40
L
aurie lehnte die Hilfsangebote mehrerer Passanten ab. Ohne Aktentasche, ohne Handtasche stolperte sie in die Pianobar zurück. Noch bevor sie Charlotte und den anderen erzählen konnte, was passiert war, trafen mehrere Polizisten ein. Jemand musste sie verständigt haben.
Laurie fühlte sich nie recht wohl, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, jetzt aber sah eine ganze Bar dabei zu, wie sie auf einem Barhocker saß und mit einer immer größer werdenden Zahl von Polizisten sprach.
»Sie sind verletzt«, bemerkte einer von ihnen. »Sie wollen sich wirklich nicht in der Notaufnahme behandeln lassen?« Er deutete auf den Eisbeutel, den sie gegen ihre aufgeschürfte Wade drückte.
»Alles in Ordnung, wirklich. Ich bin nur … ein bisschen durch den Wind. Der Taxifahrer hätte mich überfahren können. Gott sei Dank hat er so schnell reagiert.«
Ein weiterer Polizist traf ein, ein Lieutenant nach dem Rangabzeichen auf den Schultern. Ihre Mutmaßungen wurden jetzt bestätigt. Jemand hatte einen Zusammenhang zwischen der Betroffenen und dem ehemaligen Stellvertretenden Polizeichef Leo Farley hergestellt.
Der Neuankömmling stellte sich als Lieutenant Patrick Flannigan vor. »Es tut mir sehr leid, dass Ihnen so was in unserem Revier passiert ist.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen … außer Sie führen ein Doppelleben als Straßenräuber«, erwiderte sie lächelnd. »Aber
ich werde meinem Vater mit Sicherheit ausrichten, dass Sie innerhalb von zwei Minuten da waren.«
»Leider habe ich von meinen Leuten gehört, dass wir nicht schnell genug da waren, um den Täter zu fassen. Wir haben nur eine Zeugin, nach deren Aussage sich jemand mit einer großen Tasche an ihr vorbeidrängte, aber sie hat ihn nicht richtig sehen können. Anscheinend ist er in der Menge untergetaucht. Aber wir werden die Bilder der Überwachungskameras auswerten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte eine Kapuze hochgezogen. Ich weiß nicht, ob Sie ihn finden werden.«
Flannigan winkte den Barkeeper heran. »Sind Ihnen Gäste aufgefallen, die zur selben Zeit wie die Dame aufgebrochen sind?«
Der Barkeeper blinzelte und dachte nach. »Möglich. Da war so ein Typ – genau da, wo Sie jetzt sitzen«, sagte er zu Laurie. »Johnnie Walker Black – einige. Aber mehr kann ich zu ihm nicht sagen.«
»Haben Sie seine Kreditkartenabrechnung?«, fragte Flannigan.
»Hat bar bezahlt. Ich hab auch schon einem von Ihren Leuten gesagt, dass wir keine Kameras und so was haben. Das alles ist ganz schrecklich. So was kommt bei uns eigentlich nicht vor. Die Leute wollen sich hier einfach nur amüsieren.«
Laurie hörte Grace, die ein paar Meter weiter gegenüber Charlotte und Jerry einen Witz über den Stripperschuppen auf der anderen Straßenseite riss, während sie selbst mit Charlottes Handy ihre Kreditkarten sperren ließ. Einige Polizisten schienen das Gelächter zu missbilligen, aber Laurie tat es gut. Sie wollte sich einreden, dass alles ganz normal sei, trotzdem ging ihr die Frage nicht aus dem Kopf, ob der Überfall etwas mit den Martin-Bell-Ermittlungen zu tun hatte.
»Kann ich Sie was fragen, Lieutenant? Kommt es häufig vor, dass in dieser Gegend Passanten überfallen werden?
«
Er seufzte. »Ich wünschte, ich könnte sagen, es passiert nie, aber wir sind in New York City. Alles kann passieren, jederzeit. Laut Statistik handelt es sich hier aber um eine ziemlich ruhige Gegend, vor allem um diese Tageszeit. Um zwei, drei Uhr morgens, da sieht es anders aus. Der Barkeeper hat recht, wenn er sagt, dass so was nur selten vorkommt. Fragen Sie aus einem bestimmten Grund?«
»Ich bin Fernsehproduzentin. Meine Sendung Unter Verdacht
greift alte …«
»Ich kenne Ihre Sendung, Ms. Moran. Sie leisten gute Arbeit.«
»Danke, und nennen Sie mich bitte Laurie. Wir sind im Moment mitten in einer Produktion.« Sie senkte die Stimme. »Es geht um den Martin-Bell-Fall.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist eine große Nummer. Ich bin mit den Einzelheiten nicht vertraut, aber ich dachte immer, der Fall wäre mehr oder weniger zu den Akten gelegt.«
»Fast. Und um ehrlich zu sein, wir haben bislang auch nicht die Fortschritte erzielt, die ich mir gewünscht hätte. Aber wir haben hier und da unsere Nachforschungen angestellt und einiges aufgestöbert. Meine Aktentasche mit meinem Laptop und meinen Notizen waren in der gestohlenen Tasche.«
»Haben Sie jemand Bestimmtes im Sinn?«
Sie ging die Möglichkeiten durch. Kendra war es definitiv nicht gewesen. Sie hatte zwar das Gesicht des Täters nicht gesehen, aber nach seiner Statur und den Bewegungen war er eindeutig ein Mann. Senator Longfellow war wahrscheinlich zehn Zentimeter größer als der Typ, den sie davonlaufen sah, außerdem kam er als Verdächtiger sowieso nicht infrage. George Naughten andererseits war kleiner und stämmiger, außerdem hielt sie ihn kaum für so fit, dass er sie umstoßen und so schnell vom Tatort wegspurten könnte.
Kurz zog sie in Betracht, dass die Statur des Täters auf Kendras Chef, Steven Carter, zutreffen könnte. Ja, denkbar, aber
wie hätte er wissen können, wo sie sich an dem Abend aufhielt? Wenn es sich nicht um einen zufälligen Raubüberfall handelte, musste der Täter ihr seit Stunden gefolgt sein.
Nein, von allen, die auf dem Whiteboard in ihrem Büro aufgeführt waren, ergab nur einer Sinn – und von ihm hatte sie noch nicht mal einen Namen: Kendras mysteriöser Begleiter aus dem Cover. Sie erinnerte sich an die Beschreibung der Frau aus der Kellerbar: tough aussehend, kahl geschorener Schädel, fieser Blick.
Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen, als er sie auf die Straße gestoßen hatte, trotzdem meinte sie, sich seine kalten Augen vorstellen zu können.