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aurie kam sich ziemlich underdressed vor, als sie nur in Jeans und einem NYPD
-T-Shirt aus dem Aufzug der Fisher Blake Studios trat. Aber es war Sonntagnachmittag, Leo war mit Timmy zu Alex gefahren, um sich dort das Spiel der Yankees gegen die Red Sox anzusehen. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass die drei wichtigsten Männer in ihrem Leben auf Familie machten und ihr damit die Zeit gaben, eine zusätzliche Arbeitssitzung einzulegen.
Ryan wartete schon mit einem großen Umschlag an der Tür zu ihrem Büro. »Ich ruiniere dir hoffentlich nicht den Tag«, sagte er. »Im Grunde hätte es auch bis morgen warten können.«
Ryan hatte eine halbe Stunde zuvor ganz aufgeregt angerufen. Er hatte bei den gegen Martin Bell erhobenen Klagen etwas entdeckt. Oft war Laurie verärgert, weil Ryan gern darauf bestand, dass sie alles sofort stehen und liegen ließ, um sich anzuhören, was ihm gerade durch den Kopf ging. Diesmal aber war es anders. Sie hatte ihn ausdrücklich darum gebeten, etwas über die Klagen wegen der Behandlungsfehler herauszufinden, die zum Zeitpunkt von Martin Bells Tod gegen ihn anhängig waren. Bislang hatte sie allerdings nicht gewusst, dass Ryan auch am Wochenende arbeitete.
Sie bedeutete ihm, sich zu setzen. Ryan interpretierte die Geste als Einladung, es sich in ihrem Lieblingssessel bequem zu machen.
»Es gab drei Klagen«, begann er. »In allen wird Martin Bell vorgeworfen, Schmerzmittel in so hohen Dosen verschrieben
zu haben, dass die Patienten daraufhin gestorben sind. Kommt weniger gut, wenn man im Ruf steht, ein wahrer Wundertäter zu sein. Aber ich habe ja schon immer geargwöhnt, dass das alles zu schön war, um wahr zu sein.«
Laurie erinnerte sich an die Schlagzeile der New York Times
am Morgen nach Martin Bells Tod: DER
ARZT
, DER
DIE
SCHMERZEN
HEILTE
: ERSCHOSSEN
. Im Artikel wurde er einmal mehr als Arzt beschrieben, der die Schmerztherapie revolutioniert und statt der Verabreichung von Medikamenten und chirurgischen Eingriffen einen eher ganzheitlichen Ansatz wie Meditation und Stressvermeidung verfolgt hatte.
Mit der Veröffentlichung seines Bestsellers Die neue Schmerzlehre
erfuhr Martin Bells Karriere einen enormen Aufschwung. Er verließ die neurologische Abteilung der New York University, eröffnete eine eigene Praxis und widmete sich bei der Schmerzlinderung homöopathischen und psychologischen Ansätzen und der physikalischen Therapie. Er war häufig in Talkshows zu Gast und ging hart mit Chirurgen ins Gericht, die sofort mit dem Skalpell bei der Hand waren, oder mit Ärzten, die lediglich Medikamente verschrieben. Wären diese Klagen ruchbar geworden, hätte die Öffentlichkeit den Star-Guru ganz schnell als Quacksalber angesehen.
Natürlich überlegte Laurie, ob es einen Zusammenhang zwischen den Klagen und dem Mord an ihm geben könnte.
»Ich habe einen meiner alten Kumpel gebeten, für mich nachzusehen, ob einer der Kläger schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist.« Ryan blätterte durch den Ordner, zog mehrere zusammengeheftete Seiten heraus und legte sie Laurie vor, die aus dem Staunen über seine Strebsamkeit gar nicht mehr herauskam. »Eine Frau, Allison Taylor, behauptet, Oxycodon-abhängig geworden zu sein, nachdem sie Dr. Bell wegen ihrer durch Knochenkrebs verursachten Schmerzen aufgesucht hat. Sie hatte, wie sich herausstellte, eine lange Liste von Verkehrsvergehen.
«
»Na ja, zwischen Verkehrsdelikten und Mord besteht nicht unbedingt ein direkter Zusammenhang«, erwiderte Laurie, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Wohl wahr, deshalb bin ich auch eher an diesem Typen interessiert, George Naughten. Seine siebenundsechzigjährige Mutter litt nach einem leichten Unfall auf dem Long Island Expressway an chronischen Schmerzen. Eine Teenagerin, die auf ihr Handy gestarrt hat, war auf ihren Wagen aufgefahren. Im ersten Moment dachte ich schon, es wäre diese Allison Taylor gewesen.« Ryan gluckste vor sich hin.
Laurie nickte und hoffte, dass er endlich zur Sache kam.
