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as für ein seltsames Paar
, dachte sich der Mann, als er sich in seinem weißen SUV
einer roten Ampel näherte. Das fragliche Paar hielt sich auf der östlichen Straßenseite zwischen der 2nd und 3rd Street auf. Der Mann war fast zwei Meter groß, hatte einen glatt rasierten Schädel und eine Sonnenbrille. Ein harter Typ, keine Frage. Aber er trug ein T-Shirt mit einer Comicfigur und hielt mit einer netten blonden Frau Händchen, die so ein Tragegestell mit einem Baby umgebunden hatte.
Sie sahen wie eine glückliche Familie aus, was er einfach bodenlos fand.
Aber er sah sie schon vor sich, wie sie in fünfzehn Jahren sein würden. Er würde ordentlich zulegen, sie würde zu viel trinken. Ihre einfältigen, übellaunigen Gören würden wissen, dass sich ihre Eltern hassten.
Was die Ehe betraf, hielt er sich für einen Realisten. Klar, einige Zeit ist alles eitel Sonnenschein, aber wie sieht es dann aus, wenn dich das Leben mal gewaltig aus der Bahn wirft? Wenn dann die hübsche Frau nicht mehr gar so hübsch aussieht oder nicht mehr aus dem Bett kommt, wie lange dauert es dann, bis sich der glückliche Gatte einen Ersatz sucht? Oder wenn Daddy sich unter die Arbeitslosen einreiht? Vergiss es. Es gibt kein »in guten wie in schlechten Tagen« – nur Egoismus, Untreue und Verrat.
Er ließ den Blick zum Beifahrerfenster wandern, um sein Zielobjekt wieder ins Visier zu nehmen. So sah er Laurie Moran: als Beute
.
Ein paar Monate zuvor, als er mal wieder eine seiner Phasen gehabt hatte, war er viel zu häufig auf dem Sofa vor dem Fernseher versackt. Er hatte einen Tierfilm über Chamäleons gesehen. Fast hätte er schon den Sender gewechselt, als Aufnahmen dieser Echsen gezeigt wurden, wie sich ihre Haut von rot zu rosa und grün und gelb und blau verfärbte. Jeder Idiot wusste doch, dass diese hässlichen Viecher die Farbe wechseln konnten.
Aber dann kam der Kommentator auf ihre Augen zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass die Augenlider eines Chamäleons verwachsen sind, nur unmittelbar vor der Linse ist eine kleine Öffnung frei. Dieses außergewöhnliche Merkmal verwandelt jedes Auge in eine Art Periskop, darüber hinaus sind beide Augen unabhängig voneinander beweglich. Ein Chamäleon kann daher den gesamten 360-Grad-Umkreis erfassen. Es kann nach Feinden Ausschau halten und gleichzeitig auf Beute lauern. Ein Chamäleon sieht alles gleichzeitig.
Stell dir vor, wie das wäre
, dachte der Mann. Den anderen immer einen Schritt voraus sein. Keiner könnte dich hinters Licht führen, keiner dich betrügen
.
Und so fühlte er sich jetzt auch hinter dem Steuer seines weißen SUV
– übermächtig. In diesem Augenblick gab es von seiner Warte aus keine Feinde, nur Beute. Sie sehen mich nicht
, dachte er. Aber ich sehe alles.
Außer, einen Moment! Wo war sie? Er war ihr nach der Kellerbar gefolgt. Sie war auf die Bowery eingebogen, er ebenfalls, aber jetzt war sie verschwunden. Sie konnte doch nicht so weit gelaufen sein. Sobald die Ampel umschaltete, fuhr er nach links in die 2nd Street, wollte um den Block fahren und sie hoffentlich wiederfinden.
An der Kreuzung Bowery und 3rd Street fuhr er vor einem Hydranten an den Randstein, rutschte auf dem Sitz nach unten und beobachtete die Straße. Er spürte, wie seine Macht schwand.
Am liebsten wäre er jetzt auf den Bürgersteig gefahren und hätte jeden niedergemäht, der zufällig da war.
Sein Fuß schwebte über dem Gaspedal, als sie plötzlich aus einem Laden auftauchte. Sie machte nur wenige Schritte, bevor sie ein Taxi heranwinkte. Er zählte bis drei, dann schob er sich hinter ihr in den Verkehr.
Wohin jetzt, Laurie Moran? Und wie lange soll ich noch warten, bis dich das Leben gewaltig aus der Bahn wirft?