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G enau achtunddreißig Minuten später sah Laurie auf dem Beifahrersitz des Transporters, wie Kendra auf der 8th Street zum Cooper Square abbog. Kendra wartete, bis die Ampel umschaltete, und näherte sich dem kleinen Rasendreieck.
»Ich bin gleich da«, sagte Kendra. »Sie können mich hoffentlich hören.«
Nick rief Kendras Handy an, ließ es einmal klingeln und beendete gleich wieder die Verbindung. Auf dieses Signal hatten sie sich geeinigt, um zu bestätigen, dass die Audioverbindung zum Produktionswagen stand.
Lauries Handy vibrierte. Eine SMS von Jerry. Sie ist da! Ich hab sie voll im Blick. Und ihr?
Laurie erhob sich und kam zu Nick und Leo nach hinten in den Wagen. Jerry hatte eine kleine Kamera auf dem Armaturenbrett montiert, aber Laurie verließ sich lieber auf Nicks Kamera, die mit ihrem auf den Dachaufbauten versteckten Weitwinkelobjektiv sehr viel bessere Bilder machen konnte. Laurie sah auf dem Bildschirm, wie Kendra auf der kleinen Grünfläche eintraf.
Auch bei uns alles bestens , schrieb sie zurück.
Sie hatten nie zuvor so eine Geheimoperation durchgeführt. Im Bundesstaat New York war lediglich das Einverständnis eines einzelnen Kommunikationsteilnehmers erforderlich, um ein Gespräch aufzuzeichnen. Dank Kendras Mitarbeit würden sie vielleicht endlich beweisen können, welche Rolle Joe Brenner bei Martin Bells Ermordung gespielt hatte .
Zwei Minuten nach Kendra erschien aus nördlicher Richtung, die Hände in den Taschen vergraben, ein stämmiger Mann in einem marineblauen Hoodie. Brenner. Kendra und er wechselten ein paar Worte. Laurie wandte sich an Nick und deutete auf ihr Ohr. Zu leise. Nick drehte an einem Regler, gleich darauf war das Gespräch deutlich zu verstehen.
»Wir hatten eine Vereinbarung«, sagte Brenner. »Du wolltest unbedingt bei dieser Sendung mitmachen. Du solltest mich aus der Sache raushalten. Und jetzt ruft mich die Produzentin an. Hast du dafür eine Erklärung?«
»Ich schwöre, ich hab nichts erzählt. Laurie Moran hat mich heute überraschend angerufen und behauptet, dass sie weiß, wer Martin umgebracht hat. Und dann hat sie mir dieses Foto geschickt.« Kendra hielt Brenner ihr Handy hin und zeigte ihm das von Laurie geschickte Foto. Der Zeitstempel der Nachricht stimmte mit Kendras Geschichte überein, falls Brenner auf die Idee kommen sollte, sich das Foto genauer anzusehen. Aber er warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Es war das Porträt von seiner Website.
»Hat sie dir auch meinen Namen genannt?«, fragte er.
Laurie kreuzte die Finger und hoffte, dass Kendra eine überzeugende Lügnerin war.
»Nein«, kam die schnelle Antwort. »Nur das Foto. Ich hab mir eine Ausrede einfallen lassen, um gleich aufzulegen, ich wollte mich sofort bei dir melden, aber da hast du schon angerufen.«
»Was haben die Fernsehleute noch gesagt?«, fragte Brenner.
