52
A ls Laurie am Abend zuvor von Kendra nach Hause gekommen war, hatte sie gerade noch Zeit gefunden, um sich mit Timmy und ihrem Vater etwas zum Abendessen zu bestellen und Alex anzurufen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Nur wenige Monate zuvor hatte sie noch gezögert, ihr Leben mit seinem zu teilen. Jetzt hingegen konnte sie es kaum erwarten, mit ihm unter einem Dach zu leben. Sie wollte, dass er der Letzte war, den sie am Abend sah, und der Erste am Morgen.
Am nächsten Tag saß sie an ihrem Schreibtisch im Büro, als das Telefon klingelte. Der Anruf kam von Graces Apparat. Sie drückte auf den Knopf der Freisprecheinrichtung.
»Was ist los?«
»Ich sag es nur ungern, aber Dana hat gerade angerufen. Brett Young ist unterwegs zu dir. Ach … ich seh ihn schon.« Sie legte auf. Einige Sekunden später klopfte es an Lauries Bürotür.
»Herein!«, rief sie leichthin. Sie wollte sich ihre leichte Beklemmung auf keinen Fall anmerken lassen. Hatte er ihre Ausgaben für den neuen Laptop und das neue Handy zu Gesicht bekommen? Sie stellte sich schon darauf ein, dass sie sich mit ihm auseinandersetzen musste, ob diese Ausgaben beruflich oder privat bedingt seien.
Sie bemühte sich um ein unbekümmertes Lächeln, hörte, wie die Tür aufging, und war dann mehr als baff, als Alex in der Tür stand. Hinter ihm an ihrem Schreibtisch kicherte Grace.
Laurie sprang auf und gab ihm einen Kuss, und er schloss sie fest in die Arme. »Was für eine wunderbare Überraschung«, sagte sie.
»Ich war zufällig in der Nähe und wollte dich einfach sehen. Seit dem Überfall mach ich mir ständig Sorgen. Wenn dir was passiert wäre …« Er beendete den Gedanken nicht.
»Kein Grund zur Sorge, Euer Ehren. Mir geht es gut, wirklich.«
Sie gingen zum Konferenztisch, sie setzte sich, und er begann ihr sanft die Schultern zu massieren.
»Für jemanden, dem es gut geht, fühlst du dich aber sehr verspannt an«, sagte er.
»Nein, es ist alles in Ordnung. Ehrlich.«
Sie dehnte den Nacken, als die wohltuende Wirkung der Massage einsetzte. »Es ist dein letzter freier Tag, bevor die Vorsitzende Richterin dich in Beschlag nimmt. Hast du irgendwas Besonderes vor?«
»Ja, dich besuchen. Außerdem ist es mein letzter freier ›Wochentag‹«, korrigierte er sie. »Arbeitsbeginn ist erst Montag, heute haben wir Freitag.«
»Na, morgen bist du mit deinen Mitarbeitern beim Yankees-Spiel.«
Als Bundesrichter beschäftigte Alex zwei frischgebackene Juristen als Justizfachangestellte. Bis zum Herbst würde er mit den Angestellten seines Vorgängers arbeiten, der zu seinem achtzigsten Geburtstag in den Ruhestand gegangen war. Laurie hatte beide kurz während der Einführung kennengelernt. Samantha hatte in Yale, Harvey in Stanford studiert. Beide machten einen intelligenten und aufgeschlossenen Eindruck, und beide waren freudig überrascht, für einen Boss zu arbeiten, der ihnen zur Arbeitseinführung erstklassige Yankees-Karten anbot. »Gewöhn dich schon mal daran, dass sie dich Euer Ehren nennen.«
Es war ihm anzusehen, dass ihm die Bezeichnung gefiel .
