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eigh Ann bat Laurie und Jerry Platz zu nehmen und setzte sich ihnen gegenüber auf ein hellgraues Sofa. Die beiden Papillons sprangen zu ihr hoch und ließen sich links und rechts von ihr nieder.
»Als Erstes sollte ich Ihnen gratulieren, Laurie. Dan hat mir erzählt, dass Sie nicht nur sehr erfolgreich Ihre eigene Karriere verfolgen, sondern mit unserem jüngsten Bundesrichter verlobt sind. Wie aufregend. Sie geben ein Paar mit enormer Power ab.«
Laurie wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Es war lange her, dass sie sich als Teil eines Paars gesehen hatte, ganz zu schweigen eines Paars »mit enormer Power«. »Danke«, sagte sie schließlich. »Aber es steht doch noch viel an.«
»Nun, auch wenn Sie nicht danach gefragt haben, aber ich rate Ihnen, alles einfach zu genießen. Im Mittelpunkt stehen nur Sie beide, nicht irgendwelche Hochzeitsvorbereitungen und was sonst noch alles dazugehört. Meine Eltern haben Dan zu dem ganzen Spektakel im Central Park Boathouse überredet. Meine Cousine musste Dan den ganzen Abend auf Schritt und Tritt folgen und ihm ständig erklären, wer jeder war.«
Laurie lächelte. Sie und Alex hatten noch niemandem erzählt, dass sie die Hochzeit im Spätsommer planten, weil sie noch etwas Zeit für sich haben wollten, bevor Einzelheiten bekannt gegeben wurden.
»Wie auch immer«, fuhr Leigh Ann fort, »Sie sind nicht hier, um sich Ratschläge für Ihre Hochzeit anzuhören. Dan hat mir
erzählt, Sie nehmen sich wieder Martins Fall an.« Sie klang jetzt ernster. »Ich bin immer noch fassungslos, dass ihm jemand so etwas antun konnte.«
»Wie haben Sie damals von seinem Tod erfahren?«, fragte Laurie.
»Meine Mutter hat mich angerufen. Die Polizei war bei den Bells und hat ihnen die Nachricht persönlich mitgeteilt. Zufällig waren meine Eltern auf einen Cocktail dort, bevor sie gemeinsam zum Essen ausgehen wollten. Sie können sich vorstellen, wie die Reaktionen ausfielen, als man ihnen von der Tragödie berichtete.«
»Cynthia Bell sagte, Sie kannten Martin schon lange.«
Sie nickte. »Seit meiner Kindheit. Er war sechs Jahre älter, wir waren also nicht unbedingt befreundet. Aber unsere Eltern standen sich nah, wir saßen gemeinsam am Kindertisch, oder die Älteren spielten mit den Jüngeren Verstecken. Solche Sachen. Und als ich dann dem Vorsitz der Ehemaligenvereinigung beitrat, stellte ich fest, dass er ebenfalls mit dabei war.«
»Kannten Sie Kendra?«
»Überhaupt nicht. Dan und ich waren zur Hochzeit eingeladen, aber sie überschnitt sich mit einer Wahlkampfveranstaltung, die Dan nicht mehr absagen konnte.«
»Er gehörte damals schon der State Assembly an?«, fragte Laurie.
Leigh Ann überlegte kurz. »Es war der Wahlkampf für die zweite Amtszeit, es muss also … etwas mehr als zehn Jahre her sein. Mom und Dad waren auf der Hochzeit, sie meinten, Kendra sei wohl ganz nett, aber es hatte sich nicht ergeben, dass sie sich mit ihr länger unterhalten hätten. Im Lauf der nächsten Jahre erwähnte Mom einige Male, dass Cynthia der Meinung sei, Martin habe einen fürchterlichen Fehler begangen, aber, wie gesagt, ich kannte Kendra nicht und traf Martin nur bei den Sitzungen für die Ehemaligenvereinigung.
«
»Entschuldigen Sie, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, aber ich denke, Sie wissen, warum wir mit Ihnen reden wollen. Kendra war überzeugt, dass sich Ihre Beziehung nicht nur auf die Sitzungen für die Ehemaligenvereinigung beschränkte.«
Leigh Ann schüttelte lachend den Kopf. »Entschuldigen Sie, wenn ich hier lachen muss. Sie tut mir wirklich leid, aber das ist einfach nur absurd. Wir haben uns, wenn es hochkam, einmal im Monat gesehen, in einem Konferenzraum zusammen mit zweiundzwanzig Ehemaligen. Dann fanden wir uns als stellvertretende Vorsitzende im Auktionskomitee wieder, was mit einer Menge Arbeit verbunden ist – man ist mit den Planungen beschäftigt, rührt die Werbetrommel und verwaltet die Spenden. Heute hätte ich gar nicht mehr die Zeit für das alles, damals aber war Dan häufiger in Albany als hier« – ihre Miene gab klar zu verstehen, dass sie kein großer Fan der Bundeshauptstadt war – »und ich wollte mich hier irgendwie nützlich machen. Als der alte Vorsitzende für die Auktion verkündete, dass er nicht mehr zur Verfügung stehe, dachte ich mir, was soll’s, ich mach es, solange mir jemand zur Hand geht.
