28
C aroline Radcliffe kam in dunkler Jeans und einer weiten gelben Bluse an die Tür der Remise. Ihre graubraunen Haare waren immer noch zu altmodischen kleinen Locken eingedreht, insgesamt aber wirkte sie sehr viel moderner als in dem Hauskleid, das sie bei Lauries bisherigen Besuchen getragen hatte.
»Ich möchte ganz offen sein«, sagte sie zu Laurie, als sie mit einem Eistee am Küchentisch Platz genommen hatten. »Kendra erzählte mir schon, dass Sie wahrscheinlich mit mir reden wollen. Und ich soll vollkommen ehrlich zu Ihnen sein. Ich hatte das Gefühl, Sie und Martins Eltern haben sie zu der Sendung gedrängt, aber nachdem sie sich einverstanden gezeigt hat, hoffe ich mit ihr, dass wenigstens etwas Gutes dabei herauskommt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man auf diese Weise den Vater seiner Kinder verliert und nicht weiß, wer der Täter war.«
Ich kann es mir vorstellen, dachte Laurie.
Sie hörte aufmerksam zu, als Caroline von den Ereignissen an jenem Abend berichtete, an dem Martin Bell getötet wurde. Sie hatte gehört, wie das Garagentor aufging, daraufhin waren drei Schüsse gefallen. Als sie nach draußen rannte, war Martin tödlich verletzt über das Lenkrad seines Wagens gesackt. Sie rief die Polizei und hatte dann zu tun, Kendra aus ihrem »Schläfchen« zu wecken, wie sie es höflich formulierte.
»Wo waren währenddessen die Kinder?«
»Ich hab ihnen gesagt, dass das Feuerwerksknaller waren, und hab sie auf ihr Zimmer geschickt. Sobald Kendra wach war und erfasste, was los war, brachte ich die Kinder zu einer spontanen Pyjamaparty bei einer Nachbarin. Sie waren ganz aus dem Häuschen. Ich dachte mir, sie haben sich noch eine normale Nacht verdient, bevor ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird.«
»Diese Entscheidung haben Sie getroffen? Nicht die Mutter?«
Caroline senkte den Blick. »Wie ich der Polizei schon sagte, sie war damals nicht ganz bei sich.«
»War sie oft in diesem Zustand?«
»Sie hat damals eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Ich denke, sie hat Ihnen von ihrer Wochenbettdepression erzählt.«
»Ich weiß, was Kendra mir erzählt hat. Ich möchte aber von Ihnen hören, was Sie mit eigenen Augen gesehen haben.«
Caroline zuckte mit den Schultern. »Als Dr. Bell mich angestellt hat, sagte er mir, seiner Frau ›geht es nicht gut‹ seit der Geburt der Kinder, vor allem seitdem Mindy auf der Welt war. Ich hab mir gleich gedacht, dass sie unter einer Depression leidet. Ich habe so was ja schon vorher bei einigen jungen Müttern erlebt.«
Caroline wirkte, als wollte sie noch mehr sagen, hielt sich jedoch zurück. »Aber bei Kendra war es anders?«, fragte Laurie.
Caroline nickte. »Sie ist mir fast … wie ein Zombie vorgekommen. Oft war es so, als wäre sie gar nicht bei sich. Schon möglich, dass es sich um einen sehr schweren Fall von Depression gehandelt hat, aber …«
Sie musste den Satz gar nicht vollenden. Es war klar, dass sie ihre Zweifel daran hatte.
»Martins Eltern glauben, Sie halten Informationen zurück – Informationen, die ihnen helfen könnten, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Sie räumen zwar ein, dass Sie sich ganz wunderbar um Bobby und Mindy kümmern …«
»Selbstverständlich. Fast, als wären sie meine eigenen.«
Laurie sah die Verzweiflung in Carolines Blick und wusste, dass die Bells mit ihrem Verdacht richtiglagen. Sie hielt irgendetwas zurück. »Ich frage Sie ganz im Vertrauen, Caroline: Sind Sie sich wirklich zu hundert Prozent sicher, dass Kendra unschuldig ist?«
Ihr wich die Farbe aus dem Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf, während ihr Tränen in die Augen traten.