»Sie wollten wissen, ob ich jemals von einem Privatdetektiv auf die Affäre angesprochen wurde, die ich Martin unterstellt habe. Natürlich hab ich das verneint. Alle haben mich vor Martins Tod doch wie eine Bekloppte behandelt. Die Leute waren überzeugt, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Aber dann, nach dem Anruf, ist mir alles klar geworden. Du bist dieser Privatdetektiv, von dem die Rede war. Vielleicht hat der, der dich engagiert hat, den Produzenten von dir erzählt. Die Sendung wird beweisen, dass du Martin umgebracht hast.«
Er lachte verächtlich. »Du musst so verrückt sein wie vor fünf Jahren, wenn du glaubst, dass ich deinen Mann umgebracht hätte.«
»Die ganze Zeit habe ich dich bloß für jemanden gehalten, dem ich in meiner Dummheit meine Probleme anvertraut habe. Aber es ist doch kein Zufall, dass du alles aufgezeichnet hast. Du bist von jemandem geschickt … von jemandem angeheuert worden. Wer war es? Daniel Longfellow?«
Wieder lachte er. »Es ging immer nur um dich und mich, Kendra. Ich würde auch gern die Wahrheit erfahren nach so langer Zeit. Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass du mit dem Mord an deinem Mann nichts zu tun hast?«
»Natürlich nicht«, entgegnete sie. »Ich dachte doch, du wärst es gewesen!«
»Da bist du auf dem falschen Dampfer, Schwester. Hör zu, mir kommt es so vor, als wüssten die Produzenten überhaupt nichts. Halt den Mund, wie wir es vereinbart haben. Ich gebe dir dann Bescheid, wenn der nächste Zahltag ansteht.« Er ging los, aber Kendra rief ihm hinterher.
»Die Produzentin hat mir deinen Namen nicht genannt, aber ich hab ihn herausbekommen – Mr. Brenner.«
Brenner erwiderte etwas, aber er war zu weit von Kendra entfernt, sodass er im Lärm der vorbeifahrenden Autos nicht zu verstehen war.
Kendra antwortete: »Die Produzentin hat mir dein Bild geschickt, und ich habe es auf der Google-Bildersuche hochgeladen. Daraufhin ist deine Website angezeigt worden. Du bist Joe Brenner und hast eine Lizenz als Privatdetektiv, die du wahrscheinlich nicht verlieren willst.« Sie ging drei Schritte auf ihn zu. Selbst auf dem Bildschirm war ihre Angst zu erkennen, sie musste sich aber daran erinnert haben, mit dem Mikro so nah wie möglich an Brenner zu sein. »Seit Jahren drohst du mir, mit diesen Aufzeichnungen zur Polizei zu gehen. Die Polizei könnte aber zu dem Schluss kommen, dass du derjenige bist, der meinen Mann umgebracht hat, damit du mich mein ganzes Leben lang erpressen kannst.«
»Sei jetzt sehr vorsichtig, Kendra. Ich kann es nicht leiden, wenn man mir droht.«
»Du hast von Anfang an gewusst, dass ich unschuldig bin, aber du erpresst mich seit fünf Jahren. Damit ist heute Schluss. Sag mir die Wahrheit, dann trennen sich unsere Wege. Wenn nicht, gehe ich zur Polizei und erzähle alles, was ich weiß, egal, wie es ausgehen mag.«
Brenner lächelte, er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Plötzlich packte er sich Kendras Handy und inspizierte es.
»Genau wie ich befürchtet habe.« Laurie schnappte nach Luft. »Er weiß, dass das Gespräch aufgezeichnet wird.«
Er tastete die Vorderseite von Kendras Kleid ab, worauf sie zurückwich. Dann hörten sie ein Handgemenge, gefolgt von einem lauten »Lass das!«.
Plötzlich hob Brenner den Kopf und drehte sich im Kreis. Als er ihren Transporter mit den Aufbauten entdeckte, stutzte er, dann verharrte sein Blick bei ihnen.
»Er hat uns entdeckt«, sagte Leo.
Bevor Laurie wusste, was sie tat, öffnete sie auch schon die Hecktür des Wagens.
»Laurie, nein!«, rief ihr Vater.
»Dad, er wird mich nicht vor laufender Kamera erschießen. Filmt einfach weiter.«
Ein näher kommendes Taxi hupte laut, als Laurie über die Straße rannte.