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A ls Brenner die Waffe in Leigh Ann Longfellows Hand sah, kannte er die Wahrheit.
»Natürlich, Sie waren es«, sagte er kaltschnäuzig. »Und ich dachte immer, es wäre Kendra gewesen.«
»Fahren Sie los.«
»Wohin?«
»Das sage ich Ihnen dann.«
Er ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein und stieß langsam aus dem Parkplatz. Er überlegte, wie er um Hilfe rufen könnte. Aber woher sollte denn Hilfe kommen? Er argwöhnte, dass der Wagen hinter den Bäumen ihm gefolgt war, aber das würde ihm jetzt nichts mehr nützen, wenn Leigh Ann ihn erschoss. Wenn er sich wegen Erpressung vor Gericht zu verantworten hatte, dann sollte es so sein. Im Moment jedenfalls wollte er bloß überleben. Er musste sie irgendwie ablenken.
»Ich hab Sie zusammen gesehen«, sagte er. »Sie und Martin. Sie beide, es sah so aus, als wären Sie … scharf aufeinander gewesen. Er war doch keine Bedrohung. Warum mussten Sie ihn erschießen?«
Leigh Ann wirkte jetzt weniger angespannt. Sie war selbstsicher – so wie er sonst – und schien den kurzen Moment der Panik, den er bei ihr wahrgenommen hatte, als sie die Waffe zog, überwunden zu haben. Er hatte keine Ahnung, ob das zu seinem Vorteil war oder nicht. Er wusste nur, er musste sie am Reden halten, sich Zeit erkaufen. Sie schien kaum bemerkt zu haben, dass der Wagen stehen geblieben war .
»Ich dachte auch, dass er ein harmloser Kerl wäre. Das erklärt vielleicht, warum ich mich überhaupt auf ihn eingelassen habe. Ich war zu Tode gelangweilt, und Martin gab einen netten Zeitvertreib ab, wenn Danny nicht da war. Aber ihn lieben? Ihn?« Die Vorstellung fand sie offensichtlich lächerlich. »Wenn er von seinen tollen Plänen sprach – er wollte Kendra verlassen, ich sollte Danny verlassen, damit wir zusammensein konnten –, tat ich immer so, als würde ich ihm zustimmen, aber ich hatte nie gedacht, dass er auch nur ein Wort davon glauben würde. Die Frau eines Doktors zu sein, das war doch das Letzte, was ich wollte – ganz zu schweigen von der Rolle der Stiefmutter. Ich kann Kinder noch nicht mal leiden. Und als bekannt wurde, dass Danny den Sitz im Senat erhält, war mir klar, dass damit die Krise in unserer Beziehung überwunden war. Ich erklärte Martin, dass es vorbei sei. Aber das wollte er nicht akzeptieren. Er drohte, Danny von der Affäre zu erzählen, wenn ich mit ihm Schluss mache. Ich sagte ihm, ›mach, was du willst, Daniel vergöttert mich.‹ Er würde mich nie verlassen. Wenn überhaupt, würde er sich noch mehr um mich und meine Zuneigung bemühen. Aber dann drohte Martin damit, alles an die Öffentlichkeit zu bringen, gerade als Dannys Karriere einen gewaltigen Sprung nach vorn machte. Das konnte ich nicht zulassen.«
Jetzt wusste Brenner, dass er es mit einer Frau zu tun hatte, die wirklich alles für sich rechtfertigen konnte. Ihrer Ansicht nach waren Kendra und Daniel schuld an der Affäre zwischen ihr und Martin. Martin war selbst schuld an seinem Tod, und er selbst wäre schuld an der Kugel, die sie für ihn vorgesehen hatte.
»Weiß Ihr Mann, was Sie getan haben?«, fragte er.
»Danny? Natürlich nicht. Er weiß noch nicht einmal, dass ich eine Waffe habe. Ich habe sie zu meinem Schutz gekauft, als er so oft und so lange in Albany war. Ich musste sie mir auf der Straße besorgen, der Himmel möge verhüten, dass das Wahlvolk in New York City erfährt, dass ein von ihm gewählter Vertreter eine Waffe im Haus hat. Er war so überzeugt von meiner Unschuld, dass er der Polizei ohne zu zögern erzählte, ich sei an dem Abend mit ihm in Washington, D.C., gewesen. Ich sagte ihm, das sei der beste Weg, damit sich die Ermittler darauf konzentrieren könnten, den wahren Täter zu finden.«
Brenner besaß vier Waffen – die allerdings alle zu Hause lagen. So überzeugt war er gewesen, dass er die Fäden in der Hand hielt. Fünf Jahre hatte er geglaubt, Kendra und Leigh Ann unter Kontrolle zu haben.
»Ich sagte, Sie sollen fahren.« Leigh Anns Stimme war jetzt eiskalt.
Brenner fuhr los und bog auf die Straße ein, die aus dem Park hinausführte.
Er sah sie schon beide auf einer abgelegenen Gewerbestraße, wo sie ihm eine Kugel in den Kopf jagte. Getarnt als Selbstmord, nachdem sie ihm ihre unregistrierte Waffe in die Hand gedrückt hatte. Er würde für den Mord an Martin Bell verantwortlich gemacht und auf dem Armenfriedhof Potter’s Field bestattet werden.
»Ich glaube, jemand ist uns gefolgt«, sagte er und deutete zu der Ansammlung von Bäumen links in der Ferne. Das war der Moment, den er brauchte. Kurz sah Leigh Ann von ihm weg. Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, gleichzeitig riss er das Lenkrad scharf nach links. Der 707-PS -Motor röhrte auf, der Wagen raste auf die Eisenbahnschwellen zu. Leigh Ann musste sich mit den Händen abstützen, und als sie wieder die Waffe auf ihn richtete, krachten die Vorderreifen gegen die Schwellen, der Wagen stellte sich auf und hob ab. Leigh Ann feuerte, aber der Schuss verfehlte Brenner und zerstörte teilweise die Windschutzscheibe auf seiner Seite.
Brenner packte Leigh Ann am Arm, versuchte ihr die Pistole zu entreißen, bekam sie aber nur kurz zu fassen und verlor sie gleich wieder, als der Wagen stark wippend auf dem Boden aufsetzte. Er umfasste ihr Handgelenk, versuchte die Pistole auf das Armaturenbrett zu richten, und wieder löste sich ein Schuss. Diesmal durchschlug er den Navi-Bildschirm.
Brenner warf sich auf Leigh Ann, umklammerte mit einer Hand weiter ihr Handgelenk, packte mit der anderen den Pistolenlauf und wollte ihr mit einem Ruck die Waffe entwinden. Dann hörte er einen lauten Knall, er wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert und gleich darauf nach hinten gerissen, und erneut ertönte ein Schuss, wie er glaubte. Aber der Wagen war jetzt zum Stillstand gekommen und gegen die Betonstütze für das Netz hinter der Homeplate gekracht. Beide Airbags hatten sich geöffnet und drückten Brenner und Leigh Ann in ihre Sitze.
Leigh Ann schlug die Augen auf. Brenner saß zusammengesackt in seinem Sitz, der Kopf lag vorn auf der Brust. Als sie sich bewegte, stieß sie mit dem Fuß gegen einen Gegenstand auf dem Boden. Sie schob den erschlafften Airbag zur Seite und hob die Pistole auf.