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A
m folgenden Tag machte Jerry im spätmorgendlichen Verkehr einen ganz zufriedenen Eindruck am Steuer des Pkw, den sie für die Fahrt nach Rosedale in Queens gemietet hatten. Er hatte einen Mietwagen vorgeschlagen, damit sie ungestört über den Fall reden konnten, ohne auf einen Chauffeur Rücksicht nehmen zu müssen, der sie eventuell belauschen könnte. Laurie vermutete allerdings, dass er es kaum erwarten konnte, bis er seinen eigenen Wagen bekam. Tatsächlich konnte er sich beim Einsteigen nicht verkneifen, ihnen mitzuteilen, dass er nach der Arbeit endlich seinen neuen BMW
abholen würde.
Im Radio lief Adeles jüngster Hit. Jerry stimmte mit ein, während Grace auf dem Rücksitz einträchtig mitsummte. Von wegen über den Fall reden
, dachte sich Laurie.
In George Naughtens Straße war niemand zu sehen. Sie waren hier, weil sie hören wollten, was er ihnen über seine Klage gegen Martin Bell zu erzählen hatte. Laurie hatte Martins Eltern überreden können, die Verschwiegenheitserklärung aufzuheben, die Naughten beim Vergleich unterzeichnet hatte. Natürlich waren sie darauf bedacht, den Ruf ihres Sohnes als Arzt zu wahren, aber Laurie hatte sie überzeugen können, dass sie nur dadurch Naughtens angebliche Geheimnisse erfahren würden.
Jerry hielt vor Naughtens Haus, der Produktionswagen folgte direkt hinter ihnen. Und ein dritter Wagen hielt ihnen gegenüber auf der anderen Straßenseite. Leo stieg aus und legte die Parkerlaubnis der Polizei aufs Armaturenbrett. Nach dem Vorfall am Montagabend ließ er Laurie nicht ohne zusätzlichen
Schutz zu einem Treffen mit einem rechtskräftig verurteilten Stalker. Er hatte versprochen, »sich bedeckt zu halten«, und war daher getrennt von ihnen gekommen, hatte aber seine Waffe im Schulterholster unter seinem Sakko stecken.
Laurie drehte das Radio leiser und sah zu Ryan.
»Alle bereit?«, fragte sie.
Er hob den Daumen. Am Morgen waren sie alle denkbaren Szenarien durchgegangen, mit denen sie rechnen müssten.
»Wenn man in der Gegend wohnt, hat man wenigstens nicht weit zum JFK
-Flughafen«, sagte Jerry, als er sich aus dem Fahrersitz schälte und ein Flugzeug über ihm in den Himmel aufstieg.
»Das gilt auch für Lakeview«, sagte Grace. »Ich bin da großgeworden, bevor meine Eltern umgezogen sind.«
»Hoffentlich sind sie nie mit Mama Naughten aneinandergeraten. Du weißt, wie wütend George wird, wenn man sich mit ihr anlegt«, scherzte Jerry.
»Oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der sich mit ihr angelegt hat.«
Laurie gab ihnen zu verstehen, das Geplänkel sein zu lassen, während sie sich dem Haus näherten.
Wie bei ihrem letzten Besuch steckte George Naughten erst den Kopf aus der nur einen Spaltbreit geöffneten Tür und blinzelte argwöhnisch zu den vielen Leuten, die sich vor seinem Haus versammelt hatten.
»Hallo, George. Laurie Moran von Unter Verdacht
«, begrüßte sie ihn, obwohl sie überzeugt war, dass er sie erkannte.
»Ach ja, okay«, sagte er und bedeutete ihnen einzutreten. »Ich hab nur nicht so viele erwartet.«
»Na ja, wir wollen alles aufzeichnen, und dafür sind die Leute nötig.«
Laurie stellte ihre Crew vor, die schon mal anfing, im Wohnzimmer alles aufzubauen. Sie hatten für den dunklen Raum extra Scheinwerfer mitgebracht, und bald sah es fast aus wie
in einem richtigen Studio. George, der dasselbe T-Shirt und dieselbe Jogginghose wie beim letzten Mal trug, beobachtete alles mit weit aufgerissenen Augen.
»Es gibt keinen Grund, nervös zu werden, George«, beruhigte Ryan ihn freundlich.
