichtete, bevor sie ihn erneut aus den Augen verlor. Sie spürte das Handy in ihrer zitternden Hand und wollte schon den Notruf wählen. Ihr Daumen schwebte über der Schaltfläche. Sie überlegte, wie lange die Polizei brauchen würde, bis sie reagierte
.
Erst als die Ampel umschaltete und der SUV
nach links in die 2nd Street einbog, erkannte sie den Grund für die zweckgerichteten Schritte des großen Manns. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt er nämlich mittlerweile Händchen mit einer jungen Frau, die sich ein glucksendes Kleinkind in einem Tragegestell vor den Bauch geschnallt hatte. Und jetzt sah sie auch, dass der große, furchterregende Mann, der ihr so einen Schrecken eingejagt hatte, ein Angry-Birds-T-Shirt trug ähnlich dem, aus dem Timmy schon zwei Jahre zuvor herausgewachsen war.
Laurie lachte über sich und ihre überbordende Fantasie. Sie kam sich albern vor, wartete trotzdem eine ganze Minute, bevor sie der Angestellten dankte und auf den Bürgersteig hinaustrat. Als sie ein freies Taxi auf sich zukommen sah, hob sie intuitiv die Hand. Lieber auf Nummer sicher gehen
, dachte sie.
Dann saß sie auf der Rückbank und ließ sich durch den Kopf gehen, was sie an diesem Nachmittag erfahren hatte. Sie musste unbedingt mehr über Steven Carter und die Klagen gegen Martin Bell herausfinden, ihre Gedanken kehrten aber immer wieder zum Cover zurück. Nach den Gesprächen mit Deb und Kendra war sie absolut davon überzeugt, dass Kendra wirklich die Frau war, an die sich die Barkeeperin erinnerte. Vielleicht hatte Kendra immer wieder dem Haus und ihrer unglücklichen Ehe entfliehen müssen, aber warum log sie? Laurie war überzeugt, dass alles auf den mysteriösen Unbekannten hinauslief. Bei dem Gedanken wurde ihr mulmig zumute.
Sie war so in diese Gedanken versunken, dass sie den weißen SUV
nicht bemerkte, der mittlerweile auf der Bowery umgedreht und sich in den Verkehr hinter ihr eingefädelt hatte.