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ährend Dr. Steven Carter seine Praxis aufschloss, trafen Laurie und Ryan im Penthouse der Bells in der 5th Avenue ein, nicht weit vom Metropolitan Museum entfernt. Nachdem der Portier sie telefonisch angekündigt hatte, wurden sie an der Tür von der Haushälterin empfangen. Sie warteten anschließend im Wohnzimmer, wo Laurie den atemberaubenden Blick über das Museum zu den Bäumen der West-Side-Skyline bewunderte.
Dann erschienen die Bells und ließen sich auf der Couch nieder. Von dem wütenden Ehepaar, das zwei Tage zuvor in Lauries Büro gesessen hatte, war nichts mehr zu spüren. Sie waren höflich, sogar freundlich, was – wie Laurie zu wissen meinte – daran lag, dass sie Ryan auf ihrer Seite glaubten.
Dr. Bell bat sie, Platz zu nehmen. Ryan, der seine Hausaufgaben gemacht hatte, versuchte mit Small Talk das Eis zu brechen. Die Bells, hatte er erfahren, waren mit einem seiner Jura-Professoren befreundet. Und dessen Bruder hatte drei Jahre zuvor Dr. Bells Schwester operiert. Cynthia bot ihnen Kaffee an, was sie beide höflich ablehnten.
»Also, Laurie«, sagte Dr. Bell, »Ryan hat uns vergangenen Abend erzählt, Sie hätten Ihre Meinung zu Martins Fall geändert, wollten aber noch mit uns sprechen, bevor Sie weitermachen. Richtig?«
Laurie sah keinen Grund, darauf hinzuweisen, dass nicht sie, sondern Kendra ihre Meinung geändert hatte. »Ja, ich wollte sichergehen, dass wir uns alle einig sind, worum es in der
Sendung geht.« Sie fuhr mit den üblichen Erklärungen fort, die alle Familienmitglieder von ihr zu hören bekamen, die sich zur Teilnahme bereit erklärt hatten. Sie betonte, man sei bestrebt, neue oder bislang übersehene Indizien und Beweise zu finden, und versuche alles, damit die Angehörigen des Opfers endlich eine Art Schlussstrich ziehen konnten, sofern nicht sogar eine abschließende Aufklärung des Falls erzielt werden könne. »Gleichzeitig sind wir aber auch eine Dokumentarsendung und wenden die gleichen journalistischen Grundsätze an, die für jeden anderen Reporter auch gelten. Das heißt, wir sind uns Ihrer Gefühle als Martins Eltern bewusst und werden sie respektieren, letztlich sind wir aber zur Objektivität verpflichtet. Wir werden die ganze Geschichte aufdecken, gleichgültig, wohin uns das führen wird.«
»Natürlich«, stimmte Cynthia Bell schnell zu und nickte.
Dr. Bell schien weniger überzeugt. »Sie glauben nicht, dass Kendra die Täterin ist, oder?«
Laurie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Solche Schlussfolgerungen formulieren wir erst, wenn uns Beweise vorliegen, die diese Behauptung stützen.«
»Dann finden Sie diese Beweise«, blaffte er.
Ryan beugte sich vor. »Vertrauen Sie mir, Dr. Bell. Ich habe Laurie in Aktion gesehen. Ihr kriminalistischer Spürsinn kann sich mit dem der besten FBI
-Agenten messen, mit denen ich bei der Bundesstaatsanwaltschaft zu tun gehabt habe. Wenn es Beweise gibt, die man finden kann, dann wird sie sie finden.«
»Wir legen uns nicht von vornherein auf eine Schlussfolgerung fest«, erläuterte Laurie, »und stricken um diese herum dann unsere Ermittlungen, damit sie dem Ergebnis entsprechen. Wir gehen unvoreingenommen an den Fall heran, das heißt, wir beschäftigen uns mit allen potenziellen Theorien und mit allen Verdächtigen. Natürlich gehört zu ihnen auch Kendra. Aber zur Objektivität gehört auch, dass wir nicht den
Familienmitgliedern des Opfers – auch nicht dessen Eltern – die Leitung der Sendung überlassen.«
Dr. Bells Blick wanderte zwischen Ryan und Laurie hin und her.