»Es ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte er. »Letzten Abend warst du doch ziemlich hin- und hergerissen, wie du mit den neuen Informationen von Kendra umgehen sollst. Ich musste mich sehr zurückhalten, nicht sofort die Polizei einzuschalten, nachdem du mir alles erzählt hast. Es muss derselbe Typ sein, der auch dich überfallen hat.«
»Vielleicht. Aber wir wissen doch gar nicht, wer er ist, also was soll’s? Er spielt in dem Fall ganz offensichtlich eine entscheidende Rolle, aber ich habe keine Möglichkeit, ihn ohne fremde Hilfe zu identifizieren. Ich könnte das Foto im Fernsehen zeigen und um Hinweise bitten, aber dann weiß er, dass Kendra mir von ihm erzählt hat. Sie beteuert, dass er sie und ihre Kinder bedroht. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.«
»Natürlich nicht«, pflichtete er ihr bei. »Aber du kannst zur Polizei gehen. Das wäre wahrscheinlich das Sicherste.«
Auch wenn Ryan sich in seiner Zusammenarbeit mit ihr sehr verändert hatte, fehlte ihr Alex sehr als Gesprächspartner. Jedes Mal, wenn sie sich zu einem Fall miteinander austauschten, ging es ihr danach entschieden besser.
»Einerseits möchte ich das sogar, aber andererseits weiß ich nicht so recht, was ich der Polizei sagen soll. Weder habe ich eine Ahnung, wer er ist, noch, was er überhaupt getan hat. Kendra sagt, sie sei nie auf den Gedanken gekommen, dass er Martins Mörder sein könnte. Aber das fällt mir schwer zu glauben. Andererseits kann ich auch nicht beweisen, dass sie ihn angeheuert hat. Und ich habe keine Ahnung, ob wirklich er es war, der mich am Montag angegriffen hat. Egal, was ich mache, es führt immer in eine Sackgasse. Irgendwas passt nicht zusammen. Als ob ich das große Ganze nicht zu fassen kriege.«
Abrupt hielt Alex mit seiner Massage inne. »Bitte sag mir nicht, dass du mit Joe Brenner zusammenarbeitest. Hat sich dieser hinterlistige Schleimer auch ins Studio geschwafelt? Hat Brett Young ihn angeheuert? Ich kann mir gut vorstellen, dass er auf so einen hereinfällt.«
Sie drehte sich in ihrem Stuhl herum. »Wovon sprichst du?«
»Von ihm.« Er griff zu dem Foto auf dem Konferenztisch und zog es zu sich heran. »Joe Brenner. Der ist das Letzte. Hat er Brett dazu überredet, ihn als Ermittler anzustellen? Wenn dem so ist, musst du ihn so schnell wie möglich loswerden. Ich rede persönlich mit Brett, wenn es sein muss.«
Es war der Ausdruck des Fotos, das Kendra ihr am vorangegangenen Abend per Mail geschickt hatte. Der Typ aus dem Cover. »Alex, du kennst diesen Mann? Das ist der Kerl von letzter Nacht – der, von dem Kendra behauptet, er würde sie erpressen.«
Alex betrachtete das Foto näher. »Doch, er ist es, definitiv.« Er beugte sich zu ihrem Laptop, gab etwas ein und drehte ihr den Bildschirm hin. Sie sah ein Foto desselben Mannes, nur in einem schwarzen Hemd mit offenem Kragen und einem schwarzen Sakko. Die bereits schütter werdenden Haare hatte er kurz rasiert, sein Blick war kalt. »Fies«, wie die Barkeeperin im Cover ihn beschrieben hatte.
Der danebenstehende Text lautete: »Joe Brenner, Inhaber von New York Capital Investigations, eines privaten Ermittlungsunternehmens mit fünfundzwanzigjähriger Erfahrung für diskrete und erfolgreiche Recherchen.«
Lauries Gedanken überschlugen sich. Warum sollte ein Privatdetektiv Kendra um Geld erpressen? Aber tat er das denn? Schließlich könnte Kendra sie ja auch angelogen haben. Vielleicht hatte Kendra Brenner dafür bezahlt, ihr Lauries Tasche mit den Aufzeichnungen und ihrem Laptop zu beschaffen.
»Woher kennst du ihn?«, fragte sie.
»Ich kenne ihn eigentlich nicht, nicht mehr. Aber vor fünfzehn Jahren habe ich an einem Fall gearbeitet, bei dem mehrere Angeklagte einer Verschwörung beschuldigt wurden. Der Anwalt eines der Angeklagten beschäftigte Brenner als Ermittler. Als er im Zeugenstand aussagte, war ich überzeugt, dass er die von ihm angeblich gefundenen entlastenden Beweise zu sehr aufbauschte. Zum Teil hatte ich das Gefühl, dass er sie sogar einfach erfunden hatte. Ich konnte es nicht beweisen, und die Angeklagten wurden trotzdem verurteilt. Aber ich sprach danach mit dem Verteidiger, der ihn angeheuert hatte. Er meinte, manchmal wären Mandanten bereit, ein Extra für Ermittler zu zahlen, die – ich zitiere – besonders findig sind.«
»Du meinst also, er hat für ein Extrahonorar im Zeugenstand gelogen?«, fragte Laurie.
