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E rst als Laurie die Lobby ihres Apartmentgebäudes betrat, fühlte sie sich wieder sicher. Sie wartete, bis Ron, der Portier, einer jungen Frau, die Laurie als eine Bewohnerin erkannte, einen hohen Paketstapel aushändigte.
»Soll ich Ihnen helfen?«, bot Laurie an.
»Schon okay«, antwortete die Frau. »Das ist die Strafe für meine Online-Shopping-Sucht.«
Beeindruckt blickte Laurie der Frau mit den aufgetürmten Paketen hinterher, die bei jedem Schritt gefährlich schwankten, als sie sich auf den Weg zu den Aufzügen machte.
Als sie allein waren, sah Ron Laurie mit einem wissenden Lächeln an. »Das mit der Sucht war ernst gemeint. Morgen wird sie alles wieder zurückschicken. Der Paketbote hat schon gedroht, unser Gebäude nicht mehr zu beliefern, wenn sie sich nicht endlich etwas zügelt.«
Erneut wurde Laurie bewusst, wie sehr ihr das alles hier fehlen würde, falls Alex und sie eine neue Wohnung fanden. »Ähm, Primo. Es klingt vielleicht komisch, aber war mal jemand hier, der sich nach mir erkundigt hat?«
Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Nicht dass ich wüsste. Erwarten Sie jemanden?«
Laurie schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte bloß sichergehen.«
»Wenn Sie was brauchen, wir sind immer für Sie da. Das wissen Sie, oder?«
»Ja, aber es besteht wirklich kein Grund, Alarm zu schlagen.« Trotzdem, ich werde das Gefühl nicht los, dass mich jemand verfolgt , dachte Laurie. Offensichtlich nicht von dem großen Typ, der sich mit der jungen Frau getroffen hatte. Aber etwas sagt mir, vorsichtig zu sein.
»Primo, tun Sie mir einen Gefallen. Wenn Ihnen jemand auffällt, der das Gebäude zu beobachten scheint, dann geben Sie mir bitte Bescheid.«
»Wir passen immer auf Sie auf, Miss Laurie, und jetzt mehr als sonst.«
Als Laurie aus dem Aufzug trat, wurde sie von Knoblauch- und Rosmarinduft begrüßt. Sie wünschte sich schon, etwas aus dem italienischen Restaurant bestellt zu haben, in dem sie sich mit Kendra getroffen hatte. Zu ihrer Überraschung wurde der Duft aber noch stärker, als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnete. Im Stimmengewirr konnte sie leise die besänftigenden Klänge von Chet Bakers »Almost Blue« hören. Was hab ich bloß für ein Glück , dachte sie, dass mein Zehnjähriger lieber Jazz hört als den Radau im Radio.
Sie hängte ihre Schultertasche an die Garderobe und wurde von Timmys »Hi, Mom!« begrüßt. Sie fand ihn in der Küche, wo er unter Ramons wachsamem Blick mit einem Holzlöffel fachmännisch in ihrem größten Topf rührte. »Was machen Sie denn hier?«, fragte sie und drückte Ramon kurz die Schulter.
»War die Idee vom Boss«, sagte er lächelnd und deutete mit dem Daumen ins Wohnzimmer.
Alex hatte sich bereits erhoben und nahm sie in den Arm. Er war noch für die Arbeit gekleidet, hatte aber die Krawatte gelockert und das Jackett abgelegt.
»Na, was für eine schöne Überraschung«, sagte sie.
Leo saß in seinem Lieblingssessel. Im Fernsehen lief seine tägliche Sportsendung, und Laurie war froh, dass der Ton auf stumm gestellt war .
»Ich habe doch gemerkt, wie sehr dich die Wohnungsbesichtigung bedrückt hat«, sagte Alex und führte sie zum Sofa, wo sie neben ihm Platz nahm. »Ich dachte mir, ein Familienabend zu Hause würde uns allen guttun, auch wenn die unermüdliche Rhoda noch nicht die perfekte Wohnung für uns gefunden hat.«
Leo verzog das Gesicht, als der Name der Maklerin fiel. »Alex hat mir alles erzählt. Wie kann sie auch nur in Betracht ziehen, dass eine Eigentümergemeinschaft nicht hellauf begeistert wäre, wenn sie euch und meinen Enkelsohn als neue Nachbarn begrüßen dürfte? Sie sagt das nur, um euch nervös zu machen. Sie will, dass ihr eure Ansprüche runterschraubt und sie so schnell wie möglich einen Verkauf abschließen kann. Richtet ihr aus, jede Eigentümergemeinschaft, die sich auch nur nach Alex’ alten Fällen erkundigt, kann euch mal den Buckel runterrutschen.«
Wenn Leo sich zu solchen Äußerungen hinreißen ließ, war er wirklich sauer. Sie war es gewohnt, dass er sich für sie einsetzte, aber so – da musste er schon einen triftigen Grund haben. Vermutlich wollte er nicht, dass sie und Timmy aus seiner Nachbarschaft wegzogen.
»Kein Grund zur Sorge, Dad. Wir haben deutlich zu verstehen gegeben, dass wir keine Nachbarn wollen, die Anstoß an unserem Beruf nehmen – oder ehemaligem Beruf, wie in Alex’ Fall. Außerdem weiß sie, dass wir genügend Platz für ein Büro und für Ramon brauchen, und das alles in der Nähe zu Timmys Schule und deiner Wohnung.«
Leos Miene hellte sich auf. »Und einer Kindertagesstätte«, schlug er mit einem Schmunzeln vor.
»Schh«, winkte Laurie ab. »Wenn das Timmy hört, weiß es am nächsten Tag die ganze Schule.«
Leo lachte. »Ich höre jetzt kein Dementi.«
»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln und über die Vorsitzende Richterin Maureen Russell reden. «
»Ach, die hab ich heute getroffen«, sagte Alex. »Leo, sie sagte mir, wie sehr sie eure Unterhaltung beim Empfang genossen habe.«
Laurie freute sich diebisch, ihren Vater erröten zu sehen. »Leo und Maureen, das klingt doch ganz nett, oder?«
Leo rollte mit den Augen, lächelte aber trotzdem. »Okay, ich gebe mich geschlagen. Nichts mehr von Kindertagesstätten und dergleichen. Besorgt euch so viele Zimmer, wie ihr wollt, ich stelle keine Fragen mehr.«
Laurie und Alex tauschten wissende Blicke aus. Tatsächlich hatten sie der Maklerin gesagt, dass sie Platz brauchten, falls die Familie größer würde – später, irgendwann.