Schließlich sagte er: »Das verstehen wir.«
Laurie war überrascht, als Ryan zwei bereits ausgefüllte Teilnahmeerklärungen aus der Tasche zog, auf denen nur noch die Unterschriften fehlten. Während Dr. Bell unterschrieb, unternahm er einen weiteren Versuch, Kendra als die Täterin hinzustellen. »Ich weiß, sie kann sehr charmant sein«, warnte er. »Wir waren ihr anfangs sehr zugetan. Aber da haben wir sie noch nicht durchschaut. Sie ist ganz offensichtlich eine bösartige Person. Sie hat sich unseren Sohn geangelt, und als sie sich seiner sicher war, hat sie ihn vollkommen umgekrempelt.«
»Haben Sie jemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie unter einer postpartalen Depression litt?«, fragte Laurie.
»Pfffft«, kam es von Cynthia, die sofort abwinkte. »Warum sollte jemand an einer Depression leiden, wenn er so wundervolle Kinder hat? Ich war nie glücklicher als damals, als Martin ein kleiner Junge war.«
»Aber Sie, Dr. Bell, wissen sicherlich, dass viele Frauen keineswegs diese Erfahrung machen«, blieb Laurie hartnäckig.
»Ich bitte Sie. Eine kleine Depression ist eine Sache. Aber Kendra war doch völlig von Sinnen. Der arme Martin wusste doch gar nicht, wie ihm geschah. Ihm war nur klar, dass er mit der Heirat einen fürchterlichen Fehler gemacht hat.«
»Warum sagen Sie, sie sei völlig von Sinnen gewesen?«, fragte Laurie. Sie musste an Kendra denken und ihre Behauptung, Martin habe sie manipuliert und anderen weisgemacht, dass sie verrückt sei.
Cynthia beeilte sich zu antworten. »Martin hat uns anvertraut, dass Kendra einen Nervenzusammenbruch hatte und immer paranoider wurde. Sie hat ihm sogar vorgeworfen, er würde
sie mit einer anderen Frau betrügen und sie von ihren eigenen Kindern entfremden, weil er Caroline anstellte. Um Himmels willen, er hat die Kinderfrau doch nur deshalb engagiert, weil er ihr mit Bobby und Mindy nicht mehr trauen konnte. Er hatte Angst, dass sie noch das ganze Haus abfackelt – ob absichtlich oder unabsichtlich. Gott sei Dank haben wir vor der Hochzeit auf einen wasserdichten Ehevertrag bestanden.«
»Wenn der Ehevertrag so wasserdicht war, warum hat sich Martin dann nicht einfach scheiden lassen?«
»Ihm waren wegen der Kinder die Hände gebunden«, sagte Dr. Bell. »Seine Hauptsorge galt Bobby und Mindy. Ihretwegen ist er geblieben. Er hatte sich sogar von einem Scheidungsanwalt beraten lassen, um zu erfahren, wie hoch die Wahrscheinlichkeit wäre, dass ihm das volle Sorgerecht für die Kinder zugesprochen wird, falls er Kendra verlässt. Aber Sie wissen ja, wie es ist: Er ist der Mann, und sie ist die Mutter und Hausfrau. Es gab keine Garantie, also wollte er es nicht darauf ankommen lassen. Und wir auch nicht. Martin war unser einziges Kind, Bobby und Mindy sind die Letzten, die unseren Familiennamen tragen.«
»Sie meinen, Kendra wusste, dass sich Ihr Sohn mit einem Scheidungsanwalt besprochen hatte?«
»Sie muss sicherlich davon gewusst haben. Deshalb hat sie ihn auch umgebracht.«
»Und Sie halten sie nach wie vor für unfähig, Ihre Enkelkinder großzuziehen?«, fragte Laurie.
»Es geht doch gar nicht mehr darum, ob sie fähig ist«, kam es entschieden von Cynthia. »Zum einen ist sie ja kaum mit ihnen zusammen. Sie arbeitet wieder, obwohl sie aus dem testamentarisch eingerichteten Stiftungsvermögen mehr als genug erhält, um ein auskömmliches Leben führen zu können. Wir glauben, sie beschäftigt die Kinderfrau nur, damit die der Polizei nicht erzählt, was sie weiß. Aber viel wichtiger ist: Wie würden Sie sich
denn fühlen, wenn Sie glauben, die Frau, die Ihren Sohn getötet hat, zieht nun Ihre Enkelkinder groß? Es geht um Gerechtigkeit.«
Die Bells schienen noch nicht mal in Betracht ziehen zu können, dass Kendra unschuldig war.