In ihrem Kopf ging alles so wirr durcheinander, dass sie Mühe hatte, alles auf die Reihe zu kriegen. Ein Fremder, der Kendra in einer Bar ansprach und sich als zwielichtiger Detektiv herausstellte und ihre Gespräche aufzeichnete? Das war mehr als Zufall. Sie dachte an Martin Bells Wunsch, Kendra zu verlassen und das Sorgerecht für die Kinder zu behalten. Vielleicht hatte er Brenner beauftragt, seine Frau anzusprechen und belastende Beweise zusammenzutragen. Aber wenn der Plan aufgegangen und Brenner im Besitz von Aufzeichnungen war, die Kendra in ein schlechtes Licht gerückt hätten, warum hatte Martin Bell dann nicht die Scheidung eingereicht? Und hätte er dann nicht auch seinen Eltern von seinen Absichten erzählt?
Vielleicht existierten diese angeblichen Aufzeichnungen gar nicht. Vielleicht hatte sich Kendra die ganze Geschichte nur ausgedacht, um zu vertuschen, dass sie Brenner bezahlte, um ihren Mann zu töten.
Laurie spürte, dass sie der Lösung nah war, aber jedes Mal, wenn sie glaubte, die Wahrheit gefunden zu haben, entzog sie sich ihr wieder.
Alex starrte immer noch auf das Foto von Brenner. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass dieser Mann in Lauries Leben auftauchte. »Wie gesagt, ich konnte es nicht beweisen. Aber ich war so sehr davon überzeugt, dass ich meine Anwaltskollegen davor gewarnt habe, mit ihm zusammenzuarbeiten. Anscheinend war ich nicht der Einzige. Seine Ermittlertätigkeit für Strafverteidiger ist danach völlig zum Erliegen gekommen. Keiner fasst ihn auch nur mit der Kneifzange an, weil sie fürchten, er könnte einen Prozess sprengen.«
Unter Eid die Wahrheit zurechtzubiegen war eine Sache, ein Auftragsmord eine ganz andere. Vielleicht lief das Geschäft für Brenner dermaßen schlecht, dass er sich gezwungen sah, als Auftragsmörder anzuheuern.
»Aber er hat immer noch seine Detektei-Website«, sagte sie und zeigte zu seinem Foto auf dem Bildschirm. Sein Gesicht – die dunklen, kalten Augen – ließ sie frösteln. »Anscheinend gibt es weiterhin welche, die ihn engagieren.«
»Wo ein Wille, ist auch ein Weg«, beschied Alex nüchtern. »Die Menschen glauben immer, Anwälte hätten keine Skrupel. Aber wenn Brenners Arbeit etwas lehrt, dann, dass Politiker noch schlimmer sind.«
»Er hat Politiker als Mandanten?«
»Das ist mir zu Ohren gekommen. Du verstehst, Anwälte haben ein großes Problem, wenn er es vor Gericht mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Aber wenn du einfach nur einen skrupellosen Typen brauchst, der bereit ist, einige Abkürzungen zu nehmen, um zu zeigen, dass dein politischer Gegner Dreck am Stecken hat? Dann ist Brenner in gewissen Kreisen genau der Richtige. Ich möchte behaupten, der Typ sitzt regelmäßig im Zug nach Albany.«
Und in diesem Moment wusste Laurie, dass sie jetzt ganz nah dran war: Albany.
Sie griff zu ihrem Handy auf dem Tisch und rief die Nummer ihres Vaters an.
»Du bist einen Schritt weitergekommen?«, fragte Alex .
»Mal sehen.« Als sich ihr Vater meldete, erläuterte sie ihm ihre Theorie. Alex hörte zu und nickte zustimmend. Dann fragte sie Leo, ob er noch mal seinen NYPD -Mittelsmann anrufen könnte.
»Mal sehen, was sich machen lässt.«