53
D rei Stunden später saß Laurie mit Daniel Longfellow in seiner Wohnung in der Upper West Side. Leigh Ann, erklärte er, sei noch in der Arbeit, und die Hunde seien bei der Hundebetreuung. Sie dankte ihm, dass er so schnell Zeit gefunden habe, sich mit ihr zu treffen.
»Sie haben mir kaum eine andere Wahl gelassen, Laurie. Sie sollten wissen, wie wichtig es meiner Frau und mir ist, dass unsere Namen in der Sendung nicht genannt werden. Ich gehe davon aus, Sie haben mittlerweile die Bestätigung, dass wir in den Mordfall in keiner Weise involviert waren.«
Da sie nicht lange um den heißen Brei herumreden wollte, legte sie einfach das Foto von Joe Brenner auf den Beistelltisch im Wohnzimmer. »Ich denke, Sie kennen diesen Mann.«
Seine Miene bestätigte ihre Vermutung. Ein weniger aufrichtiger Mann hätte vielleicht verbergen können, dass er etwas mit Joe Brenner und Kendra Bell zu tun hatte, aber Daniel Longfellow war kein sehr talentierter Lügner. Es würde ihr nicht schwerfallen, ihm die Wahrheit zu entlocken.
»Woher haben Sie dieses Bild?«, fragte er.
»Er hält sich nicht unbedingt verborgen«, antwortete sie. »Im Grunde steht er im Mittelpunkt unserer Ermittlungen. Und wir wissen, dass Sie mit ihm in Verbindung stehen.«
Schweigen lastete auf dem Zimmer. Er kaute angespannt auf der Unterlippe, demnach lag sie mit ihren Mutmaßungen womöglich richtig. Longfellow kannte Joe Brenner, und ihre Beziehung hatte irgendetwas mit Martin Bells Tod zu tun .
Laurie versuchte es aufs Geratewohl. »Die ganze Zeit dachte Kendra, sie hätte einfach nur Pech gehabt. Sie lässt sich gegenüber einer Zufallsbekanntschaft über ihre unglückliche Ehe aus, und siehe da, der Typ zeichnet ihre Gespräche auf und erpresst sie, gerade als ihr Ehemann ermordet wird. Sie hat nie eine Verbindung hergestellt. Sie hat noch nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass dieser Mann der Täter sein könnte – darauf habe ich sie erst hinweisen müssen.«
Longfellow gab sich betont distanziert, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun. »Ms. Moran, ich schätze Ihre Arbeit und Ihre Fernsehsendung, aber ich denke, wir sollten es damit gut sein lassen.«
»Bitte, lassen Sie mich ausreden – ansonsten setze ich diese Unterhaltung mit meinem Fernsehpublikum fort. Wie wahrscheinlich ist es, dass Kendra Bell ihr Herz zufällig einer Person ausschüttet, von der sie dann aufgrund dieser Informationen jahrelang erpresst wird? Oder schlimmer noch, die zuerst kaltblütig ihren Mann ermordet, um sie dann jahrelang erpressen zu können?«
Laurie musterte Longfellow. Jeder, der mit dem Mann auf dem Foto nichts zu schaffen hatte, hätte völlig perplex auf ihren Gedankengang reagiert. Aber Longfellow machte keineswegs den Eindruck, als könnte er ihrer Unterhaltung nicht folgen.
»Dieser Mann«, fuhr Laurie fort, »ist Privatdetektiv. Joe Brenner. Brenner war nicht zufällig Gast in Kendras Bar, nicht wahr?«
Plötzlich fasste sich Longfellow an den Mund, als würde ihm mit einem Mal die schreckliche Ereigniskette bewusst werden, die er sich nie zuvor hatte vorstellen können.
»Ich bin im Grunde ein guter Mensch«, sagte er, und sein Blick ging in eine unbestimmte Ferne.
»Dann ist das jetzt Ihre Chance, das unter Beweis zu stellen. Die Fehler, die Sie möglicherweise begangen haben, liegen Jahre zurück. Erzählen Sie mir, was Sie über Joe Brenner wissen.«
Senator Longfellow schluckte. Vermutlich wog er die Folgen der Entscheidung ab, die er im Begriff war zu treffen. »Brenner ist in Albany in weiten Kreisen bekannt«, sagte er. »Ich habe ihn engagiert – vor fast sechs Jahren. Es war zwar so nie geplant, aber damals, in meiner Zeit als Abgeordneter in Albany, führten Leigh Ann und ich eine Fernbeziehung. Ich wollte glauben, dass wir beide die Arbeit machten, die uns wichtig war, ab einem bestimmten Punkt aber erkannte ich, dass etwas kaputtgegangen war. Ich vermutete, dass sie sich mit einem anderen Mann traf.«
Laurie spürte, dass Longfellow kurz davor war, sich ihr zu offenbaren. »Also haben Sie einen Privatdetektiv beauftragt, der Ihren Verdacht bestätigen sollte?«
Alles passte zusammen. Kendra war nicht die Einzige gewesen, die sich Sorgen machte wegen der vielen Zeit, die Martin und Leigh Ann zusammen verbrachten. Brenner genoss unter New Yorker Strafverteidigern vielleicht keinen guten Ruf mehr, aber er war nach wie vor bereit, fragwürdige Methoden anzuwenden, um schmutzige Geheimnisse ans Licht zu zerren. Das war die Person, an die sich Longfellow in seiner Eifersucht gewandt hatte.
