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napp zwei Kilometer von Lauries Verlobungsparty entfernt, in der Praxis von Dr. Steven Carter in der 5th Avenue, im sogenannten Flatiron District, nahm Kendra Bell ihrer Patientin Mrs. Meadows einen in ein Baumwolltuch gewickelten Eisbeutel von der Stirn und legte ihn auf ein Metalltablett. Das hellblaue Tuch war mit winzigen Blutstropfen gesprenkelt. Sie stammten von den Botox-Injektionen, die sich Dr. Carter jetzt besah.
»Sieht wunderbar aus«, sagte er zufrieden mit seiner Arbeit. »Die nächsten zwei Tage werden Sie noch kleine Schwellungen haben, die wie Mückenstiche aussehen, aber dann sind Sie so gut wie neu. Und achten Sie darauf, in den nächsten vier, besser noch, in den nächsten sechs Stunden den Kopf aufrecht zu halten. Und keinen Druck ausüben, also keine Baseballkappen, keine Helme oder Turbane aufsetzen.«
Mrs. Meadows kicherte, wie die meisten Patientinnen. »Aber was mach ich bloß ohne meinen Lieblingsturban?«, scherzte sie.
»Und jetzt zu dem Punkt, der allen am meisten gefällt: in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf keinen Fall Sport. Wir wollen, dass der Wirkstoff im Muskel bleibt und nicht herausgeschwitzt wird.«
»Ach, keine Sorge, Dr. Carter. Ich habe in den letzten vierundzwanzig Jahren kein Fitnessstudio von innen gesehen, geschweige denn in den letzten vierundzwanzig Stunden. Das betrachte ich als eine meiner größten Errungenschaften.
«
Dr. Carter streifte seine Latexhandschuhe ab und warf sie neben den Eisbeutel.
Mrs. Meadows winkte kurz, hüpfte vom Behandlungsstuhl und warf Kendra eine Kusshand zu. »Bis zum nächsten Mal!«
Nachdem sie fort und auf dem Weg zur Rezeption war, um die Rechnung zu begleichen, zog Steven die Tür des Behandlungszimmers zu. Es war ihre letzte Patientin für den Tag, offiziell hatten sie jetzt Feierabend. »Also, worüber habt ihr heute geplauscht?«
Mrs. Meadows gehörte zu ihren liebsten Patientinnen, sie war eine wahre Persönlichkeit. Einige ihrer Patienten standen Kendra sehr misstrauisch gegenüber, zwei hatten sogar darauf bestanden, von einer anderen Assistentin betreut zu werden. Aber für Mrs. Meadows machte der Skandal, der Kendra umgab, sie als Gesprächspartnerin nur umso interessanter.
»Sie hat einen Neuen«, verkündete Kendra. »Diesmal ist er erst zweiunddreißig.« Damit war er noch nicht mal halb so alt wie Mrs. Meadows.
Steven schüttelte den Kopf. »Der arme Kerl, er hat ja keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hat.«
Manche sorgten sich möglicherweise, dass der jüngere Mann die ältere, reiche Witwe ausnutzte, aber Mrs. Meadows war kein Opfer. In ihrem Fahrwasser trieben eine Menge ehemaliger Liebhaber. »Meine große Liebe hatte ich schon«, sagte sie gern. »Jetzt ziehe ich die regelmäßige Abwechslung vor.«
Steven wurde ernst. »Ich wollte das Thema eigentlich gar nicht anschneiden, aber mit dieser Fernsehproduktion ist alles in Ordnung? Ich weiß doch, wie sehr dich das belastet.«
Unwillkürlich wollte Kendra abwiegeln. Ausgehorcht zu werden war nun wirklich das Letzte, was sie brauchen konnte. Aber Steven war ihr immer ein so guter Freund gewesen, außerdem hatte sie jemanden nötig, dem sie sich anvertrauen konnte
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Also entschied sie spontan, was sie für sich behalten und was sie ihm anvertrauen wollte.
»Caroline hat einiges ausgeplaudert, das kein gutes Licht auf mich wirft«, sagte sie.
Steven sah sie finster an. »Aber sie gehört doch mittlerweile so gut wie zur Familie. Wo bleibt ihre Loyalität?«
Kendra winkte ab. »Sie mag mich sehr und steht mir zur Seite. Deshalb hat sie mir auch alles erzählt, was sie der Produzentin gesagt hat.«
»Das wäre?«
»Spielt keine Rolle, ich weiß doch, dass ich unschuldig bin. Letztlich können sie mir nicht viel schaden.« Noch während sie das sagte, um ihn, aber auch sich selbst zu beruhigen, musste sie an das Versprechen denken, das sie dem Mann im Cover gegeben hatte – dem schrecklichen Kerl, den sie nur als Mike kannte. Sie hatte beim Leben ihrer Kinder geschworen, dass die Produzentin von ihm nie erfahren würde. Jetzt aber hatte Caroline verraten, dass Laurie heimlich Geld gehortet hatte und das sogar bis zum heutigen Tag so machte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie nach dem Grund dafür fragen würde.
Dazu kam ihr schrecklicher Ausspruch, den Caroline zitiert hatte: Bin ich endlich frei?
Sie war so unglücklich in dieser Ehe gewesen, so verzweifelt, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Trotzdem gehörte es sich nicht, so etwas zu sagen.
Es war ihr so schlecht gegangen, dass sie ihrem eigenen Ehemann – dem Vater ihrer Kinder – den Tod gewünscht hatte. Sie wollte es kaum glauben, aber sie erinnerte sich genau an ihre Worte. Dieser Ausspruch sowie das Geld, für das es keine Erklärung gab, verbunden mit eventuellen negativen Zeugenaussagen, die die Polizei zusammentragen konnte, würden ausreichen, um sie lebenslang hinter Gitter zu bringen. Bobby und Mindy würden von gefühlskalten Großeltern aufgezogen werden, die sie zu Ebenbildern ihrer selbst machen wollten
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Das konnte sie nicht zulassen. Sie würde Mike aus dem Cover jede Summe zahlen, damit er bis ans Ende aller Tage Stillschweigen bewahrte.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Stevens Blick bemerkte, in dem nichts als Verehrung lag.
»Ich kann dir gar nicht genug danken für alles, was du für mich und die Kinder getan hast, Steven.«
»Ich würde alles für dich tun, Kendra. Ich liebe dich.« Es war ihm anzusehen, dass er von seinen eigenen Worten überrascht war. »Als würdest du zu meiner Familie gehören«, fügte er schnell hinzu und umarmte sie flüchtig, bevor er die Tür öffnete und sie allein ließ.
Sie wusste, dass seine Gefühle tiefer gingen, aber der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte – so lächerlich das auch klang –, war Martin Bell gewesen. Allerdings zu einer Zeit, als sie ihn noch nicht wirklich gekannt, bevor er sich so verhalten hatte, als wäre sie sein Eigentum. War es möglich, dass sie mit Steven noch einmal Liebe und Vertrauen erleben konnte?