35
S
obald Laurie und Jerry auf der Rückbank des schwarzen SUV
saßen, der vor Senator Longfellows Wohnung gewartet hatte, klatschte Jerry applaudierend in die Hände. »Das war das erste Mal, dass ich einen Senator und seine Frau kennengelernt habe. Und sie sind wirklich so charmant, wie alle sagen. Einfach umwerfend und so … real. Jetzt verstehe ich den Hype. Wir haben möglicherweise geraden den zukünftigen Präsidenten und seine First Lady getroffen, Laurie!«
»Bevor du sie ins Weiße Haus verpflanzt, sollten wir uns vorher über ihre Beziehung zu Martin Bell unterhalten.«
»Sorry.« Jerry nickte. »Du weißt doch, wenn ich Stars zu Gesicht bekomme, krieg ich mich gar nicht mehr ein. Und sie waren genau wie Filmstars – nur mit mehr Köpfchen. Aber ja, du hast recht. Kein Herumscharwenzeln mehr. Also, wir wissen beide, wir haben die Longfellows nur interviewt, weil Kendra behauptet, ihr Mann habe eine Affäre mit Leigh Ann gehabt, richtig?«
»Korrekt.«
»Und das ist alles bloß eine Vermutung, ja? Keine Hotelquittungen, keine Augenzeugen, die gesehen hätten, wie sie außerhalb der Ehemaligentreffen der Hayden School Händchen gehalten oder sich heimlich geküsst haben.«
»Nichts. Wir wissen nur, sie haben relativ viel Zeit miteinander verbracht, sie haben telefoniert, dazu das intuitive Gespür der Ehefrau, dass er sich mit einer anderen getroffen hat.
«
Jerry zuckte mit den Schultern. »Gut, wir haben also eine sehr plausible Erklärung für ihre Treffen, aber absolut nichts, was Kendras Mutmaßungen stützt.«
Laurie führte den Gedanken fort. »Und Kendra gilt nicht unbedingt als besonders glaubwürdig. Sie behauptet, Martin habe sie – ich zitiere – ›manipuliert‹, allerdings war sie damals nach eigener Aussage nicht in bester Verfassung.«
»Außerdem: Glaubst du wirklich, Leigh Ann würde ihren Mann mit Martin Bell betrügen?« So, wie er Martins Namen aussprach, war klar, dass Leigh Ann seiner Ansicht nach viel zu gut war für den ermordeten Arzt.
»Sieht so aus, als hätten die beiden nicht viel gemeinsam gehabt«, sagte Laurie. »Martin wollte vielleicht aus seiner Ehe raus, wollte aber auch das Sorgerecht für die Kinder behalten. Das hatte für ihn oberste Priorität. Während Leigh Ann …«
»Los, sag es schon«, stichelte Jerry. »Die Frau mag ganz offensichtlich keine Kinder.«
Laurie lächelte. »Na, sagen wir einfach, sie zieht die Gesellschaft von Haustieren vor. Jedenfalls sehe ich sie nicht als Stiefmutter für den kleinen Bobby und die kleine Mindy.«
»Es geht nicht nur um die Kinder. Vergiss nicht, Martin und seine Eltern haben Kendra dazu gedrängt, nach der Geburt der Kinder zu Hause zu bleiben. Martin wollte eine Mutter und Hausfrau, keine toughe Partnerin in einer Anwaltskanzlei. Du hast die beiden zusammen erlebt: Leigh Ann ist allemal die rechte Hand des Senators. Glaubst du, Martin Bell hätte so was gewollt?«
»Die beiden waren wie Feuer und Wasser«, sagte Laurie.
»Genau. Daniel Longfellow hätte nur dann ein Motiv für den Mord an Martin Bell, wenn seine Frau mit ihm wirklich eine Affäre hatte. Das aber kann ich mir nicht vorstellen. Ganz davon abgesehen, dass er ein wasserdichtes Alibi hat. Nicht nur Leigh
Ann kann bezeugen, wo er sich am Abend des Mordes aufhielt. Er kann es mit Quittungen, Fotos, Zeugen belegen.«
Jerry hatte recht. Laurie fühlte sich Kendra gegenüber verpflichtet, jeder potenziellen Spur nachzugehen, und im Fall der Longfellows hatte sie das nun getan. Sie war bereit, den Senator von ihrer Liste mit Verdächtigen zu streichen.
Jerry reckte den Zeigefinger, als wäre ihm plötzlich noch eine Idee gekommen. »Chauffeur, sorry, Planänderung«, platzte er heraus. »Laurie, ich dachte mir, wir könnten als Hintergrundszenerie ein paar Aufnahmen von der Kirche einbauen, in der Martin und Kendra geheiratet haben. Sie liegt mehr oder weniger auf dem Weg zum Studio. Was dagegen, wenn wir kurz vorbeifahren, damit ich mir ein Bild machen kann?«
Sie sah auf die Uhr. Kurz vor fünf. Charlotte hatte sie auf einen Drink nach der Arbeit eingeladen, da Alex wegen einer Konferenz nicht in der Stadt war – aber sie wollten ja nur kurz anhalten. »Klingt gut.«
Jerry nannte dem Chauffeur die Adresse im Theater District. Laurie versuchte sich die ihr bekannten Kirchen in der Gegend ins Gedächtnis zu rufen, die den Ansprüchen der Bells genügen würden, aber es wollte ihr keine einfallen.