Longfellow schluckte, bevor er zu einer Antwort ansetzte. »So habe ich das nicht gesehen. Zumindest nicht am Anfang. Ich redete mir ein, er würde meine Befürchtungen zerstreuen . Er würde ein Auge auf Leigh Ann in New York haben und mir sagen, dass ich mir alles nur einbilde. Es war ein Vabanquespiel, aber es wäre großartig gewesen, wenn dieser Detektiv mir gesagt hätte, ich müsse mir keine Sorgen machen.«
»Aber so war es nicht.«
»Wie sagt man? Man soll vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Ich habe viele fragwürdige Dinge über Brenners Methoden gehört, aber ich wollte um jeden Preis die Wahrheit erfahren. Und dann« – er schüttelte den Kopf – »bekam ich, was ich mir gewünscht habe.«
»Er legte Beweise vor, dass Leigh Ann nicht nur freundschaftlichen Umgang mit Martin Bell pflegte«, sagte Laurie. Sie dachte an George Naughten, der gesehen hatte, wie Martin Bell eine Frau in einem Taxi küsste. Leigh Ann Longfellow, genau wie Kendra Bell die ganze Zeit vermutet hatte.
Longfellow strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Er hatte sogar Fotos. Ich war völlig gelähmt und zu keiner Entscheidung fähig.«
»Warum haben Sie sie nicht verlassen?«, fragte Laurie.
»Weil ich das nicht wollte«, sagte er in einem Ton, als wäre es das Offensichtlichste. Wie sie bei ihrem ersten Treffen bereits gespürt hatte, verband die beiden wahre Liebe. »Warum sollte ich Leigh Ann verlassen? Ich wusste, dass sie die perfekte Partnerin für mich ist und meine große Liebe, seitdem wir uns an der Columbia kennengelernt haben.«
Longfellow sah zu Boden und fuhr sich nervös durch die Haare.
Dann schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. »Hätte ich es gekonnt, hätte ich in dem Moment am liebsten alles ungeschehen gemacht. Ich wusste nämlich, wenn ich sie mit den Beweisen konfrontiere, wäre alles aus zwischen uns.«
»Aber ist es denn nicht so, dass die Wahrheit befreit?«
Longfellow lachte. »Totaler Unsinn. Denken Sie doch nur mal nach: Hätte ich meiner Frau – meiner Frau  – Fotos vorgelegt, auf denen sie einen anderen Mann küsst, hätte sie gewusst, dass ich ihr hinterherspionieren ließ. Und vielleicht noch schlimmer, sie hätte gewusst, dass ich immer noch an ihr festhielt, trotz der Affäre. Sie hätte jegliche Achtung vor mir verloren. Ich wollte nur, dass die Affäre ein Ende nimmt. «
Bevor Laurie hierherkam, hatte sie nur gewusst, dass die Beziehung zwischen Daniel Longfellow und Joe Brenner von einiger Bedeutung sein musste. Ihre Intuition sagte ihr jetzt, dass Longfellow zwar seine Fehler hatte, aber im Grunde ein ehrlicher Mensch war. Sie versuchte sich in seine Lage zu versetzen und fragte sich, was er wohl als Nächstes getan hatte, nachdem er erfuhr, dass seine Frau sich mit einem anderen Mann traf.
Dann sah sie die Szene ganz deutlich vor sich. »Sie haben Brenner beauftragt, Kendra die Fotos von Leigh Ann und Martin zu zeigen.«
Er drückte sich mit Daumen und Zeigefinger kurz gegen die Nasenwurzel. »Auf manchen Fotos war Leigh Anns Gesicht nicht zu erkennen, der Mann aber war eindeutig Martin Bell. Ich ging davon aus, dass Kendra stärker war als ich und imstande, der Affäre ein Ende zu setzen.«
Laurie stellte sich Kendra fünf Jahre früher vor – eine Frau, die an Wochenbettdepression litt und medikamenten- und alkoholabhängig war.
»Kendra war alles andere als stark«, sagte Laurie.