Ryan hielt Naughten die übliche Teilnahmeerklärung samt Stift zur Unterschrift hin. Naughten warf nur einen kurzen Blick auf die Bedingungen, bevor er unterschrieb. Das Dokument gewährte den Fisher Blake Studios Exklusivrechte an der Verwertung und Bearbeitung sämtlichen Filmmaterials. Sie erwarteten, dass George seinen Unmut gegen Martin Bell freien Lauf ließ, aber sie waren nicht verpflichtet, es zu senden.
»Ich würde gern in meinem Sessel sitzen«, sagte George und ging schon zu seinem La-Z-Boy.
Sofort war Leo am Sessel und klopfte ihn schnell auf irgendwelche versteckten Waffen ab. »Ich will nur sicherstellen, dass nichts da ist, was sich nicht mit unserer Ausrüstung verträgt«, murmelte er als Erklärung.
George Naughten, anscheinend zufriedengestellt, machte es sich bequem. Einer der Assistenten befestigte ihm ein Mikro am T-Shirt.
Nachdem die Kameras positioniert waren, begannen sie zu drehen.
»Fangen wir mit den Ereignissen an, die zu der Klage geführt haben«, sagte Ryan. »Wie fanden Sie die Behandlung Ihrer Mutter durch Dr. Martin Bell?«
»Ach, Ma, sie war ja immer so eine Draufgängerin«, antwortete er wehmütig. Kurz dachte er nach, dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, das erste, das Laurie bei ihm bislang gesehen hatte. »Wissen Sie, einmal wollte sie mit dem Rad durchs ganze Land fahren. Von New York bis nach Kalifornien! Sie war dreiundsechzig, als sie sich diese verrückte Idee in den Kopf gesetzt hat. Sie hat ein richtiges Trainingsprogramm
durchgezogen, hat am Montag und am Mittwoch immer ihr Power-Walking gemacht, und am Dienstag und Donnerstag ist sie im Stadtteilzentrum zum Schwimmen gegangen. Ich hab ihr versprochen, dass ich ihr ein gutes Rad kaufe, was Zuverlässiges, das nicht schon in Tennessee oder in Kansas den Geist aufgibt.
Aber dann geschah der Unfall, und alles war anders. Erst haben die Ärzte gesagt, ›ach, ist doch bloß ein leichter Unfall, bloß ein Blechschaden, wir wollen doch nicht übertreiben‹. Aber der ›Blechschaden‹, das war der Anfang vom Ende. Klar, es hat immer wieder Tage gegeben, da war alles okay, da war sie ganz die Alte. Aber eigentlich bin ich zwei Jahre lang morgens aufgewacht, weil Ma vor Schmerzen im Bett geweint hat. Als sie dann bei Dr. Bell war, da war es mit den Tränen vorbei, die Schmerzen waren weg. Aber die Medikamente haben sie richtig ausgehöhlt – sie war nur noch eine leere Hülle. Wie ein Zombie. Und dann hab ich sie hier auf dem Boden gefunden.« George zeigte zur Küche.
Laurie war bereits in groben Zügen mit den Vorwürfen vertraut, die er gegen den Arzt vorbrachte, hatte aber nie von George selbst gehört, mit welchen Beeinträchtigungen seine Mutter zu kämpfen gehabt hatte. Wie ein Zombie.
Der Satz fand sich auch in seiner Klageerhebung, und genau so hatte auch Caroline Radcliffe Kendra Bell gegen Ende ihrer gemeinsamen Zeit mit Martin beschrieben. Ausgehöhlt. Nur noch eine leere Hülle.
George hätte auch von Kendra reden können.
Warum hatte sie das nicht schon längst gesehen? Aber darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen, im Moment sollte sie sich auf das konzentrieren, was George Naughten zu sagen hatte.
»Sie haben Dr. Bell die Schuld am Tod Ihrer Mutter gegeben, nicht wahr?«, fragte Ryan.
»Aber ja doch.
«
Ryan ging mit Naughten die Auseinandersetzung in Dr. Bells Praxis durch, Laurie starrte auf den Bildschirm der Kamera, die vor ihr stand, musterte Naughtens Miene und wartete gespannt, welche neuen Informationen er preisgeben würde.
