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A
m darauffolgenden Nachmittag spürte Laurie, wie ihre neue weite Hose über die Abschürfung am Bein streifte. Laut der Bloomingdale-Verkäuferin war der Baumwoll-Nylon-Stoff »etwas, was einem Pyjama am nächsten kommt«, im Moment fühlte sich die schwarze Hose auf der offenen Wunde aber wie Sandpapier an. Laurie spürte immer noch, wie sie mit der Haut über den rauen Boden auf der 46th Street geschrammt war. Natürlich hätte sie ein Kleid tragen können, aber sie wollte nicht, dass Timmy ihre Verletzung zu sehen bekam. Also hatte sie beschlossen, den Vorfall herunterzuspielen, und ihm nur erzählt, dass jemand ihre Aktentasche geklaut hatte, als sie mit Charlotte aus gewesen war. Sie hielt sich zugute, immer ehrlich zu ihrem Sohn zu sein, aber er hatte schon seinen Vater durch eine Gewalttat verloren, sie musste ihm nicht noch unnötig Angst einjagen.
Den Morgen hatte sie mit Grace im Apple Store verbracht und Ersatz sowohl für ihr Handy als auch für ihren Laptop beschafft. Grace hatte zum Glück von allem ein Back-up in der Cloud angelegt, die Zauberer in der Genius Bar hatten ihr daher bis Mittag alles wieder wie gewohnt eingerichtet. Sie würde noch ein paar Tage auf ihre neuen Kreditkarten und den Führerschein warten müssen, im Großen und Ganzen aber fühlte sich alles fast wieder normal an. Nur um den wunderschönen Kristallrahmen mit dem Foto von Alex und ihr tat es ihr wirklich leid.
Sie hörte ein leises Klopfen, dann spähten Jerry und Grace
herein. Sie hatte ein Treffen anberaumt, um den Terminplan für die Produktion der Martin-Bell-Sendung festzulegen. Zu ihrer Überraschung hatte Ryan vorgeschlagen, dass sie schon mal loslegen und ihn nur dann dazurufen sollten, wenn sie meinten, er könnte ihnen eine Hilfe sein.
»Bereit?«, fragte Grace.
»Natürlich.«
Ihre beiden Mitarbeiter kamen zusammen zur Tür herein. Auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen war Grace exakt so groß wie Jerry. Beide brachten jeweils einen vertrauten Gegenstand mit. Jerry eine Lederreisetasche von Ladyform, Grace eine türkisblaue Schachtel mit Seidenband.
»Ach, ihr«, entfuhr es Laurie. »Das ist zu viel.«
Sie nahm von Grace die Schachtel entgegen, löste das Band und fand darin einen Kristallrahmen mit dem gleichen Foto, das am Abend zuvor gestohlen worden war. »Ich kann das nicht schon wieder annehmen.«
Jerry stellte die Tasche auf einen der Gästestühle und nahm am Konferenztisch Platz. »Kein schlechtes Gewissen, bitte. Die Geschäftsführerin bei Tiffany hat darauf bestanden, dass wir einen neuen Rahmen als Ersatz annehmen, nachdem ich ihr erzählt habe, was gestern vorgefallen ist«, sagte Jerry.
»Und die Tasche?«, sagte Grace. »Ich mag Charlottes Unternehmen wirklich sehr, Laurie. Aber weißt du, welche Gewinnspannen die bei solchen Artikeln haben? Glaub mir: Deine Freundin kann sich eine zweite Tasche leisten.«
Laurie betrachtete das Foto und lächelte. Aber allein bei dem Gedanken, dass irgendein Dieb – oder Schlimmeres – dieses Bild in den Händen gehabt hatte, wurde ihr übel. Sie stellte sich einen abgerissenen Typen vor, der es verächtlich zur Seite warf, während er die Tasche nach wertvolleren Sachen durchwühlte.
Sie stellte es neben ihren Monitor, zwischen das Foto von
ihnen beiden mit Timmy und Leo und das von sich mit Timmy und Greg. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die drei Fotos zusammengehörten.
Eine Dreiviertelstunde später hatten sie einen ersten Plan für die nächste Folge von Unter Verdacht
erstellt. Ryan würde die frühe Phase der Beziehung zwischen Martin und Kendra erläutern, unterlegt von Filmmaterial von der Universität, in der sie sich kennengelernt hatten, der Kirche, in der sie getraut wurden, und der Remise, vor der er schließlich erschossen worden war.
Sie hatten bislang unterzeichnete Teilnahmeerklärungen von Kendra Bell sowie von Martin Bells Eltern. Es war vorherzusehen, dass die Bells mit dem Finger auf Kendra zeigen würden, während sich Kendra als die missverstandene Mutter und Gattin präsentierte. Allerdings hatten sie neue Informationen, die sie vor der Kamera präsentieren konnten. Ryan als Moderator würde Kendra ins Kreuzverhör nehmen und sie mit der Tatsache konfrontieren, dass Martin die Scheidung geplant hatte und das Sorgerecht für die Kinder haben wollte.