Aber Ryan war jetzt in Erzähllaune: »Mom läuft also von Doktor zu Doktor, aber keiner hilft ihr. Nach zwei Jahren hört sie in Good Morning America
von Dr. Bell und beschließt, dass sie zu ihm muss. Da er nur Privatpatienten behandelt, muss sie die Therapie aus eigener Tasche bezahlen. Sie nimmt sogar einen Kredit auf ihr Haus auf. Nichts schlägt zunächst an, aber irgendwann kommt Dr. Bell mit einem Medikamentencocktail, der ihr hilft. Laut der Anklageschrift haben die Medikamente einen Zombie aus ihr gemacht – aber zumindest war sie schmerzfrei. Dann, eines Tages, findet George sie leblos in ihrer Wohnung. Laut Rechtsmedizin war eine Überdosis die Todesursache. George hat Stein und Bein geschworen, dass Bell nicht nur Medikamente verschrieb, die sie sich in der Apotheke besorgen musste, sondern ihr in der Praxis auch direkt Tabletten gab.«
Laurie streckte sich in ihrem Sessel und dachte nach. »Und du sagst, George ist vorbestraft?«
»Warte«, erwiderte Ryan und hob die Hand. Er genoss seinen Auftritt in vollen Zügen. »Denn jetzt wird es richtig interessant. Ein Jahr vor Dr. Bells Ermordung wird gegen George ein Kontaktverbot gegen einen Zwanzigjährigen namens Connor Bigsby verhängt – gegen das er verstoßen hat.« Er deutete auf den vor ihr liegenden Polizeibericht
.
Laurie rechnete kurz nach. »Nach dem Alter seiner Mutter habe ich mir George älter vorgestellt.«
»Damals fünfunddreißig, jetzt einundvierzig. Also, ja, ich war neugierig, was zu seinem Kontakt mit einem Zwanzigjährigen geführt hat. Ich habe die Aufzeichnungen zu seinem Prozess wegen der Verletzung des Kontaktverbots angefordert.« Ryan schob ihr einen neuen Blätterstapel hin. »Willst du raten, wie das zustande kam?«
Laurie lächelte sichtlich beeindruckt. Sie kam nur selten in den Genuss seiner Stärken, jetzt aber war nicht zu übersehen, dass er in einem Gerichtssaal eine hervorragende Figur abgeben würde. »War Connor Bigsby der Fahrer des Wagens, der am Unfall mit Georges Mutter beteiligt gewesen war?«
Ryan hob anerkennend die Augenbrauen. »Ah, keine schlechte Theorie. Aber es ist noch verzwickter. Am Steuer saß eine junge Frau, die kurz nach dem Unfall zum Studieren nach Texas zog. Connor Bigsby allerdings war ihr Freund, der ihr eine SMS
schrieb, während sie fuhr.«
»Wie verrückt«, sagte Laurie und betrachtete die Mitschriften von Georges Prozess. »Das hat George schon gereicht, um Connor die Schuld am Unfall seiner Mutter zu geben? Da hat er aber einen Schritt in der logischen Abfolge ausgelassen, was?«
Ryan deutete auf einen markierten Textabschnitt. »Schau dir das an. Das Kontaktverbot wurde erlassen, nachdem George wiederholt an Connors Arbeitsplatz, einem Sportartikelgeschäft, aufgetaucht ist. Er hat ihn beschimpft, hat ihn für den Unfall verantwortlich gemacht und gesagt, dass er wegen Körperverletzung ins Gefängnis gehöre – das alles erfüllt den Straftatbestand der Nachstellung. Und dann, eines Tages, hat George in seinem Wagen vor dem Geschäft gewartet und ist mit hoher Geschwindigkeit an Connor vorbeigerast – anscheinend hat er ihn nur knapp verfehlt. Connor sagte später, George hätte ihn
über den Haufen gefahren, wenn er nicht zur Seite gesprungen wäre. Daher das Kontaktverbot.«
»Warum wurde er nicht wegen versuchten Mordes angeklagt?«
»Die Staatsanwaltschaft glaubte wahrscheinlich, nicht beweisen zu können, dass er den Jungen verletzen oder gar umbringen wollte. Aber zusammen mit den anderen Belästigungen erwirkte sie eine gerichtliche Verfügung, nach der er sich dem Jungen nicht weniger als dreißig Meter nähern durfte. Aber daran hielt er sich nicht. Connors Mutter entdeckte ihn, wie er gegenüber ihrem Haus geparkt und sie anscheinend beobachtet hat. Sie rief die Polizei, und er wurde wegen Verstoßes gegen eine gerichtliche Verfügung festgenommen. Aber schau dir das an.« Ryan blätterte zu einer weiteren Seite, die mit einem gelben Haftzettel markiert war. »George hat zu seiner Verteidigung einen Psychiater aufgerufen. Der gab zu Protokoll, dass der Angeklagte obsessive Phasen durchmache. Anscheinend ist es üblich, dass Stalker ihre Obsessionen auf andere übertragen. Der Richter verurteilte ihn zu einer langen Bewährungsstrafe und warnte ihn, beim nächsten Verstoß würde er ins Gefängnis wandern.«
»Nicht zu fassen. Er schrieb die Verletzung seiner Mutter einem Jungen zu, der zu Hause sitzt und seiner Freundin eine SMS
schreibt«, sagte Laurie. »Wenn er zu so einem Gedankensprung fähig war, dann kann ich mir nur zu gut vorstellen, was er erst mit dem Arzt macht, der seiner Mutter Tabletten verschreibt, an denen sie stirbt.«
»Wir sollten mit ihm reden, oder?«
Meistens gefiel es Laurie nicht besonders, wenn Ryan vorschlug, dass »wir« etwas tun sollten. In diesem Fall aber hatte er alles Recht dazu, an den Nachforschungen beteiligt zu sein. »Willst du dich darum kümmern?«, fragte sie.
