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K
endra drückte sich die Hände auf die Augen, um die Tränen zu unterdrücken. Sie konnte einfach nicht glauben, was hier geschah. Nie hätte sie dieser Fernsehsendung zustimmen dürfen. Die Bells würden sie weiterhin hassen und gegen sie vorgehen, egal, was sie getan hatte – warum um alles in der Welt hatte sie gemeint, sie müsse ihnen entgegenkommen?
Jetzt waren ihrem schlimmsten Albtraum Tür und Tor geöffnet. Sie hatte geschworen, ihn nicht zu erwähnen, aber Laurie Moran hatte sie mit eigenen Augen zusammen gesehen. Kendra konnte nur noch an Laurie als alleinerziehende Mutter appellieren. Sie musste ihr eine Wahrheit anvertrauen, die sie bislang für sich behalten hatte.
»Sie haben mich gefragt, ob ich in jener Zeit in irgendwelchen Bars Leute kennengelernt habe«, sagte Kendra. »Ich wusste, worauf Sie hinauswollten.«
»Das Cover«, sagte Laurie. »Ich habe mich mit Deb unterhalten, der Barkeeperin. Sie hat sich an Sie erinnert.«
Kendra lächelte. »Das ist eine, die sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen lässt. Am Anfang musste ich nur raus von zu Hause, aber irgendwann wurde es zur Gewohnheit …«
Laurie nickte. Sie verstand, was sie meinte.
»Wie auch immer, ich warf Tabletten ein und trank Alkohol, immer alles wild durcheinander, ich war die abgerissene Besoffene am Ende der Theke, was in dem Laden schon einiges aussagt. Ich weiß noch, dass ich mich geschämt habe, wenn Gäste sich an einen Tisch setzten, damit sie nicht neben mir an der
Theke sein mussten.« Kendra rieb sich die Augen. Im Lauf der Jahre, während der Treffen bei den Anonymen Alkoholikern, hatte sie manchmal von diesen dunkleren Momenten in ihrem Leben erzählt, aber jetzt, da sie mit einer völlig Fremden über den Menschen reden sollte, der sie einmal gewesen war, fiel es ihr schwerer als erwartet. »Dann kam ein Typ rein, der mir so etwas wie Mitgefühl entgegenbrachte. Vielleicht war er auch einfach nur ein anderer Besoffener, der sich ein paar Abende lang meine Geschichten anhörte.«
»Wer ist er?«, fragte Laurie.
Kendra schüttelte den Kopf und konnte nur hoffen, dass Laurie ihr glaubte. Sie hatte nur vage Erinnerungen an die Zeit damals. Wie konnte sie jemanden von einem Sachverhalt überzeugen, den sie selbst kaum verstand? »Keine Ahnung. Irgendwann hat er mich an der Bar angesprochen, und wir haben uns unterhalten. Und nachdem ich erst einmal angefangen habe, mich über Martin auszulassen, habe ich kein Ende mehr gefunden. Er hat nur hin und wieder seine Kommentare dazu abgegeben, ›was für ein Mistkerl‹ und so, und mich damit zum Weiterreden animiert. Im Nachhinein glaube ich, dass sein ganzes verständnisvolles Getue nur vorgetäuscht war. Er ist ein Gauner, und ich war sein Opfer. Das bin ich immer noch, Sie haben es heute Abend ja gesehen.«
Laurie konnte ihr nicht ganz folgen.
»Sie haben ihn also nicht angeheuert?«, fragte Laurie.
»Nein!« Ihre Stimme war lauter als beabsichtigt und hallte in der leeren Garage wider. Sie hatte Martins Auto nach seinem Tod einer Wohltätigkeitsorganisation vermacht und sich nie einen neuen Wagen angeschafft. »Tut mir leid, ich habe auch etwas gebraucht, bis ich den Plan durchschaut habe. Etwa eine Woche nach Martins Tod – als ich ständig in den Schlagzeilen auftauchte –, hat er vor der Schule auf mich gewartet, als ich Bobby abholen wollte. Er hat ein kleines digitales Aufnahmegerät
aus der Tasche gezogen und es abgespielt. Im ersten Moment hab ich noch nicht mal meine eigene Stimme erkannt, aber ich war es, definitiv. Er hat Ausschnitte aus unseren Unterhaltungen zusammengeschnitten.«
»Die er im Cover aufgezeichnet hat?«, fragte Laurie nach. »Als sie ihm über Martin Ihr Herz ausgeschüttet haben?«
Kendra nickte. »Das war nichts, worauf man stolz sein musste, zu keiner Zeit, aber nach Martins Tod? Da war das alles … nur fürchterlich. Er hat mir gesagt, es wäre ›doch eine Schande‹, wenn die Polizei oder meine Schwiegereltern die Aufnahmen zu hören bekämen. Er wollte Geld für sein Schweigen.«
Sie hörte sich selbst wieder, ihre träge, verschliffene Stimme von damals: Ich will hier raus, nur noch raus! Mein Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben, da war er nicht viel älter als Martin jetzt. Vielleicht passiert ihm das ja auch.
Und: Was würde ich nicht alles dafür geben, um von ihm frei zu sein!