»Natürlich war sie das. Sie und Martin hatten Kinder. Ich ging davon aus, dass sie von ihrem Mann verlangt, mit der Affäre Schluss zu machen, oder er würde seine ganze Familie verlieren.«
Laurie schüttelte den Kopf. »Was ist denn das für eine Art, Ihre Ehe zu retten?«
Er nickte. »Eine sehr schäbige vermutlich. Aber ich dachte mir, wenn die Affäre erst mal vorbei wäre, könnte ich daran arbeiten, ein besserer Ehemann zu sein. Ich könnte, wenn nötig, die Assembly verlassen, nach New York zurückkehren und, wenn es sein musste, in die Privatwirtschaft wechseln. Aber egal, was – ich wollte Leigh Anns Herz zurückgewinnen, und alles würde wieder wie vorher sein. Das zumindest habe ich mir vorgestellt. «
»Was geschah also, als Brenner Kendra von der Affäre erzählte?«
Sein Lachen war verbittert und völlig unerwartet. »Im ersten Moment dachte ich, der Plan wäre aufgegangen. Brenner rief mich an und erzählte, er hätte sich mit Kendra in einer Bar getroffen und sich – ich zitiere – ›um alles gekümmert‹. Und wirklich, kurz darauf rief mich der Gouverneur wegen der Ernennung in den Senat an. Mir kam es so vor, als hätte das Schicksal eine seltsame Wendung genommen. Am nächsten Abend überraschte mich Leigh Ann mit einem Abendessen – derselbe Tisch im selben Restaurant, in dem wir unser erstes richtiges Date hatten. Mit einem Mal war sie wieder bei mir. Ich ging davon aus, dass Kendra Martin zur Rede gestellt und er daraufhin die Beziehung zu Leigh Ann abgebrochen hatte. Wir wären glücklich bis ans Ende unserer Tage, so, als hätte es die Affäre nie gegeben. Aber dann wurde Martin ermordet. Sehen Sie denn nicht? Kendra musste wegen der Affäre so wütend gewesen sein, dass sie einen Auftragskiller anheuerte.«
»Warum haben Sie das nicht der Polizei erzählt?«
Er holte tief Luft und rang offensichtlich mit den Tränen. »Weil ich meine Frau liebe und nicht wollte, dass sie in aller Öffentlichkeit gedemütigt wird. Und ich sie nicht verlieren wollte. Sie hat bis zum heutigen Tag keine Ahnung, dass ich von der Affäre wusste.«
»Sie sind der Meinung, Kendra hätte einen Auftragsmörder angeheuert … aber genauso gut könnten Sie einen angeheuert haben. Schließlich waren Sie derjenige, der Joe Brenner beauftragt hat, und Sie wollten um jeden Preis Ihre Frau zurückhaben.«
»Nein, auf keinen Fall. So etwas würde ich nie tun. Ich habe der Polizei damals unsere Finanzen offengelegt. Alles war vollkommen in Ordnung. Ich habe Brenner nur ein paar Hundert Dollar gezahlt – was sicherlich nicht für einen Auftragsmord reicht!«
Auf Lauries Bitte hatte sich Leo diese Informationen bereits vom NYPD bestätigen lassen, aber sie wollte es von Longfellow selbst hören. Der für den Fall zuständige Detective hatte Leo erzählt, dass der Senator vollständige Auszüge von seinem Konto und dem seiner Frau vorgelegt habe, aus denen hervorging, dass keine größeren Barabhebungen stattgefunden hatten.
»Nun, Senator, ich glaube aber, Kendra war es auch nicht. Denn Brenner hat sich nicht an Ihren Auftrag gehalten. Er hat Kendra nie die Beweise für die Affäre vorgelegt.«
Sie wartete, ob Longfellow die gleichen Schlüsse zog wie sie. Er wurde kreidebleich. »Großer Gott. Sie meinen, Brenner hat Martin umgebracht?« Offensichtlich war ihm der Gedanke bislang nie gekommen.
Sie nickte. »Wenigstens glaube ich das. Er hat Kendra dazu animiert, schreckliche Dinge über Martin zu sagen, und alles aufgezeichnet. Ich denke, er hat Martin erschossen, weil er meinte, Kendra dann bis an ihr Lebensende erpressen zu können.«
»In diesem Fall wäre ich derjenige, der das alles ins Rollen gebracht hat«, sinnierte er laut vor sich hin. »Ich hätte es wissen müssen, Lügen kann man nicht ungeschehen machen. Sie verfolgen einen immer weiter. Ich muss tun, was richtig ist, auch wenn das bedeutet, dass ich Leigh Ann erzähle, was ich weiß. Selbst wenn es das Ende meiner Karriere bedeutet. Ich trete in Ihrer Sendung auf. Ich gehe zur Polizei. Ich bin bereit, mit meinen Geheimnissen an die Öffentlichkeit zu gehen.«
»Das ist gut zu wissen, Senator. Im Moment aber würde ich Sie bitten, dass Sie nichts unternehmen. Ich habe eine Idee, wie Brenner eventuell überführt werden könnte. «
Sobald sie im Taxi saß, rief sie Kendra auf dem Handy an. Nach dem vierten Klingeln meldete sich die Mailbox. »Kendra, hier ist Laurie. Rufen Sie mich bitte zurück. Ich weiß, wer der Mann aus dem Cover ist. Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen.«