»Sie haben Ihre Zweifel«, sprach Laurie laut aus, was Caroline verschwieg.
Die Kinderfrau zögerte, nickte dann und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse die Tränen weg.
Laurie fasste zu Carolines freier Hand. »Wenn Sie Zweifel haben, werden auch die Kinder irgendwann Zweifel haben«, sagte sie und sah Caroline fest in die Augen. »Noch sind sie klein, noch versuchen Sie, ihnen die Normalität in ihrem Leben zu bewahren. Aber sobald sie älter sind, werden sie die gleichen Fragen stellen, die auch die Öffentlichkeit seit fünf Jahren stellt. Sie werden ihre Mutter ansehen und sich fragen, ob die Frau, die sie großgezogen hat, den Vater, an den sie sich kaum noch erinnern, umgebracht hat. So kann man nicht leben, Caroline. Früher oder später kommen die meisten Geheimnisse ans Licht. Es ist immer besser, wenn die Wahrheit sofort aufgedeckt wird.«
Schniefend zog Caroline die Hand zurück. »Ich habe das Geld gesehen«, sagte sie leise. »Die Abhebungen, nach denen die Polizei gefragt hat. Ich habe ganze Geldbündel gefunden – Fünfziger, Hunderter, insgesamt vielleicht einige tausend Dollar –, zusammengeknüllt in der Sockenschublade und hinter den Schuhen im Schrank. Und dann, eines Tages, war alles weg.«
Die Information war bemerkenswert, aber Kendra hatte bereits zugegeben, dass sie exzessive Einkaufsbummel unternommen hatte. Dass ich das Geld zum Fenster hinausgeworfen habe, war vielleicht meine Rache an Martin für seine Affäre , so hatte sie es ausgedrückt .
Carolines Miene verhärtete sich. »Kendra hat genug gelitten!«, sagte sie entschieden. »Endlich führt sie wieder so was wie ein normales Leben. Sie hat eine Arbeit, die ihr Spaß macht. Der Arzt, für den sie arbeitet, ist ganz verrückt nach ihr – man sieht es ihm an.«
»Caroline«, fiel Laurie ihr ins Wort, »ich weiß, es gibt noch etwas, was Sie mir nicht erzählt haben. Und wenn es erst während der Dreharbeiten herauskommt, ist das sehr viel schlimmer, als wenn wir es jetzt erfahren.«
Caroline verschränkte die Arme, ihr Blick ging ins Leere, als würde sie Laurie gar nicht mehr wahrnehmen. »An dem Abend«, sagte sie, »habe ich Kendra so fest gerüttelt, dass ich schon befürchtet habe, ich würde ihr wehtun. Ich habe sie angeschrien, dass Martin erschossen wurde, immer wieder. Und irgendwann schien sie mich gehört zu haben. Sie stand auf – ich werde es nicht vergessen – und sagte: ›Bin ich endlich frei?‹ Dabei klang sie geschockt und – ich wage es kaum zu sagen – glücklich. Endlich war sie frei.«
Laurie zuckte innerlich zusammen. Egal, wie schrecklich die Ehe gewesen sein mochte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau sich freute, wenn der Vater ihrer Kinder ermordet wurde.
Caroline wollte sofort zurückrudern. »Ich glaube nicht, dass sie es war. Ich glaube, es war nur ihre spontane Reaktion auf die Nachricht. Es zeigt nur, wie schlecht es ihr ging. Und auf keinen Fall war es ein Geständnis oder etwas in der Art.«
»Sicher«, sagte Laurie. »Aber es ist wichtig, dass wir es wissen. Gibt es noch etwas?«
Die Frage hing unbeantwortet im Raum. Die Kinderfrau hatte immer noch nicht alles erzählt, davon war sie überzeugt.
Dann sagte Caroline: »Eine Sache gibt es noch. Das gehortete Geld, von dem ich gesprochen habe. Sie versteckt es immer noch. Aber die Summen sind größer geworden.«