»Vergiss nicht die Informationen der Kinderfrau«, bemerkte Jerry.
Grace hielt es nur mit Mühe auf ihrem Stuhl, als Caroline Radcliffe erwähnt wurde. »Wofür gibt Kendra das viele Geld aus, und welche Frau sagt schon ›bin ich endlich frei?‹, wenn ihr Mann gerade erschossen wurde? Sorry, aber für mich ist die Sache ziemlich klar. Die Lady hat einen Auftragskiller angeheuert, um Martin Bell aus dem Weg zu räumen, und jetzt muss sie zahlen, damit er den Mund hält. Fall gelöst.«
Jerrys Miene gab deutlich zu verstehen, dass er mit ihrer Einschätzung übereinstimmte.
Laurie versuchte sich auf die einzelnen Szenen der geplanten Produktion zu konzentrieren, aber immer wieder kam ihr
der Überfall in der vergangenen Nacht dazwischen. Vielleicht hat Kendra den Auftragskiller auch auf mich angesetzt
, dachte sie. Sie verscheuchte den Gedanken und sagte sich, dass es einfach nur ein Raubüberfall gewesen war.
Das Klingeln ihres Bürotelefons riss sie aus ihren Gedanken. Grace erhob sich bereits und ging ran. »Büro Laurie Moran.« Kurz darauf verkündete sie, dass George Naughten dran sei. Laurie nahm den Hörer von ihr entgegen.
Jerry und Grace sahen sie erwartungsvoll an, während sie aufmerksam Naughten lauschte. Er hatte nach ihrem Besuch mit seinem Psychiater gesprochen, und dieser hatte ihm geraten, der Sendung bei den Nachforschungen zu helfen. »Es wäre für mich eine Gelegenheit, über Ma zu reden – im Fernsehen, vor einem großen Publikum. Über den Autounfall und was Dr. Bell mit seiner sogenannten Behandlung bei ihr angerichtet hat.«
»Das wäre toll«, erwiderte Laurie mit gespieltem Enthusiasmus. Ursprünglich hatte George zu den ersten Verdächtigen gehört, er war jemand, der berechtigten Groll auf das Opfer gehabt hatte und im Besitz einer Waffe gewesen war. Nach dem Treffen am Vortag aber waren ihr Zweifel gekommen. Und jetzt rief er an, weil er an der Sendung teilnehmen wollte. Wenn sie raten müsste, würde sie sagen, er wollte bei seinem Fernsehauftritt nur seinen Zorn über diejenigen loswerden, die er für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte. »Es geht im Grunde also um das, was Sie uns gestern erzählt haben?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er entschieden. »Es gibt da noch etwas – etwas, was ich noch nie jemandem erzählt habe.«
Sie horchte auf, auch Grace und Jerry bemerkten, dass sich am anderen Ende der Leitung etwas verändert haben musste. »Können Sie mir sagen, worum es genau geht?«
»Nein. Ich kann es Ihnen nur erzählen, wenn ich von der Verschwiegenheitserklärung entbunden werde.
«
»Wie ich Ihnen schon sagte, George, wir brauchen die Einzelheiten Ihrer Klage gegen Dr. Bell gar nicht zu erfahren.«
»Gehen Sie darauf ein, oder lassen Sie es bleiben. Das sind meine Bedingungen. Ich habe etwas, was Sie unbedingt wissen wollen – glauben Sie mir –, aber nicht, solange die Verschwiegenheitserklärung für mich gilt.«
Sie kniff die Augen zusammen. Ihrer Überzeugung nach wollte George seine seit Jahren aufgestaute Wut loswerden, und nichts davon würde irgendetwas mit dem Mord an Martin Bell zu tun haben. Andererseits gehörte zu ihrer Arbeitsweise nun mal, auch wirklich jeden Stein umzudrehen. Er wollte von der Verschwiegenheitserklärung entbunden werden, und Martin Bells Eltern konnten das bewirken. Auch sie wollten, dass der Mord an ihrem Sohn aufgeklärt wurde.
»Ich denke, wir kriegen das hin«, sagte sie schließlich.
Später, als sie allein in ihrem Büro war, rief sie Martin Bells Eltern an und hinterließ eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf.
Als ihr Blick auf die Fotos auf ihrem Schreibtisch fiel, verspürte sie den Wunsch, zu Hause im Kreis ihrer Familie zu sein. Der vergangene Abend hatte sie mehr erschüttert, als sie zugeben wollte. Aber Alex war in Washington, D.C., Timmy war in der Schule, und ihr Vater saß in einer für den gesamten Tag anberaumten Konferenz der Antiterror-Abteilung auf Randall’s Island.
Ich bleibe noch eine Stunde
, überlegte sie, und gehe dann früher, kaufe ein, zahle bar, so wie früher, und hab noch genug Zeit, um meinen Sohn von der Schule abzuholen. Und den Abend werden wir gemeinsam verbringen. Nur wir zwei, solange das noch möglich ist.