31
A m folgenden Morgen parkten Laurie und Ryan in der Nähe von George Naughtens olivgrünem Reihenhäuschen in Rosedale, Queens. Als sie die Straße überquerten, dröhnte eine Maschine auf ihrem Landeanflug zum nahen JFK -Flughafen über sie hinweg. Ryan hielt Laurie das verrostete schmiedeeiserne Tor auf. Gleich darauf standen sie beide unter einem ausgebleichten grauen Vordach und klopften an die Holztür, die einen frischen Anstich nötig gehabt hätte.
Naughten sperrte zwei Schlösser auf und entfernte die Kette, bevor er die Tür gerade so weit öffnete, dass er seine Besucher in Augenschein nehmen konnte. »Sie sind die Fernsehdetektive?«, fragte er blinzelnd. Seine Stimme war eine ganze Oktave höher, als Laurie erwartet hatte.
»Laurie Moran«, stellte sie sich vor. »Danke, dass Sie sich zu einem Treffen bereit erklärt haben.«
Naughten machte die Tür ganz auf. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein.« Er winkte sie in ein düsteres Wohnzimmer. Die Decke war niedrig, schwere Plüschvorhänge waren vor die Fenster gezogen. Im roten Schein der Wärmelampe eines Reptilienterrariums mutete das Zimmer wie ein Bordell an. Im Terrarium, wie Laurie bemerkte, spielte eine Bartagame mit einer Grille, die wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hatte. Über dem Terrarium hingen gerahmte Fotos an der Wand. Jedes Bild zeigte George in einem anderen Lebensjahr mit seiner Mutter.
»Bitte, machen Sie es sich bequem«, sagte er, während er sich auf einem abgewetzten Stoffsessel in der Mitte des Zimmers niederließ, sich vom Röhrenfernseher auf dem Boden wegdrehte und den beiden Korbschaukelstühlen in der Ecke zuwandte. Das Geld aus der Klage gegen Martin Bell – wie viel es auch immer gewesen sein mochte – war wahrscheinlich für den Lebensunterhalt draufgegangen, nicht aber für die Renovierung und Einrichtung des Hauses.
Sie nahmen Platz, und Laurie fasste George Naughten näher ins Auge. Er trug eine dunkelrote Jogginghose, die ihm einige Nummern zu klein war, dazu ein schlabbriges braunes T-Shirt, das einige Nummern zu groß war. Er wirkte älter als einundvierzig. Die Haare wurden über der von tiefen Falten durchzogenen Stirn bereits schütter.
Sie rief sich die Beschreibung der Barkeeperin von Kendras mysteriösem Begleiter im Cover ins Gedächtnis. Harte Gesichtszüge, kahl geschorener Schädel, fieser Blick. Bei dem traurig aussehenden Mann ihnen gegenüber handelte es sich definitiv nicht um ihn.
»Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns eingeladen haben, Mr. Naughten«, sagte Ryan.
»Nennen Sie mich doch bitte George. Meine Mama hat mich immer Georgie-Boy genannt. Mein Vater hat uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Wir beide gegen den Rest der Welt, das hat sie immer gesagt. Ich weiß, das alles hier ist nicht viel, aber mehr brauch ich nicht. Gleich da drüben gibt’s ein großes Einkaufszentrum und einen Supermarkt, und es ist schön, wenn man morgens aufwacht und weiß, dass Mom hier glücklich gewesen ist.«
Soweit Laurie aus ihren Recherchen wusste, hatte George vom Tag seiner Geburt bis zu ihrem Tod mit seiner Mutter zusammengelebt. Laurie spürte, wie sich Mitgefühl in ihr regte, aber das durfte sie nicht in ihrer Arbeit beeinflussen. »George, wir würden gern mehr über Ihre Beziehung zu Connor Bigsby erfahren. «
»Ach, das Ganze war ein einziges Missverständnis«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich hätte dem Jungen nie was getan. Ich wollte ihm nur klarmachen, wie gefährlich das Simsen ist.«
»Aber er hat doch gar nicht am Steuer des Autos gesessen, das auf das Ihrer Mutter aufgefahren ist«, sagte Ryan.
