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L
aurie wartete schon in der Einfahrt zur Remise, als Kendra zurückkehrte. Sie hatte die Übergabe der Tasche von der Westseite der Greene Street beobachtet, wodurch sie einen ganzen Block Vorsprung vor Kendra gehabt hatte.
Kendra zuckte zusammen, als sie sie sah. »Was machen Sie hier?«
»Beim Interview mit einem unserer Zeugen hat sich heute etwas ergeben. Darüber wollte ich mich mit Ihnen unterhalten.«
»Hätten Sie nicht vorher anrufen können?«, fragte Kendra.
»Ehrlich gesagt, ich wollte Ihnen keine Zeit lassen, sich eine Lüge auszudenken. Wir haben sogar überlegt, gleich mit den Kameras aufzukreuzen, aber das kam mir dann doch unnötig vor.«
Kendra sah sie erschreckt an. »Worum geht es?«
»Um Ihre psychische Verfassung nach der Geburt Ihrer Kinder – das lag nicht nur an Ihrer postpartalen Depression, oder? Sie haben Medikamente genommen. Medikamente, die Martin Ihnen gegeben hat.« Zu dieser Schlussfolgerung war Laurie gelangt, nachdem George Naughten den Zustand seiner Mutter vor ihrer Überdosis beschrieben hatte. »Er hat Sie mit Medikamenten betäubt, oder?«
Kendra nickte und rang sichtlich um Fassung.
»Aber dann beschloss er, Ihnen keine Tabletten mehr zu geben«, sagte Laurie. »Es wurden Klagen gegen ihn eingereicht, und er wusste, dass Anwälte sich mit seinen Medikamentengaben
beschäftigen würden. Er konnte das Zeug nicht mehr wie Bonbons verteilen.«
Kendras Blick schweifte zur Eingangstür, aber im Haus war alles ruhig. Sie waren allein. »Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich unter einer postpartalen Depression gelitten. Aber Martin hatte keinerlei Verständnis. Er hat immer nur gesagt, ich soll mich zusammenreißen – es sei doch nicht normal, dass ich zu nichts in der Lage sei, weil ich mich gefälligst um die Kinder kümmern müsse. Statt mir zu helfen, statt eine angemessene Behandlung zu organisieren, meinte er, er selbst könne für mich sorgen – und das hieß Pillen. Ich weiß nicht, was er mir im Einzelnen gegeben hat. Ich habe ihm einfach vertraut. Immerhin war er der berühmte Wundertäter. Manchmal habe ich tagelang überhaupt nichts mitbekommen, Caroline musste mir später die Lücken füllen. Und dann, mit einem Mal, hatte ich Entzugserscheinungen. Als ich nach seinem Tod von den Klagen gegen ihn gehört habe, wusste ich natürlich, was geschehen war. Aber damals hat er mir noch nicht mal erzählt, warum er mir keine Tabletten mehr gibt. Er hat mich nur angeschrien und mich als Junkie beschimpft.«
»Das waren Sie ja auch«, sagte Laurie. »Er hat Sie dazu gemacht.«
Wieder nickte sie traurig. »Bitte, Sie können das nicht publik machen. Ich bin jetzt clean. Wenn die Bells es herausfinden …« Sie wurde aschfahl.
Und ich dachte, ich wäre der Sache auf den Grund gekommen
, ging es Laurie durch den Kopf. »Sie haben die fraglichen Geldsummen nicht für Einkaufsorgien und teure Schuhe ausgegeben, Sie haben auch keinen Auftragskiller angeheuert. Sie haben sich auf der Straße illegal Medikamente beschafft, um Ihre Sucht zu befriedigen.«
»Verstehen Sie denn nicht, warum ich das der Polizei nicht erzählen konnte? Ich konnte doch nichts beweisen, und ich
wusste, dass Martins Eltern das Sorgerecht für die Kinder haben wollten. Nach Martins Tod habe ich alles getan, um wieder auf den rechten Weg zu kommen. Ich bin clean und trocken. Ich arbeite hart, ich bin eine gute Mutter.«
»Das Einzige, was ich noch nicht weiß, Kendra, warum Sie immer noch große Geldsummen horten.«
Caroline musste Kendra gebeichtet haben, dass sie diese Informationen weitererzählt hatte. Laurie hatte nichts anderes erwartet, und Kendra zeigte sich jetzt auch nur wenig überrascht. »Der Großteil meines Geldes kommt aus einer Stiftung. Ich lege Geld zur Seite, damit die Stiftungsverwaltung – unter anderem meine Schwiegereltern – nicht jeden Dollar überwachen können, den ich ausgebe.«
»Wer war dann der Mann, dem Sie vorhin an der Ecke Greene und Houston Street eine Tasche überreicht haben?«
Kendras Oberkörper klappte nach vorn, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen. Sie legte beide Hände an den Kopf und stieß nur »nein, nein, nein, nein« aus. Im ersten Moment kam es Laurie vor, als wäre sie in Trance.
»Kendra, ich glaube Ihnen, Sie haben sich verändert, ich glaube aber auch, dass Sie einen schrecklichen Fehler begangen haben, damals, als Sie in dieser schlechten Verfassung waren. Ich kann Ihnen helfen, soweit es mir möglich ist, aber ich kann das alles nicht für mich behalten.« Kendra sah sie mit flehendem Blick an, aber Laurie ließ sich davon nicht beirren. »Wenn Sie mir nicht sagen, was los ist, werde ich einem landesweiten Fernsehpublikum erzählen, was ich heute Abend gesehen habe. Und ich werde die Polizei verständigen. Die wird sich auf die plausibelste Schlussfolgerung stürzen – dass Sie einen Killer auf Ihren Mann angesetzt haben. Das wird die ganze Story sein.«
»Bitte«, flüsterte sie, »bitte zwingen Sie mich nicht dazu. Ich kann nicht. Damit sorgen Sie bloß dafür, dass sie umgebracht werden. Sie sind doch noch unschuldige Kinder.
«
Laurie legte Kendra sacht die Hand auf die Schulter und versuchte sie zu beruhigen. »Wer? Von wem sprechen Sie?«
»Von Bobby und Mindy.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Der Typ. Dieser schreckliche Mann. Er hat gedroht … er tut meinen Kindern was an, wenn ich nicht schweige.«
Sofort blickte Laurie sich um, ob jemand sie beobachtete, konnte aber niemanden entdecken. »Kendra, das werde ich nicht zulassen. Wir haben unsere Ressourcen, auf die wir zurückgreifen können. Ich kann Ihnen helfen, aber wir sollten runter von der Straße.«
Hektisch sah sich Kendra um. Sie schob sich an Laurie vorbei und lief zum Garagentor im Erdgeschoss der Remise. Dort gab sie sechs Ziffern auf der Sicherheitstastatur ein, und das Tor schwang auf. Drinnen stand kein Auto, nur Pappkartons waren gestapelt. »Kommen Sie rein.«
Als das Tor wieder geschlossen war, sah sie Laurie eindringlich in die Augen. »Sie müssen mir glauben. Ich habe keine Ahnung, wer Martin umgebracht hat.«