»Bald werden wir für solche Fahrten keinen Chauffeurdienst mehr in Anspruch nehmen müssen«, sagte Jerry. »Der Händler meint, er würde noch in dieser Woche meinen Wagen reinbekommen.«
Seit Wochen sprach Jerry von einem BMW
Plug-in-Hybrid, den er sich tatsächlich kaufen wollte. Laurie hielt es für völlig verrückt, in der Stadt einen Wagen zu besitzen, aber sie wusste auch, dass Jerry sehr gern an den Wochenenden im Sommer nach Fire Island fuhr. Statt sich wie eine Sardine in den überfüllten Zug zu quetschen, würde sein erwiesenermaßen »sauberer« Wagen ihm einen Platz auf der Überholspur sichern. Laurie sah ihn schon jetzt vor sich, wie er unter den Klängen
einer sorgfältig zusammengestellten Playlist über den Long Island Expressway brauste.
Als sie in der West 46th Street anhielten und ausstiegen, beschied Jerry dem Chauffeur, dass er nicht auf sie warten müsse. »Jerry«, fiel ihm Laurie ins Wort, »ich dachte, wir bleiben nur ein paar Minuten. Ich muss doch um sechs im Rockefeller Center sein.« Dort, in der Nähe des Studios, wollte sie sich mit Charlotte in der Brasserie Ruhlmann treffen.
»Wir nehmen einfach ein Taxi«, sagte Jerry. Laurie wollte den Chauffeur noch zurückrufen, aber er fuhr bereits los.
»Ich weiß nicht, warum du das machst …«
Jerry legte ihr sacht die Hand auf den Rücken und schob sie vorwärts. Sie konnte weit und breit keine Kirche entdecken.
Nach wenigen Schritten blieb er plötzlich stehen. Er sah sie an, grinste und deutete auf das Schild über dem Lokal vor ihnen.
»Fancy’s«, stand dort in knallig pinkfarbenen Buchstaben. Broadways heißester Männerstrip.
Nein
, dachte sie, das ist nicht wahr.
Die getönte Tür ging auf, und Charlotte und Grace kamen herausgestürmt.
Sie hatten sich pinkfarbene Federboas über die Schultern gestreift. Beide stießen ein kreischendes »Wooooow!« aus und klangen wie Jungesellinnen, die sich um den einzigen Mann in einer der erfolgreichsten Reality-Shows balgten, die die Fisher Blake Studios jemals produziert hatten.
»Das kann nicht euer Ernst sein«, sagte Laurie.
»Los, komm schon«, sagte Charlotte. »Du und Alex, ihr macht so wenig Aufhebens um eure Verlobung. Seit Wochen zerbrechen wir uns den Kopf, daher sind wir zu dem Schluss gekommen, dass du wenigstens einmal eine Nacht unterste Schublade feiern musst.«
»Indem ich wie eine Idiotin zu spärlich bekleideten Männern schunkle? Nicht in tausend Jahren.« Jetzt kapierte Laurie,
warum Grace und Jerry in letzter Zeit so geheimnistuerisch vor ihrem Computer gesessen hatten. Sie hatten diese alberne Veranstaltung zusammen mit Charlotte ausgeheckt.
»Aber ich hab schon einen Typen für den ersten Tanz mit dir bezahlt«, sagte Grace und zog eine Schnute.
Laurie sah zu den drei strahlenden Gesichtern. Das also, beschloss sie, war nun ihre Strafe, weil sie immer so ernst war. Jetzt zwangen sie sie zu diesem hirnlosen »Spaß«.
Nach zwei Schritten in Richtung Tür, nachdem sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, sprangen Charlotte und Grace allerdings auf sie zu und schlossen sie in die Arme. »Drangekriegt!«, rief Charlotte, bevor sie sich mit Jerry und Grace abklatschte. »Super Arbeit, was?«
Jerry lächelte reuevoll. »War nur Spaß, Boss. Sorry.« Dabei faltete er ehrerbietig die Hände.
Laurie war unendlich erleichtert, dass sie nicht in dieses Lokal musste. »Einen Moment, soll das heißen, wir gehen gar nicht aus?«
»Klar doch«, antwortete Charlotte. »Aber nicht hier.«
Jerry und Grace deuteten zur anderen Straßenseite. Don’t Tell Mama hieß das Lokal. Laurie war schon einmal mit Grace und Jerry dort gewesen, es hatte ihr gefallen. Es handelte sich um eine Schummerbar mit Pianomusik, in der es, verglichen mit dem Fancy’s und seinen Tänzern, relativ leise zuging. Manchmal tauchten Broadway-Schauspieler auf und stimmten einen Song an, was jedem Gast freistand.
Ein Tisch nahe der Bühne war für sie reserviert. An einem der Stühle war ein Strauß herzförmiger Ballone gebunden, eine pinkfarbene Federboa auf dem Tisch wartete auf Laurie, damit aber hatte es sich schon mit den Geschmacklosigkeiten. Sobald die Kellnerin ihre Getränkebestellung aufgenommen hatte, enterten Jerry und Grace die Bühne und stimmten für Laurie »Chapel of Love« an
.
»Goin’ to the chapel, and we’re … gonna get married.«
Laurie war ganz gerührt und schmunzelte versonnen. Den Mann, der das Lokal betrat, an der Bar Platz nahm und sie beobachtete, bemerkte sie nicht.