»Was meinen Sie damit, dass Caroline der Polizei etwas ausplaudern könnte?«, fragte Laurie. »Glauben Sie, sie weiß mehr, als sie zugibt?« Laut sämtlichen Berichten hatte Caroline sofort die Polizei verständigt, nachdem sie Martin gefunden hatte. Sie bezeugte nicht nur, dass sich Kendra zum Zeitpunkt des Mordes im Haus aufhielt, sondern erzählte der Polizei auch, dass sie mehrere Minuten brauchte, um Kendra überhaupt wach zu kriegen.
»Ich bin absolut davon überzeugt, dass Caroline Kendra deckt«, sagte Cynthia. »In unserer Gegenwart ist sie immer nervös und fahrig. Das schlechte Gewissen nagt an ihr, davon bin ich felsenfest überzeugt. Irgendetwas verheimlicht sie. Dabei kümmert sie sich ganz wunderbar um unsere Enkelkinder, wahrscheinlich hat sie Angst, dass wir sie entlassen, sobald wir das Sorgerecht haben. Wir haben ihr sogar versichert, dass wir sie weiterhin beschäftigen würden.«
»Wir werden uns noch ausführlicher über Caroline unterhalten, das verspreche ich Ihnen«, unterbrach Laurie. »Bevor wir uns verabschieden, muss ich leider noch auf zwei Punkte zu sprechen kommen, die Ihnen vielleicht etwas unangenehm sind. Ich will ganz offen sein.«
»Nur zu«, sagte Dr. Bell und rutschte hin und her. »Was wollen Sie wissen?«
Es waren heikle Themen für die Bells, weshalb Laurie beschloss, mit der ihrer Meinung nach weniger brisanten Frage zu beginnen. »Aus der Erbmasse Ihres Sohnes wurden einige Verfahren, die wegen Behandlungsfehlern gegen ihn anhängig waren, mit einem Vergleich eingestellt. Können Sie uns Näheres dazu sagen?
«
»Auf keinen Fall«, erwiderte Dr. Bell. »Wir haben uns auf den Vergleich nur eingelassen, um Martins guten Namen zu schützen. Nach seinem Tod hatten die raffgierigen Anwälte der Gegenseite die Unverschämtheit, ihre finanziellen Forderungen sogar noch nach oben zu schrauben, weil er sich nicht mehr verteidigen konnte. Es war widerwärtig. Wir haben die von der Versicherung angebotene finanzielle Vereinbarung aus unserem persönlichen Vermögen noch aufgestockt, damit die Kläger eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichneten. An diese Vereinbarung sind natürlich auch wir gebunden, daher kann ich Ihnen dazu leider nichts sagen, selbst wenn wir es wollten. Glauben Sie mir aber: Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass diese Klagen für den Tod unseres Sohnes in irgendeiner Weise relevant wären.«
Laurie hätte es zwar gern anders gehabt, sah aber keine Möglichkeit, die Bells dazu zu überreden, gegen eine rechtlich bindende Vereinbarung zu verstoßen. Sie würde auf anderem Weg an die Einzelheiten dieser Klagen herankommen müssen und nahm sich vor, Alex bei Gelegenheit auf die Feinheiten einer Verschwiegenheitserklärung anzusprechen.
»Gut«, sagte sie und ließ den Punkt damit auf sich beruhen. »Auf das andere Thema haben Sie bereits angespielt. Laut Martin hat Kendra ihn der Untreue beschuldigt.«
Beide runzelten die Stirn. »Das war völlig an den Haaren herbeigezogen!«, empörte sich Cynthia. »Offen gesagt, Kendra kann sich glücklich schätzen, dass die Longfellows sie nicht wegen übler Nachrede angezeigt haben. Longfellow stand damals kurz vor der Nominierung für den frei gewordenen Senatssitz.«
»Sie wussten also, dass Kendra Ihrem Sohn eine Beziehung mit Leigh Ann Longfellow unterstellte?«, fragte Ryan.
