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ünfzehn Straßen weiter, in der Toilette eines Starbucks, ließ Lauries Angreifer die Ereignisse des Abends noch einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen.
Ich hätte die Finger vom Scotch lassen sollen
, dachte er. Er macht mich fies, jeder hat das gesagt, damals, als es noch Menschen in meinem Leben gab, denen an mir gelegen war.
Heute Abend hatte er dumm und impulsiv gehandelt, obwohl er klug und methodisch hatte vorgehen wollen. Er hatte ohne nachzudenken gehandelt. Jetzt saß er hier mit einer ganzen Tasche voll mit ihren Dingen.
Die »Gag-Geschenke« des Abends hatte er schon durchgesehen: ein »I Do«-T-Shirt fürs Fitnesstraining, eine Kaffeetasse mit der Aufschrift »Ich hab mich getraut« und einige nicht ganz jugendfreie Anstecker zum Thema Hochzeit.
Ihr Handy war für ihn nutzlos, da es die Eingabe eines Passworts verlangte, das er nicht kannte. Nachdem er in der Menge auf dem Times Square untergetaucht war, hatte er sich in die Toilette bei McDonald’s geflüchtet, hatte die Reisetasche durchwühlt und war dabei auf das Handy gestoßen. Er hatte es ausgeschaltet und in den Müll geworfen. Anfängerfehler, wenn er mit einem nachverfolgbaren Handy aufgespürt würde.
Ihr Laptop war zum Glück nicht geschützt.
Er war ihren Kalender und ihre neuesten Mails durchgegangen und hatte nach eventuell relevanten Informationen gesucht. In ihrem Posteingang lagen mehrere Nachrichten von einer Immobilienmaklerin namens Rhoda Carmichael, angehängt
waren Fotos von Luxuswohnungen und Beschreibungen der vielfältigen Annehmlichkeiten von Fünf-Sterne-Wohnanlagen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hatte er sich ebenfalls solche Wohnungen leisten können. Nach den Mails von Ms. Carmichael hatte er den Eindruck, dass sie es kaum erwarten konnte, Laurie und ihrem Verlobten so schnell wie möglich eine Wohnung anzudrehen.
Waren sie dort erst einmal eingezogen, würde es noch schwieriger werden, an Laurie ranzukommen. Immerhin heiratete sie einen Bundesrichter. Der ehrenwerte Richter Buckley genoss dann nicht nur am Gericht, sondern auch privat bei sich zu Hause erhöhte Sicherheitsvorkehrungen. Bis dahin aber lebte Laurie in ihrer eigenen Wohnung, ohne dieses ganze Brimborium.
Dann hatte er ihre Aufzeichnungen in ihrem Notizbuch durchgesehen. Bei den neuesten Einträgen ging es um Daniel und Leigh Ann Longfellow. Kurz überlegte er, wie viel Geld er machen könnte, wenn er diese Seiten an die Boulevardpresse verkaufte, bis ihm klar wurde, dass durch so eine Aktion seine Anonymität gefährdet würde. Daher tröstete er sich damit, dass er Informationen zu Gesicht bekam, die nur wenigen zugänglich waren.
Nach allem, was er hier las, hatte Laurie so einige Theorien zum potenziellen Täter, aber keine Beweise, wer Dr. Martin Bell wirklich ermordet hatte.
Er klappte den Laptop und das Notizbuch zu und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Kristallrahmen in der türkisblauen Verpackung. Er zerrte den Rahmen heraus, drehte ihn um und zog das Foto heraus, zerriss es in kleine Fetzen und spülte sie in der Toilette hinunter. Er sah zu, wie die Hochglanzschnipsel im Wasserstrudel in den Abfluss hinuntergesogen wurden.
Dann stopfte er den Inhalt der Tasche in den Müll und bedeckte alles mit Papierhandtüchern. Der Müllbeutel würde ein
wenig schwer erscheinen, wenn er am Abend nach draußen getragen wurde, aber er hatte die Tasche nicht umsonst fünfzehn Straßen weit geschleppt. Hier war er außerhalb jedes erdenklichen Suchradius der Polizei. Und kein Angestellter einer Coffeeshop-Kette in New York City würde aus Neugier den Müll der Toilette durchwühlen.
Die Lederreisetasche allerdings war ein Problem. Sie war einfach zu groß, sie passte in keinen Mülleimer. Er schlang sie sich über die Schulter und ging mit gesenktem Kopf zur Straße hinaus. Als er an einem schlafenden Obdachlosen neben einem Pappkarton vorbeikam, der seine sämtlichen Besitztümer zu enthalten schien, ließ er ihm die Tasche als Geschenk da, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass keiner seine gute Tat bemerkte.
Und jetzt?
, fragte er sich. Er überlegte, zur 46th Street zurückzukehren, um seinen SUV
abzuholen, aber das erschien ihm zu riskant. Die Polizei observierte vielleicht noch die umliegende Gegend. Er würde mit der U-Bahn nach Hause fahren und am Morgen den Wagen holen. Bis dahin müsste die Polizei längst verschwunden sein.
Als er die Treppe zur Linie Q hinunterstieg, dachte er wieder an Lauries umfangreiche Notizen zu ihren jüngsten Ermittlungen. Sie würde tot sein, bevor sie den Fall gelöst hatte; dessen war er sich sicher. Er musste nur die passende Gelegenheit finden. Das nächste Mal würde ihm nicht mehr so ein dummer Fehler unterlaufen.