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aurie sah durch das Fernglas, wie Leigh Ann die Autotür öffnete und auf dem Beifahrersitz Platz nahm, während Brenner auf der anderen Seite einstieg. Der Wagen stand mit der Frontseite zu ihnen. Nur eine etwa dreißig Zentimeter hohe Barriere aus Eisenbahnschwellen trennte den Parkplatz von den Sportplätzen.
Ihre Gedanken rasten. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden – seitdem Alex Joe Brenner auf dem Foto erkannt hatte – war sie überzeugt gewesen, dass Brenner Martin Bell umgebracht hatte, damit er Kendra erpressen konnte. Jetzt rief sie sich wieder seine Worte ins Gedächtnis: Ich würde auch gern die Wahrheit erfahren nach so langer Zeit. Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass du mit dem Mord an deinem Mann nichts zu tun hast?
Laurie hätte es gleich erkennen können. Brenner war nicht engagiert worden, um Martin Bell zu töten, und das hatte er auch nicht getan.
»Dad«, sagte sie, während sie nach wie vor durch das Fernglas spähte, »wir müssen was unternehmen. Brenner ist nicht unser Mörder. Sondern Leigh Ann.«
Sie hatte Brenner mit seinem kahl rasierten Schädel und seinem kalten Blick als üblen Kerl eingestuft. Er war sicherlich kein Engel, aber das machte ihn noch lange nicht zum Mörder.
Leigh Ann Longfellow andererseits hatte die Rolle der unschuldigen Außenstehenden gespielt, der »Anderen«, als die
sie von der paranoiden Ehefrau bezeichnet worden war. Und Laurie war wie alle anderen darauf hereingefallen.
Ihre Worte überschlugen sich fast. »Dad, bei der Überprüfung von Leigh Anns Alibi hat sich die Polizei ausschließlich auf Daniel Longfellow gestützt, nicht wahr? Er hat sich mit den Senatoren getroffen. Er hat das Hotelzimmer reserviert. Sein Bild war in den Zeitungen. Und er hat bestätigt, dass seine Frau ihn auf dieser Reise begleitet hat.«
Sie sah jetzt alles ganz klar vor sich. Eine Affäre zwischen zwei unglücklich Verheirateten: Martin, der wegen der Depression seiner Frau nach Abwechslung suchte, Leigh Ann, der es nicht gefiel, dass es mit der Karriere ihres Mannes in Albany nicht recht voranging. Laurie stellte sich Leigh Anns Reaktion vor, als ihr Mann vom Gouverneur als Nachfolger des alten Senators genannt wurde. Endlich konnten sie die Bundeshauptstadt verlassen. Endlich wären sie in Washington, D.C. Und er gehörte zu den aussichtsreichsten Kandidaten für das Weiße Haus.
Aber Martin Bell wollte das alles nicht. Er wollte eine Hausfrau und Stiefmutter für seine Kinder.
Leigh Ann … Bell? Nein. Nie und nimmer. Leigh Anns Kinder, das waren ihre Hunde. Martin war für sie nichts anderes als eine Ablenkung, als ihre perfekte Bilderbuchehe kurz ins Wanken geraten war.
Aber Martin war keiner, der ein Nein akzeptierte. Er war jemand, der seiner Frau die medizinische Karriere ausgeredet hatte. Der anderen erzählte, dass sie verrückt sei. Der sie lieber mit Medikamenten vollpumpte, statt sich um eine vernünftige Behandlung für sie zu kümmern.
Wie Laurie über Martin Bell und Leigh Ann Longfellow gesagt hatte: Sie waren wie Feuer und Wasser.
Es lag eigentlich alles auf der Hand.
»Dad, wir müssen was unternehmen. Ich fürchte, Leigh Ann will Joe Brenner töten.«