»Aber er hat es gewusst. Die Polizei hat die Nachrichten gelesen. Das Mädchen am Steuer hat ihm geschrieben, dass sie im Stau steht. Er hat es gewusst und sie trotzdem abgelenkt.«
Ryan runzelte die Stirn, hakte aber nicht nach. Sie waren nicht hier, um sich mit dem Widersinn von George Naughtens vergangenen Straftaten zu beschäftigen. »Reden wir über Dr. Martin Bell. Wie sah Ihr Kontakt zu dem verstorbenen Arzt aus? Wir wissen, dass Sie ihn vor seiner Ermordung verklagt haben.«
»Darüber kann ich nicht reden. Tut mir leid, ich habe eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet.«
Ryan beugte sich auf seinem Schaukelstuhl vor. »Diese Verschwiegenheitserklärung bezieht sich auf die von Ihnen eingereichte Klage wegen Behandlungsfehlern. Aber nicht auf Ihre persönliche Beziehung zu Dr. Bell.«
George krallte die Zehen in den ausgetretenen Teppichboden, und Laurie glaubte ein ängstlichen Flackern in seinen tief liegenden braunen Augen zu erkennen.
»Wir kennen die Aussagen Ihres Psychiaters über Ihre Obsessionen«, sagte Ryan. »Wenn Sie bereits einem Jugendlichen nachstellen, der am Unfall Ihrer Mutter kaum beteiligt war, dann werden Sie doch sicherlich nicht zögern, das Gleiche bei einem Arzt zu tun, den Sie für den Tod Ihrer Mutter verantwortlich machen.«
»Ich schwöre, ich habe Dr. Bell nur dieses eine Mal persönlich getroffen. Er hat noch nicht mal Anzeige erstattet. Die Polizei hat mir gesagt, ich soll auf Abstand bleiben, und nach den Problemen mit dem Jugendlichen hab ich mich daran gehalten. Ich bin nie mehr zu ihm in die Praxis. «
Laurie und Ryan tauschten einen schnellen Blick aus. Anscheinend war es in Dr. Bells Praxis zu einer Auseinandersetzung gekommen, die das Eintreffen der Polizei nötig gemacht hatte, und George nahm an, sie würden davon wissen.
Sie griffen die Informationen sofort auf. »Warum sollte er Ihrer Meinung nach die Polizei rufen, George, es sei denn, er hatte Angst vor Ihnen?«, fragte Ryan.
»Ich wollte ihm keine Angst einjagen, ich schwöre es. Ich wollte auch dem Jugendlichen keine Angst einjagen. So einer bin ich doch nicht«, sagte er und sah an sich hinab. »Ich wollte ihm nur klarmachen, welchen Schaden er anrichtet, so wie ich Connor Bigsby klarmachen wollte, dass er seiner Freundin, wenn sie hinterm Steuer sitzt, keine SMS schreiben soll. Martin Bell sollte wissen, dass er die Menschen nicht rettet. Er war kein Wundertäter. Seine Medikamente haben Mama umgebracht. Ich habe bei ihm angerufen, immer wieder, aber er ist nie drangegangen und hat mich nie zurückgerufen. Also bin ich persönlich zu ihm. Ich hatte doch keine andere Wahl.«
George starrte auf die Echse, während er weitersprach. »Ich hab der Sprechstundenhilfe gesagt, dass ich erst wieder gehe, wenn er mit mir redet, von Mann zu Mann. Ich hätte ihm nie was getan, das hab ich auch der Polizei erzählt, als sie gekommen ist. Man hat mir dann gesagt, Dr. Bell würde mich wegen Hausfriedensbruch anzeigen, wenn ich noch mal auftauche, also hab ich es nicht mehr getan.«
Ryan versuchte es anders. »Was war mit dieser Pistole, George? Eine Smith and Wesson neun Millimeter war auf Ihren Namen registriert. Mit einem solchen Modell wurde Dr. Bell erschossen.«
»Ich hab das Ding vor einigen Jahren zu Mamas Sicherheit gekauft. Es hat hier in der Gegend einige Einbrüche gegeben, ich wollte vorbereitet sein. Erst hat es Spaß gemacht, ich bin sogar zum Üben auf einen Schießstand. Aber nach Mamas Unfall hab ich das alles irgendwie vergessen. Ich hatte keine Zeit mehr, ich musste mich doch so viel um sie kümmern, da hat die Pistole bloß noch im Schrank gelegen. War dann irgendwie komisch, dass sie gestohlen wurde. Geschieht mir recht, hab ich mir gedacht, weil ich so ein tougher Typ sein wollte. Aber das liegt mir nicht.«
»Haben Sie sich eine neue gekauft?«, fragte Laurie. »Sind denn durch den Einbruch Ihre Ängste nicht bestätigt worden?«
»Nein. Ich hab das Ding doch bloß gehabt, um Mama zu beschützen. Jetzt gibt es hier nichts mehr, was irgendwie von Wert wäre.«
Laurie fragte ihn nach dem Schießstand, den er aufgesucht hatte, und notierte sich den Namen. »Wurden Sie nach Dr. Bells Ermordung von der Polizei befragt?«
George schüttelte den Kopf. »Ich hab das eigentlich erwartet, aber das Missverständnis in seiner Praxis war über einen Monat vor dem Mord passiert, außerdem hat es keine Anzeige gegeben. Also …«
Er beendete den Gedanken nicht. Also war er durchs Raster gerutscht. Der Polizist, der den Anruf zu einem Mann entgegengenommen hatte, der eine Arztpraxis nicht verlassen wollte, stellte über einen Monat später keinen Zusammenhang zu Dr. Bells Ermordung mehr her. Und Laurie war überzeugt, dass die Polizei sich nicht mit Georges früheren Gesetzesverstößen beschäftigt hatte, ganz zu schweigen mit seiner angeblich gestohlenen Waffe. Schließlich war sie vollauf damit beschäftigt, gegen Kendra zu ermitteln.