»Und seitdem erpresst er Sie?«, fragte Laurie.
»Nicht regelmäßig. Das würde es einfach machen, ihm eine Falle zu stellen. Einmal war er fast elf Monate von der Bildfläche verschwunden, irgendwann meldet er sich aber immer wieder zurück. Er weiß, dass ich zahle. Er hat gedroht, mich zu verraten – oder meinen Kindern etwas anzutun –, wenn ich an der Sendung teilnehme. Ich konnte ihn überzeugen, dass meine Teilnahme auch in seinem Interesse wäre. Ich gehe davon aus, dass er klug genug ist, um zu wissen, dass ich ohne die Kinder keinen Anspruch auf die Gelder der Stiftung habe und ihm dann nicht mehr nützlich wäre.« Sie hörte ihre eigene Verbitterung und Wut. »Ich habe geschworen, dass ich nichts von ihm erzähle – weder der Polizei noch Ihnen. Und jetzt das hier.«
Kendra musterte Laurie, um ihre Reaktion einzuschätzen.
»Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass dieser Mann – dieser Erpresser – vielleicht auch Martin umgebracht hat?«, fragte Laurie
.
»Am Anfang, ja. Ich wollte auch zur Polizei – auch auf die Gefahr hin, selbst verhaftet zu werden. Aber er hat mir gesagt, er habe die Gespräche aufgenommen, weil er sie ursprünglich an Martin verkaufen wollte. In meinem benebelten Zustand habe ich ihm vermutlich erzählt, dass Martin mich verlassen und die Kinder mitnehmen wollte, also dachte er sich, Martin würde ihm eine ganz anständige Summe zahlen, damit er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Aber Martins Tod hat dann alles zunichtegemacht. Und jetzt bin ich diejenige, die zahlen muss.«
»Sie haben ihm geglaubt?«, fragte Laurie.
»Ja, absolut.« Sie gab sich überzeugt, aber wie oft hatte sie genau daran gezweifelt? Zeitweise war sie zu einer ganz anderen, verzweifelten Person geworden, die sich in einem Nebel aus Alkohol und Tabletten bewegte – die sich noch nicht einmal an die Gespräche erinnern konnte, die dieser Mann im Cover aufgezeichnet hatte. Das Leben mit Martin hatte sie an den Rand des Wahnsinns getrieben. War es möglich, dass sie diesen Fremden auf eine Idee gebracht hatte? Hatte sie ihn vielleicht sogar bezahlt, damit er den Abzug durchdrückte? Selbst jetzt konnte sie nicht beschwören, dass sie sich nicht schuldig gemacht hatte.
Lauries Blick ging in die Ferne, als versuchte sie, die vielen unterschiedlichen Informationen miteinander zu verknüpfen. »Möglicherweise hat er mich auch verfolgt«, sagte sie schließlich. »Jemand hat mir am Montagabend meine Aufzeichnungen zu diesem Fall gestohlen.«
Kendra schüttelte den Kopf. »Ich meine, möglich wäre es. Er ist mir immer drei Schritte voraus, aber er hat heute Abend nichts davon erwähnt. Allerdings hat es ihn sehr interessiert, was Sie wissen, und er hat darauf bestanden, dass ich ihn auf dem Laufenden halte.«
»Sie wissen wirklich nicht, wer dieser Mann ist?«, fragte Laurie
.
»Nein, überhaupt nicht. Er ruft immer unter einer anonymen Nummer an, und wenn wir uns treffen, kommt er zu Fuß, ich kann Ihnen also kein Autokennzeichen oder so was nennen. Ich habe nur die Nummer seines Wegwerfhandys und das hier.«
Sie zog ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und scrollte zu einem Foto, das sie schon so viele Male betrachtet hatte. Es war leicht verschwommen, sie hatte keinen Blitz verwendet, aber sie hatte es leicht bearbeitet, hatte die Konturen geschärft und die dunklen Stellen etwas aufgehellt. Man hätte es nicht unbedingt in einer Zeitschrift veröffentlichen können, aber jeder, der den Mann kannte, würde ihn auf der Aufnahme erkennen. »Ich hab so getan, als würde ich meine Nachrichten ansehen, als ich mich unserem Treffpunkt genähert habe. Es ist verschwommen, weil ich vor Angst, er könnte mich dabei erwischen, so schrecklich gezittert habe.«
Laurie betrachtete das Foto. Angesichts der geschilderten Umstände war es sogar ziemlich gut. »Können Sie mir das schicken?«
»Ich hab Ihre Mail-Adresse«, sagte Kendra, hängte das Bild an die Nachricht an und drückte auf Senden.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Laurie zögerte und sah sich in der Garage um, als könnte sie irgendwo hier die Antwort entdecken. »Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie glauben mir?«
Laurie wollte antworten, hielt aber inne. »Wir lassen uns was einfallen. Seien Sie bis dahin vorsichtig.«
Vielleicht, dachte Kendra und sah der zur 6th Avenue davongehenden Laurie hinterher, glaubt endlich doch jemand, dass ich unschuldig bin – nicht an allem, aber zumindest an Martins Ermordung.