Martin war damals ja fast so was wie eine Berühmtheit, wir kannten uns seit unserer Kindheit, also bearbeitete ich ihn so lange, bis er einwilligte. Das Einzige, was mir einfällt, waren die vielen Telefonate zwischen uns beiden, vielleicht hat Kendra daraus ihre Schlussfolgerungen gezogen. Aber ich kann Ihnen versprechen: Das sinnlichste Thema, über das Martin Bell und ich uns unterhalten haben, war, wo wir die Eisskulptur aufstellen sollen.«
»Aber die Polizei hat Sie nach Martins Tod befragt?«
»Ja. Ich war völlig baff. Später hat mir meine Mutter erzählt, Martins Eltern hätten sie vorgewarnt, dass Kendra sich das einbildet, mir gegenüber aber hat keiner auch nur ein Wort erwähnt, solange Martin noch am Leben war. Als die Polizei mich kontaktierte, sagte man mir, dass meine Nummer häufig in Martins Anrufverzeichnis auftauchte. Natürlich sprach ich von
unserer Arbeit für die Auktion. Aber dann bekam ich zu hören, dass ich eine Affäre mit Martin haben sollte, und sie wollten wissen, wo sich Danny am Abend des Mordes aufgehalten hatte – für den Fall, dass er die gleichen Mutmaßungen hegte wie Kendra.«
»Und?«, fragte Laurie.
»Er war in Washington, D.C. Mit mir. Der Sitz im Senat war soeben frei geworden, und wir wussten, dass der Gouverneur sich mit dem Gedanken trug, Danny dafür zu nominieren. Zur Vorbereitung fuhr Danny nach Washington, um sich mit mehreren Parteiführern zu treffen. Natürlich konnte ich ihm während dieser Treffen nicht die Hand halten, aber ich beschloss, ihn zur moralischen Unterstützung zu begleiten. Und um ehrlich zu sein, ich fuhr mit ihm lieber nach Washington als nach Albany. Wir blieben über Nacht, damit er am nächsten Morgen noch mit dem Mehrheitsführer im Senat frühstücken konnte. Wir waren dann gerade wieder zurück, als meine Mutter mich anrief, um mir die schreckliche Nachricht von Martins Tod mitzuteilen.«
Für die Polizei hätte es ein Leichtes sein müssen, Dans Alibi für den Mordzeitpunkt zu bestätigen, wenn Leigh Ann die Wahrheit sagte. Erneut wünschte sich Laurie, die Polizei wäre etwas freigiebiger mit ihren Erkenntnissen in diesem Fall.
»Ich habe mit Kendra gesprochen«, sagte Laurie, »und habe den Eindruck, sie unterstellte Martin unter anderem eine Affäre, weil ihre Ehe alles andere als problemlos war. Sie haben noch zusammengelebt, aber es klingt fast so, als hätten sie sich voneinander entfremdet. Ich werde nur ungern persönlich, aber wie war es zu dieser Zeit um Ihre Ehe bestellt?«
Leigh Ann lächelte, aber ihre Geduld wurde sichtlich auf die Probe gestellt. »Sie haben recht, das ist eine sehr persönliche Frage. Was soll ich sagen? Danny und ich gehören zu den glücklichen Paaren, die sich sehr früh gefunden und beschlossen
haben, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Ich habe an der Columbia mein Jurastudium beendet, und er hat seinen Master in Internationaler Politik gemacht, nachdem er als Offizier aus dem Militär ausgeschieden ist. Mir ist bei Starbucks mein Lehrbuch für internationales Recht zu Boden gefallen, als ich die Brieftasche aus dem Rucksack zog. Er hat es aufgehoben, und wir haben uns über Außenpolitik und alles Mögliche unterhalten. Es hat sofort zwischen uns beiden gefunkt. Wir mussten an die drei Stunden im Coffeeshop gesessen haben. Und als ich an dem Abend nach Hause kam, erzählte ich meiner Zimmergenossin, dass ich den Mann kennengelernt hätte, den ich heiraten würde. Als er um meine Hand anhielt, überreichte er mir den Verlobungsring in dem Pappbecher, den er damals nach unserem ersten Treffen aufgehoben hatte. Er sagte, er habe ebenfalls sofort gewusst, dass wir zusammenbleiben würden.«
Ganz mühelos, dachte Laurie – so wie es sein sollte.
