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A m folgenden Morgen hatte Dr. Steven Carter einige Probleme, seine dermatologische Praxis in der 5th Avenue aufzusperren, da er neben dem Schlüsselbund auch noch seine Aktentasche, einen Kaffeebecher und einen Strauß Blumen in der Hand hielt, den er im Laden an der Ecke besorgt hatte. Wie so oft traf er als Erster in der Praxis ein. Er war schon immer ein Frühaufsteher gewesen.
Man sah es ihm zwar nicht an, aber er begann den Tag gern mit einem Besuch im Fitnessstudio, einige Monate zuvor hatte er sogar einen Personal Trainer engagiert. Laut diesem hatte er seitdem seine Muskelmasse um acht Prozent gesteigert, was aber keiner wahrzunehmen schien, schon gar nicht die Frau, deren Zuneigung er seit mehr als einem Jahrzehnt zu gewinnen versuchte.
Steven wusste, dass er nicht gerade ein Hingucker war. In dieser Beziehung war er Realist. Auf dem College war sein Schreibstil als »gestelzt« eingestuft worden. Sein Philosophieprofessor hatte ihn als »wenig einfallsreich« beschrieben. Nach zwei Jahren Spanischunterricht hatte er sich in einem mexikanischen Restaurant noch nicht mal ein Gericht bestellen können, ohne mitleidiges Gekicher des Personals auf sich zu ziehen. Nur in den Naturwissenschaften war er sich nie als Loser vorgekommen. Nach seinem ersten Studienjahr hatte er alle Vorbedingungen erfüllt, die für ein Medizinstudium nötig waren, also hatte er sich gesagt: Warum nicht Arzt werden?
Da er auch in dieser Hinsicht Realist war, wusste er, dass seine Noten gerade mal ausreichten, um im Ausland Medizin studieren zu können. Fünf Jahre in der Karibik klangen gar nicht so übel, wenn man in Iowa aufgewachsen war. Zu seiner großen Überraschung aber war er von der SUNY Stony Brook University genommen worden. Die Uni lag zwar nicht in der Karibik, aber auf einer Insel – Long Island – und versprach weitaus bessere Jobmöglichkeiten, wenn er mit der Ausbildung fertig war.
Das Medizinstudium gestaltete sich dann aber sehr viel anspruchsvoller als die naturwissenschaftlichen Seminare im Grundstudium. Wäre Kendra nicht gewesen, hätte er vielleicht seinen Abschluss nicht geschafft. Bei ihr klang alles immer ganz leicht, außerdem konnte sie vieles sehr viel besser erklären als die Professoren. Und außerdem war sie eine so schöne Frau, besonders damals.
Er dachte an ihren ersten Kuss zurück. Es war der Abend vor dem Abschlussexamen in Neurowissenschaften gewesen. Er war mit den Nerven fix und fertig und überzeugt, dass er scheitern würde.
»Steven, warum bist du so?«, fragte sie.
»Wie bin ich denn?«
»Na ja, so wie … eben wie du. Was hat man dir angetan, dass du dein Licht immer so unter den Scheffel stellst?« Und dann hatte sie ihn geküsst. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, sondern ein zarter, ausdauernder. Steven war erstaunt, aber Kendra sah ihn nur lächelnd an. »Du verdienst es, mehr von der Welt zu erwarten«, sagte sie. Dann widmete sie sich wieder ihrem Lernstoff.
Am nächsten Morgen schaffte er eine Zwei beim Examen. Gelungen war ihm das nur, weil er an jenem Tag den Seminarraum in dem Bewusstsein betreten hatte, er wäre jemand, der es wert war, von Kendra geküsst zu werden.
Danach sah er sie als seine feste Freundin an, nur blieb zwischen den Seminaren und dem Lernen kaum Zeit für eine Beziehung. Im Nachhinein schien ihm, als hätte sie ihm nur gelegentlich ihre Zuneigung geschenkt, um die übliche Monotonie aufzubrechen.
Dass sie keine Beziehung miteinander hatten, wurde dann sehr schnell klar, als sie im letzten Studienjahr Martin Bell kennenlernte. Martin war alles, was Steven nicht war. Er war ein brillanter Arzt aus einer angesehenen New Yorker Familie. Er war groß, schlank und attraktiv. Wie sich herausstellte, reichte das, damit Kendra nur noch Augen für ihn hatte.
Sie kam nicht mehr zu ihren abendlichen Lernsitzungen, weil sie sich jetzt in der City mit Martin traf. Am Ende des Jahres rief sie ihn nur noch an, wenn er ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen sollte.
Und natürlich hatte Steven alles erledigt. Er würde alles für sie tun.
Steven war vielleicht nicht groß und schlank, er war vielleicht auch kein brillanter Arzt. Tatsächlich hatte er es überhaupt nur knapp durch das Medizinstudium geschafft, und ebenso knapp seinen Abschluss. Trotzdem hatte alles wunderbar geklappt. Bereits zehn Jahre nach Studienende hatte er eine gut gehende Praxis. Er hatte sich auf Dermatologie spezialisiert. Seine Patienten, so sein Wunsch, sollten nicht nur besser aussehen, sondern sich in ihrer Haut auch wohler fühlen.
Er schaltete das Soundsystem an und ließ damit den Empfangsbereich und die Behandlungszimmer beschallen. Der Radiosender des von ihm genutzten Streaming-Service nannte sich »Lounge Chill«. Er füllte die Aromatherapie-Diffusoren mit Eukalyptusöl auf. Er war stolz auf die Zahl der Fünf-Sterne-Bewertungen im Internet für seine Bemühungen, die Praxis eher wie ein Luxus-Spa aussehen zu lassen.
Er legte die Aktentasche auf seinen Schreibtischsessel, stellte den Kaffee auf den Schreibtisch und brachte die Blumen zu dem kleinen Tisch vor seinem Büro – Kendras Computerarbeitsplatz. Er legte die Blumen neben die Tastatur und kritzelte eine Nachricht auf den Post-it-Stapel gleich daneben: K. – ich hoffe, das Treffen letzten Abend ist erfolgreich verlaufen, und dir geht es gut – S.
Steven war Realist. Kendra mochte Martin geheiratet haben, trotzdem hatte er nie aufgehört, sie zu lieben. Er wusste, wie dankbar Kendra ihm war. Er hatte ihr eine Stelle gegeben, als keiner mit ihr etwas zu tun haben wollte. Jetzt konnte er fünf Tage in der Woche mit ihr verbringen. Mittlerweile lud sie ihn zu Sportveranstaltungen und Schulaufführungen von Bobby und Mindy ein.
Ist ihr klar, dass ich alles für sie tun würde? , fragte er sich.