48
R yans Kommentar zu den »Samthandschuhen« hatte bei ihr einen Nerv getroffen, denn sie beschloss, unangekündigt bei Kendra aufzutauchen.
Sie wollte die Frau auf ein sehr persönliches Thema ansprechen. Andererseits war diese Frau die Haupttatverdächtige im Mordfall Martin Bell. Bei ihr überraschend vor der Tür zu stehen, allerdings ohne die Kameras, erschien ihr als ein fairer Kompromiss.
Auf dem Bürgersteig vor der Remise konnte Laurie durch das Wohnzimmerfenster sehen, wie Kendra mit den Kindern spielte. Einem Außenstehenden hätten ihre linkischen, abgehackten Bewegungen wie ein skurriler Avantgardetanz vorkommen können, Laurie aber erkannte die vertrauten Armbewegungen und Pirouetten eines Wii-Video-Bowlingturniers. Sie hatte dabei oft genug gegen Timmy verloren.
Plötzlich fragte sie sich, ob es richtig war, sie bei ihrem Familienabend zu stören. Ihr Gespräch mit Kendra konnte auch bis zum nächsten Morgen warten. Fünf Jahre nach dem Mord sah es nicht so aus, als wollte sich Kendra dem Zugriff der Justiz entziehen.
Sie wandte sich Richtung 6th Avenue und wollte schon ein Taxi heranwinken, als sie hinter sich Stimmen hörte. Kendra stand vor der Haustür und verabschiedete sich von ihren Kindern. »Zum Gutenachtkuss bin ich wieder zurück«, rief sie ihnen zu. Laurie entdeckte Caroline, die hinter dem Jungen und dem Mädchen in der Tür stand .
Selbst im fahlen Licht war zu erkennen, dass Kendra, als sie die Stufen zur Einfahrt hinabging, eine Tasche über der Schulter trug. Kurz fragte Laurie sich, ob es sich um die Reisetasche handelte, die ihr am Montagabend gestohlen worden war.
Sie zog den Kopf ein und tat so, als würde sie auf ihr Handy sehen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie Kendra, die schnell in die andere Richtung, zur 5th Avenue, davonging.
Laurie folgte ihr.