»Natürlich«, antwortete Cynthia. »Sie müssen wissen: Wir kennen Leigh Ann, seitdem sie ein kleines Mädchen war. Ihre
Mutter Eleanor und ich sind nach wie vor befreundet und spielen gemeinsam Bridge, sofern es unsere Termine zulassen.«
»Ihr Vater«, mischte sich Dr. Bell ein, »Charles, gehörte zu den großen Brokern an der Wall Street, bevor er vor einigen Jahren starb. Eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete Familie.«
»Jedenfalls«, fuhr Cynthia fort, »wenn wir uns trafen, passten die älteren Kinder auf die jüngeren auf. Für Martin war Leigh Ann also so etwas wie eine kleine Schwester. Dann arbeiteten sie im Vorsitz der Ehemaligenvereinigung zusammen. Sie liegen zwar mehrere Jahre auseinander, gingen aber auf dieselbe Privatschule. Als Kendra ihre lächerlichen Anschuldigungen vorbrachte, hat uns Martin alles sofort erzählt. Er fürchtete, ihre Unterstellungen könnten an die Öffentlichkeit dringen, und er wollte nicht, dass Leigh Ann oder ihren Eltern von anderen diese Gerüchte zugetragen wurden. Es war ihm zutiefst peinlich. Wir haben uns dann auf unsere Art darum gekümmert.«
»Indem Sie was taten?«, fragte Laurie.
»Ich habe Eleanor angerufen«, sagte Cynthia. »Ich habe ihr gesagt, dass Kendra eine schwierige Zeit durchmache. Dass sie … krank sei. Was sich in einer seltsamen Besessenheit manifestiere, die sich auf Leigh Ann gerichtet habe, und wir alles tun würden, damit das Problem nicht weitere Kreise ziehe. Aber so sehr Martin auch versuchte, Kendra zu beruhigen, ihre Paranoia schien nur umso schlimmer zu werden. Einmal rief sie uns sogar an und flehte, wir möchten auf ihn einwirken, damit er die Affäre beende – die natürlich nur in ihrer Fantasie existierte.«
»Aber wie können Sie davon so überzeugt sein?«, fragte Ryan. »Entschuldigen Sie, wenn ich diese Möglichkeit in den Raum stelle, aber ich habe meinen Eltern auch nicht alles erzählt, was mir eventuell peinlich gewesen wäre.«
Laurie merkte, dass Ryan besser dafür geeignet war, diesen Punkt weiterzuverfolgen
.
»Wir kennen unseren Sohn«, antwortete Cynthia entschieden. »Er war niemand, der fremdgeht. Und wir kennen Leigh Ann und ihren Mann, den Senator. Die beiden verbindet aufrichtige Liebe. Er ist ein äußerst fähiger Politiker, aber Leigh Ann ist die mit den Beziehungen. Sie hat ihn darin bestärkt, sich für die Wahl zur State Assembly aufstellen zu lassen, sie hat im Hintergrund seinen Wahlkampf geführt. Und sie ist blitzgescheit. Wenn Sie mich fragen, ist sie der eigentliche Kopf hinter der ganzen Sache. Aber die beiden vergöttern einander. Allein die Vorstellung, dass sie und Martin etwas miteinander hatten, ist vollkommen verrückt.«
»Und falls Sie uns nicht glauben wollen«, fügte Dr. Bell hinzu. »Zufällig wissen wir, dass die Polizei nach Martins Tod Kendras Vorwürfen nachgegangen ist. Man versicherte uns, dass sie völlig aus der Luft gegriffen waren. Es gab keine Affäre. Martin und Leigh Ann haben die gleiche Privatschule besucht und zusammen ein Auktionsdinner organisiert. Das war alles. Und Kendras Behauptung, dass Leigh Anns Mann – der jetzt unser Senator ist – hinter dem Mord steht, ergibt nun überhaupt keinen Sinn. Sowohl er als auch Leigh Ann haben sich zum Tatzeitpunkt in Washington, D.C., aufgehalten.«
»Es ist trotzdem beschämend, dass sie alle in diese Sache mit hineingezogen wurden«, sagte Cynthia kopfschüttelnd. »Bitte sorgen Sie dafür, dass Kendra diesen Unsinn nicht im Fernsehen verbreitet. Wir wollen nicht sehen, wie der Ruf unseres Sohnes in den Schmutz gezogen wird.«
Cynthia wischte sich eine Träne weg. Laurie rief sich ins Gedächtnis, dass die beiden aus Liebe zu ihrem Sohn, der ihnen geraubt worden war, ihren ganzen Einfluss geltend gemacht hatten. Und jetzt setzten sie ihr Vertrauen in sie, dass sie den Fall verantwortungsbewusst behandelte. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns erlauben, den Fall Ihres Sohnes aufzugreifen. Ich verspreche Ihnen, wir werden unser Bestes tun.«