»Da die Ernennung Ihres Mannes zum Senator kurz bevorstand, müssen Sie sehr besorgt gewesen sein, dass Ihre Namen in der Berichterstattung zum Mordfall auftauchen. Dr. Bells Ermordung hat ja für einige Wochen die lokale Berichterstattung bestimmt.«
»Ich muss ehrlich sagen, der Gedanke ist uns nie gekommen. Ich war nur völlig fassungslos, dass jemand, den wir kannten, ermordet wurde. Und ich habe es bedauert, dass Kendra nicht nur ihren Mann verloren hat und jetzt mit zwei kleinen Kindern allein zurechtkommen musste, sondern auch Zweifel an meiner Beziehung zu Martin hegte. Aber es war ja ganz offensichtlich, dass sie sich alles nur eingebildet hat. Außerdem hatte der Gouverneur zu dem Zeitpunkt Dan bereits ins Vertrauen gezogen und mitgeteilt, dass ihm der Sitz im Senat sicher sei. Die Reise nach Washington hatte nur pro forma stattgefunden – um allen seine Aufwartung zu machen. Wenn ich
mich richtig erinnere, hatte der Gouverneur die Entscheidung bereits verkündet, als die Polizei uns zu der Sache befragte.«
Laurie hatte sich zur Vorbereitung auf das Interview im Internet über die Longfellows informiert. Der vorhergehende Senator hatte zehn Tage vor Martin Bells Ermordung einen Kabinettsposten übernommen, und der Gouverneur hatte Longfellow – vierzig Jahre alt, Mitglied der State Assembly und Kriegsheld – den freigewordenen Sitz exakt zwei Wochen, nachdem der frühere Senator seine Entscheidung publik gemacht hatte, angeboten. Wenn Leigh Anns Erinnerung stimmte, hatte sich die Polizei mindestens fünf Tage Zeit gelassen, bis sie die Longfellows befragt hatte. Laurie war die Tochter eines Polizisten. Sie wusste genau, wie diese Verzögerung zu deuten war: Die Ermittlungsbeamten hatten die Longfellows nicht als dringend tatverdächtig eingestuft. Ein weiteres Anzeichen, dass die Polizei Kendras Anschuldigungen wenig glaubwürdig fand.
»Hat Martin Bell Ihnen jemals von Kendra oder vom Zustand seiner Ehe erzählt?«
»Eigentlich nicht.«
Laurie lächelte. »Eigentlich nicht
ist nicht dasselbe wie nein
.«
»Hören Sie, ich will ehrlich sein – ich bin voreingenommen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass Cynthia und Robert der festen Meinung seien, Kendra wäre verantwortlich für Martins Tod. Aber das alles weiß ich nicht aus erster Hand.«
»Martin hat Ihnen aber von Kendra erzählt?«
Sie nickte. »Nicht unbedingt in einem vertraulichen Gespräch. So nahe standen wir uns nicht. Aber als wir mögliche Veranstaltungsorte für die Auktion besichtigen wollten, konnte er nicht an dem von mir vorgeschlagenen Datum, weil er einen Termin bei einem Anwalt hatte. Ich dachte mir nichts dabei und schlug andere Termine vor, aber er ging darauf nicht ein, sondern stieß nur ein sarkastisches Lachen aus« – sie ahmte den Laut nach – »
und sagte, ›hey, du und Dan, kennt ihr vielleicht einen guten Scheidungsanwalt. Ich werde einen ziemlich guten brauchen, wenn ich meine Kinder behalten möchte.‹ Ehrlich gesagt, mir war das ziemlich peinlich. Ich sagte ihm, es tue mir leid, das zu hören, und brachte das Gespräch wieder auf den Besichtigungstermin.«
Ein weiterer Hinweis, dass Martin entschlossen war, sich von Kendra scheiden zu lassen, sofern er das Sorgerecht für Bobby und Mindy behalten konnte.
Laurie hatte an Leigh Ann keine weiteren Fragen mehr. Da der Senator immer noch nicht erschienen war, verlegte sie sich auf Small Talk. »Die Auktion hat dann ohne Martin Bell stattgefunden?«
Leigh Ann lächelte. »Wir haben die Einladungen zu seinen Ehren verschickt. Seine Abschlussklasse hatte zum ersten Mal eine Spendenquote von einhundert Prozent. Robert und Cynthia waren anwesend und brachten sogar Bobby und Mindy mit. Ich fürchtete schon, wir würden alle in Tränen ausbrechen, die armen Kinder. Besteht denn noch irgendeine Hoffnung, dass sie eine normale Kindheit erleben, wenn sie ihren Vater durch eine so grässliche Tat verlieren?«
Jede Menge Hoffnung
, hätte Laurie am liebsten gesagt. Vielleicht sind sie stark und belastbar und voller Liebe und Freude wie mein wunderbarer Timmy.