»Und am Abend von Dr. Bells Tod«, sagte Ryan, »wo haben Sie sich da aufgehalten?«
»Ich war hier«, sagte George und zeigte auf seine Wohnung. »Allein.«
Eine Weile schwiegen sie alle drei. Die Fenster klapperten, als ein weiteres Flugzeug über das Haus flog. »Werden Sie vor die Kamera treten, um sich von allen Verdächtigungen reinzuwaschen?«
George schreckte auf. »Ich würde gern vorher mit meinem Psychiater sprechen.«
»Gut, dann sagen Sie ihm aber, dass diese erneuten Ermittlungen sich nicht einfach in Luft auflösen werden«, sagte Ryan. Er sah zu Laurie. Aber sie hatte keine weiteren Fragen mehr, dankte George und wandte sich zur Tür.
Als sie im hellen Sonnenlicht zu ihrem Wagen zurückgingen, fragte Laurie: »Und, was hast du für ein Gefühl?«
»Ich würde ihn nicht unbedingt mit meiner Schwester verkuppeln wollen, aber bislang sieht er mir nicht wie ein Mörder aus.«
Sie nickte und wünschte sich, ihr Gefühl allein würde ausreichen, um den Namen eines Verdächtigen von ihrem Whiteboard zu streichen. Sie selbst war sich weniger sicher. Klar war jedenfalls eines: George Naughten war ganz besessen von der Vorstellung, dass Dr. Martin Bell seine Mutter auf dem Gewissen hatte.
»Danke für die gute Arbeit«, sagte sie. »Du warst richtig toll da drin.«
»Danke, Laurie. Das bedeutet mir eine Menge. Ich weiß, ich war bislang nicht unbedingt der beste Teamspieler.«
»Nimm es mir nicht übel, aber darf ich fragen, was sich geändert hat?«
Ryan zögerte, dann runzelte er die Stirn. »Eine Frau, mit der ich was hatte, hat mir den Laufpass gegeben.«
»Oh. Das tut mir leid …«
Er schüttelte den Kopf. »Es war keine ernste Sache. Aber, Mann, sie hat mir, als sie die Beziehung beendet hat, eine ganze Menge an den Kopf geworfen. Sie meint, ich sei egoistisch – und würde glauben, immer auf alles ein Anrecht zu haben. Ich sei schon mit dem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen und denke jetzt, alle müssten nach meiner Pfeife tanzen.« Traurig zuckte er mit den Schultern, kam dem Chauffeur zuvor und öffnete Laurie die Fondtür.
Nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, sagte er: »Wie auch immer, mir ist jedenfalls klar geworden, dass sie vielleicht gar nicht so unrecht hat. Man hat mich also ziemlich zurechtgestutzt.«
So einen Augenblick der eingestandenen Schwäche hatte Laurie bei Ryan noch nie erlebt. Da sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte, entschied sie sich kurzerhand für Humor: »Was aber nicht unbedingt heißt, dass du jetzt bescheidener wirst.«
»Niemals«, sagte er und grinste breit. »Mit Bescheidenheit hat es Ryan Nichols eher nicht so.«