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L aurie sah auf ihre Uhr. Schon neun. Sie hatten sich in der Pianobar wunderbar amüsiert und darüber die Zeit ganz vergessen.
Sie wollte nach der Rechnung winken, aber Charlotte unterband das sehr entschieden. »Erstens, eine zukünftige Braut zahlt nicht für ihre Party. Und zweitens kannst du noch nicht gehen. Ich habe zufällig mitbekommen, dass das Pärchen dort drüben den Klavierspieler gebeten hat, ›Schadenfreude ‹ aus dem Musical Avenue Q zu spielen. Und so, wie ihre Augen funkeln, denke ich mir, dass sie irgendwas Lustiges vorhaben.«
»Es hat wahnsinnig Spaß gemacht, und ich würde gern noch bleiben, aber ich muss zu Timmy nach Hause.«
»Ich dachte, dein Dad passt heute Abend auf ihn auf«, sagte Charlotte.
»Nein. Er musste kurzfristig zu irgendeinem Dinner. Timmy ist bei einem Freund, mit dem er an einem Schulprojekt arbeitet, bei ihm hat er auch zu Abend gegessen. Wir haben ausgemacht, dass die Eltern ihn um halb zehn zu unserer Wohnung begleiten, ich muss mich also wirklich sputen.«
»Die gute Mom«, sagte Charlotte nur, umarmte sie und verlangte nach der Rechnung.
Nachdem Charlotte auch die Versuche von Grace und Jerry abgeschmettert hatte, sich an der Rechnung zu beteiligen, packte Laurie ihre Geschenke in die Reisetasche, die sie von Charlotte bekommen hatte. Die Tasche aus dickem, weichem Leder war das neueste Accessoire in der Ladyform-Produktlinie. Charlotte hatte ausdrücklich betont, dass sie für die Flitterwochen gedacht sei, aber heute Abend musste sie für den Transport der Geschenke herhalten. Sosehr sich Laurie auch über die Tasche freute, ihr liebstes Geschenk war das gerahmte Foto von sich und Alex. Es zeigte sie beide auf dem Set der ersten Folge ihrer Sendung. Ihre Beziehung war damals noch rein beruflich gewesen, trotzdem hatte die Kamera bereits eingefangen, welche Gefühle sie füreinander empfanden.
Zum Schluss stopfte sie an der Seite auch noch ihre Aktentasche hinein. »Das Ding ist riesig«, sagte sie und ließ alle sehen, wie ordentlich sie ihre Habseligkeiten in der Tasche untergebracht hatte.
Sie hatten sich gerade von den Stühlen erhoben, als der Klavierspieler die nächste Nummer ankündigte. Es war tatsächlich der von Charlotte vorhergesagte Song aus Avenue  Q . Zwei Tische weiter sprang ein begeistertes Pärchen auf und begab sich unter dem Gejohle ihrer Freunde auf die Bühne. Flehend sah Charlotte zu Laurie.
»Im Ernst, ich muss los. Aber bleibt ihr ruhig.« Sie hängte sich die Reisetasche über die Schulter und gab damit zu verstehen, dass sie das Ungetüm schon allein zum Taxi schaffen konnte.
Charlotte ließ sich wieder nieder und bedeutete Jerry und Grace, ebenfalls zu bleiben. Sie winkte Laurie noch einmal hinterher und rief ihr ein »Gute Nacht« zu, während der Klavierspieler das Lied anstimmte.
Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte Laurie, wie ihre Tasche gegen jemanden an der Theke stieß. In der lauten Musik rief sie dem Thekengast eine Entschuldigung zu.
Draußen auf der 46th Street stand sie dann mit dem Rücken zur Tür und hielt nach einem Taxi Ausschau. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie vor Timmy zu Hause sein wollte – um diese Zeit war es im Theater District nicht immer leicht, ein freies Taxi zu finden. Sie dachte schon daran, einen Uber- Wagen anzufordern, aber ihr Handy steckte in ihrer Aktentasche, die sich wiederum in der riesigen Reisetasche auf ihrer Schulter befand. Und sie wollte ihre wundervolle neue Tasche auf keinen Fall auf den Bürgersteig abstellen.
Als sie die beleuchtete Nummer eines näherkommenden Taxis erkannte, entspannte sie sich, trat zwei Schritte zum Bordstein und hob rasch die Hand. Bitte , dachte sie, lass das nicht die Nacht sein, in der irgendein Blödmann aus dem Nichts auftaucht und mir mein Taxi vor der Nase wegschnappt .
Dann nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr, sie streckte die Hand noch höher, und das Taxi wurde langsamer.
Und dann ging alles ganz schnell. Ein harter Schlag, der sich anfühlte, als wäre sie von einem Profi-Footballer gerammt worden. Bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, lag sie schon auf der Straße und schrammte mit der linken Wade über den rauen Beton. Sie schrie auf, als sie die Scheinwerferlichter auf sich zukommen sah. Dann quietschten die Reifen, und abrupt hielt das Taxi nur wenige Zentimeter vor ihr an.
Sie rappelte sich auf, bemerkte, dass sie einen ihren Slingpumps verloren hatte. Und ihre Tasche war weg. Fast gleichzeitig entdeckte sie einen Typen in einer schwarzen Hose und einem Hoodie, der mit ihrer Tasche in der Hand in Richtung 8th Avenue rannte.
»Haltet ihn auf! Haltet ihn auf!«, schrie sie. »Er hat mir meine Tasche geklaut!«
Der Taxifahrer war mittlerweile ausgestiegen und erkundigte sich, ob sie verletzt sei. Eine Frau blieb stehen, hob Lauries Schuh auf und reichte ihn ihr. Andere Passanten gingen einfach vorüber und taten so, als hätten sie nichts gesehen. Keiner hatte versucht, den Typen aufzuhalten, der von der Frau mit der lächerlichen pinken Federboa davonrannte.
»Bitte, können wir ihm hinterher?«, fragte Laurie den Taxifahrer .
Er hob nur beide Hände und wehrte ab. »Das ist Aufgabe der Polizei, Ma’am«, entgegnete er. »Ich hab Frau und fünf Kinder. Ich kann mir nicht erlauben, den Helden zu spielen.«
Sie nickte nur und musste auch noch mit ansehen, wie ein Passant in einem gut geschnittenen Anzug auf der Rückbank des Taxis einstieg, das doch eigentlich ihres sein sollte.