Leigh Ann blickte auf. Ihr Mann trat ins Zimmer. Ike und Lincoln sprangen sofort vom Sofa und begrüßten den Neuankömmling.
»Wow«, sagte Jerry. »Sie mögen ja vielleicht die Papillon-Präsidenten sein, aber sie können es kaum erwarten, den Senator von New York zu begrüßen.«
»Sie lieben ihren Daddy, was?« Leigh Ann gab ein paar gurrende Geräusche von sich, während Dan die Hunde hinter den Ohren kraulte
.
»Sie müssen uns entschuldigen«, sagte der Senator. »Es ist Ihnen wahrscheinlich aufgefallen, dass wir die Kleinen verhätscheln. Wäre es in den letzten Tagen nicht endlich wärmer geworden, hätten Sie das Vergnügen gehabt, sie in ihren Rollkragenpullovern zu bewundern. Wird nicht mehr lange dauern, dann laufen sie in Gucci-Schühchen und mit Designer-Sonnenbrillen rum.«
»Hör auf damit«, erwiderte Leigh Ann mit einem Lachen. »Sie mögen ihre Outfits, nicht wahr, ihr Lieben? Ihr wisst doch, wie glücklich ihr eure Mommy damit macht.«
Daniel und Leigh Ann hatten sich einer äußerst positiven Medienberichterstattung erfreut, nachdem er für den freigewordenen Sitz im Senat nominiert worden war. Er mochte zuvor der Liebling in der New Yorker State Assembly gewesen sein, plötzlich aber, nach seinem Aufstieg in den US
-Senat, war er ein Politiker von nationalem Rang. Den Journalisten gefiel das Gesamtpaket aus seiner Vergangenheit, seinen politischen Ansichten und seiner Bilderbuchehe mit einer dynamischen und intelligenten Wirtschaftsanwältin. Wenn es bei seiner Vorstellung auf nationaler Ebene zu einem Misston gekommen war, dann durch Leigh Ann.
Eine der Co-Moderatorinnen einer nachmittäglichen Talkshow, Dawn Harper, hatte Leigh Ann gefragt, ob das Paar Kinder einplane. Eine zweite Moderatorin wies Dawn für die taktlose Frage zurecht, worauf Dawn erwiderte: »Was denn? Ich frage doch nur. Dan ist vierzig. Sie sechsunddreißig. Wie steht es, Leigh Ann? Die biologische Uhr tickt doch.«
Aus dem Live-Publikum kam ein Raunen, Leigh Anns Antwort aber sorgte erst richtig für Kontroversen. »Bei allem Respekt, ich habe als Beste meines Jahrgangs an der Columbia University meinen Abschluss in Jura gemacht und stehe kurz davor, in eine der größten Anwaltskanzleien des Landes als Partnerin einzusteigen, ich bin meinem Mann in jeder Hinsicht
ebenbürtig. Das Letzte, was ich brauche, um mich ganz als Frau fühlen zu können, ist ein Kind.«
Manche verteidigten Leigh Anns Kommentar als Widerlegung von Dawns unausgesprochener Annahme, dass sich alle Frauen Mitte dreißig nach Kindern sehnten, viele interpretierten ihn aber auch als Angriff auf alle Mütter und Hausfrauen. Nach vierundzwanzig Stunden, in denen in den Medien der Teufel los war, stellten Dan und Leigh Ann durch ein gemeinsames Interview klar, dass sie alle Eltern – Mütter wie Väter, egal, ob Hausfrau oder Hausmann oder berufstätig – aufrichtig bewunderten, dass sie für sich aber die Entscheidung getroffen hatten, keine Kinder zu haben. Laurie war zu jener Zeit beeindruckt gewesen von ihrer Offenheit bei diesem doch sehr intimen Thema. Und die Fotos, die sie von ihren zwei »verwöhnten Babys«, Ike und Lincoln, mitgebracht hatten, erfüllten ihren Zweck, Leigh Ann in ein besseres Licht zu stellen.
Jetzt konnte Laurie erleben, dass ihre Aussage, sie würden ihre Haustiere wie Kinder behandeln, nicht übertrieben war.
»Ich nehme an, Sie sind für mich bereit?«, fragte Senator Longfellow und rieb sich die Hände.
Leigh Ann erhob sich vom Sofa und gab ihm einen Kuss, bevor er Platz nahm. »Achte darauf, dass sie dich über deine Rechte aufklären«, rief sie ihm auf dem Weg nach draußen noch zu. »Und vergessen Sie nicht, Herr Senator: Du hast gleich nebenan eine Anwältin sitzen, falls du meinst, du müsstest irgendetwas gestehen.«