Ryan ließ nicht locker. »Die Polizei hat Sie davor gewarnt, ein weiteres Mal die Praxis zu betreten.«
»Und das hab ich mir auch zu Herzen genommen«, antwortete Naughten. »Ich bin nie mehr zu ihm in die Praxis.«
Laurie sah das Funkeln in Ryans Augen, sofort wusste sie auch, warum. Naughten hatte die gleiche Formulierung schon bei ihrer letzten Befragung gebraucht: Ich bin nie mehr zu ihm in die Praxis.
»Aber Sie haben Dr. Bell auch nicht in Ruhe gelassen, oder?«, fragte Ryan.
»Ich bin nie an ihn herangetreten. Oder hab mit ihm gesprochen. Oder sonst was gemacht.«
»Aber Sie haben ihn beobachtet?«
George fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. »Ja. Ich konnte an nichts anderes denken, und wenn ich ihn vor mir gesehen habe, hat das irgendwie geholfen. Wenn ich ihn beobachtet habe, konnte er anderen nicht wehtun.«
»Haben Sie ihn auch an dem Abend beobachtet, an dem er ermordet wurde?«, fragte Ryan. Auf dem gesamten Set wurde es totenstill, als würden alle den Atem anhalten und auf Naughtens Antwort warten.
»Nein«, sagte er schließlich. »Ich war zu Hause.«
»Allein?«
George nickte.
»Dann kann das niemand bestätigen. Sie haben kein Alibi.«
Naughten sah auf seine Füße.
»Hier sind die Fakten, George«, sagte Ryan. »Sie haben kein Alibi. Sie sind bekannt für Ihre Ausfälle gegen diejenigen Personen, die Sie für den Tod Ihrer Mutter verantwortlich machen.
Sie haben Dr. Bell nachgestellt. Und Sie waren im Besitz einer Waffe, die exakt dem Modell entsprach, mit dem er erschossen wurde …«
»Ich wollte das Richtige tun«, platzte George heraus. »Ja, ich gebe Dr. Bell die Schuld am Tod meiner Mutter, aber ich bin kein Mörder. Ich weiß, es sieht nicht gut aus für mich. Aus diesem Grund hab ich auch nie erzählt, was ich gesehen habe.«
»Was haben Sie denn gesehen, George?«
»Es war an einem Abend etwa eine Woche vor dem Mord, in Lower Manhattan, im Greenwich Village. Ich bin Dr. Bell gefolgt, und da ist er in ein Taxi gestiegen. Eine Frau hat drinnen schon auf ihn gewartet, er hat sie geküsst. Ich weiß, ich hätte damit schon früher herausrücken sollen, aber ich hatte solche Angst, dass ich dann verdächtigt werde. Ich habe so ein schlechtes Gewissen.«
»Wer war die Frau?«, fragte Ryan, ohne auf Naughtens mitleidheischenden Ton einzugehen.
»Es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu erkennen.« Jetzt schwang Angst in seiner Stimme mit. »Erst hab ich angenommen, es wäre seine Frau, aber nach dem Mord haben doch alle gesagt, dass sie sich nicht mehr verstanden haben. Also … Sie wissen schon … war es vielleicht eine andere Dame.«
Laurie und Ryan hatten sich so manches Szenarium zurechtgelegt, das aber hatten sie nicht auf dem Radar. Ryan stellte im Anschluss daran die offensichtlichen Fragen – Haarfarbe, Frisur, Alter –, aber George konnte keine Einzelheiten nennen.
»Warum sollten wir Ihnen nach so vielen Jahren glauben?«, fragte Ryan.
»Würde ich lügen, würde ich mir doch einfach irgendwelche Antworten auf Ihre Fragen aus den Fingern saugen. Hören Sie, ich kann noch nicht mal beschwören, dass es eine Frau war, die dort im Taxi saß. Ich hab nur gesehen, dass er jemanden geküsst hat. Um ehrlich zu sein, es hat mich rasend gemacht, dass
sich jemand von ihm küssen lässt.« Traurig wandte er den Blick ab. »Ich weiß, wie erbärmlich ich klinge, und das ist ein weiterer Grund, warum Sie mir glauben können. Ich schwöre Ihnen … ich sage die Wahrheit.«
Ryan sah in Lauries Richtung, sie nickte. Das war ein guter Schlusspunkt für das Interview.