»Schon dabei«, erwiderte Ryan begeistert. »Aber ich hab dir
noch was zu erzählen. Bereits vier Jahre vor Martin Bells Ermordung war George Naughten registrierter Besitzer einer Neun-Millimeter Smith and Wesson, genau so einer Pistole, mit der Dr. Bell ermordet wurde.«
»Wow. Vielleicht könnten wir ihn bitten, uns die Pistole auszuhändigen. Damit wir sie zur ballistischen Überprüfung der Polizei übergeben.«
Ryan erhob sich aus dem Sessel. »Eher unwahrscheinlich. Bei seiner Verurteilung wurde ihm ebenfalls auferlegt, die Pistole abzuliefern, sein Anwalt behauptete aber, sie sei zwei Monate vorher bei einem Einbruch gestohlen worden. Statt die Waffe abzugeben, präsentierte er bloß den Polizeibericht, demzufolge sie zusammen mit einigem Schmuck der Mutter gestohlen wurde. Ob dem wirklich so war, lässt sich natürlich kaum feststellen. Es könnte also sein, dass George diesen Einbruch nur vorgetäuscht hatte, um die Waffe später noch zu benutzen.«
Laurie dankte Ryan für seine Arbeit. Nachdem sie allein in ihrem Büro war, las sie die Polizeiberichte und die Mitschriften des Prozesses und achtete besonders auf die von Ryan markierten Passagen.
Hatte sich die Polizei so sehr auf Kendra Bell versteift, dass sie George Naughten völlig übersehen hatte?
Ihre Gedanken kehrten zu dem mysteriösen Unbekannten zurück, mit dem sich Kendra Bell vor dem Mord an ihrem Mann in einer Bar getroffen hatte. Sie blätterte durch die Dokumente, die Ryan ihr gegeben hatte, und suchte nach Fotos, fand aber keine. War es möglich, dass sie sich mit einem Typen zusammengetan hatte, der selbst mit ihrem Mann noch eine Rechnung offen hatte?
Sie wusste nicht, ob George Naughten ein Mörder, ob er der Unbekannte aus der Bar war oder nur ein unangenehmer Zeitgenosse mit psychischen Problemen. Sie wusste nur, dass sie
einen neuen Namen zu ihrer Liste potenzieller Verdächtiger hinzufügen konnte.
Sie ging zum Whiteboard an der gegenüberliegenden Wand und nahm einen roten Stift zur Hand. Kurz darauf war die gesamte Tafel mit Namen und Linien überzogen, die die möglichen Verbindungen zwischen allen Beteiligten darstellten. Kendra. Der unbekannte Fremde, mit dem sie sich in der Kellerbar getroffen hatte. Der Dermatologe, der ihr Chef war und immer noch sehr viel für sie übrig hatte. Der aufgebrachte Sohn einer verstorbenen Patientin. Sogar der New Yorker Senator, den sie am darauffolgenden Nachmittag interviewen sollte.
Ihr Handy gab einen Ton von sich. Eine SMS
von Ryan. George wird sich mit uns treffen. Ich telefoniere gerade mit ihm. Morgen um zehn, passt das für dich?
Der Tag würde sehr voll werden, aber das schaffte sie. Sie bestätigte die Anfrage und trug den Termin in ihrem Kalender ein.
Es steht noch eine Menge Arbeit an
, dachte sie und wandte sich wieder dem Whiteboard zu. Aber der Mörder ist hier aufgeführt, hier auf dieser Tafel. Ich kann es spüren. Und egal, wer du bist, ich werde dich finden.