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Zwei Wochen später
L aurie sah zu, wie Ryan Nichols mit ernstem Gesicht in die Kamera sah. »Daniel und Leigh Ann Longfellow wurden als die Regenten eines neuen amerikanischen Camelot bezeichnet – ein wunderbares, einander in inniger Liebe zugetanes Politikerehepaar, das mit seinen politischen Ansichten, seiner uneingeschränkten Glaubwürdigkeit und seinem persönlichen Charme das Potenzial besaß, eine geteilte Nation wieder zu einen. Heute Abend werden wir einen näheren Blick auf die schockierenden Ereignisse werfen, die dazu führten, dass sich Leigh Ann in polizeilichem Gewahrsam befindet und wegen Mordes mit einer lebenslangen Haftstrafe zu rechnen hat, während Daniel Longfellow um seine politische Zukunft kämpft.«
Erwartungsgemäß hatte Brett Young den Sendetermin der nächsten Folge keine vierundzwanzig Stunden nach Leigh Anns Verhaftung bekannt gegeben. Als Laurie darauf hinwies, dass ihnen noch nicht einmal genügend Bildmaterial vorlag, hatte er ihr nur augenzwinkernd erwidert: »Nichts motiviert doch dich und dein Team mehr als eine Deadline.«
Zwei Wochen hatten sie durchgearbeitet, aber jetzt waren sie mit der Produktion fast fertig. Sie hatten sich Ryans Einführung und Abschlusskommentar bis zum Ende aufgehoben, um auch die neuesten Entwicklungen berücksichtigen zu können.
Für Brenner würde es keine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte geben. Er würde sich für eine Vielzahl von Vergehen verantworten müssen, nachdem er Leigh Ann Longfellow und Kendra Bell mehrere Jahre lang erpresst und bedroht hatte. Kendra war zu der Aussage bereit, dass ihre zahlreichen Geldabhebungen und Zahlungen an ihn dazu gedient hatten, sie und ihre Kinder zu schützen. Ironischerweise war die Aufzeichnung seines Gesprächs mit Leigh Ann auf Randall’s Island – ursprünglich dazu gedacht, sie weiterhin zu erpressen –, jetzt ein wichtiger Beweis gegen ihn. Die Polizei hatte bei seiner Verhaftung das Aufnahmegerät beschlagnahmt. Ohne Zweifel drohten ihm mehrere Jahre Gefängnis.
Auch im Fall von Leigh Ann Longfellow schien die Beweislage hieb- und stichfest zu sein. Sie konnten sich auf Brenners Aufzeichnung stützen, daneben hatten die ballistischen Untersuchungen ergeben, dass die Neun-Millimeter-Pistole, die sie auf Randall’s Island bei sich gehabt hatte, dieselbe war, mit der Martin Bell getötet wurde. So überzeugt war sie gewesen, wegen dieser Tat nicht belangt zu werden, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, die Tatwaffe loszuwerden. Leigh Ann würde vermutlich den Rest ihres Lebens oder zumindest den größten Teil davon hinter Gittern verbringen. Außerdem würde die Polizei untersuchen, welche Rolle ihre Anwaltskanzlei bei den Zahlungen an Brenner gespielt hatte.
Neben der Arbeit an der Sendung hatte Laurie in der vorangegangenen Woche noch Zeit gefunden, ihre Aussage vor dem Geschworenengericht abzugeben, damit Willie Hayes wegen versuchten Mordes angeklagt werden konnte. Hayes erzählte der Polizei, er habe Laurie lediglich seine Sicht der Dinge nahebringen wollen, weil er hoffte, sie würde daraufhin ihre Beziehung zu Alex beenden. Aber das Einschussloch in der Zimmerdecke erzählte eine andere Geschichte. Möglicherweise würde ihm nie nachgewiesen werden, dass er sie vor der Pianobar angegriffen hatte, dennoch würde er für einige Jahre hinter Gitter wandern .
Verärgert sah Ryan zur Studiotür, als jemand anklopfte. Im Gang brannte das Licht, das allen anzeigte, dass sie für die Sendung aufzeichneten und keiner sie stören sollte. Eine Sekunde später ging die Tür auf. Jerry stand vor ihnen. »Tut mir leid, wir müssen sowieso alles umschreiben. Daniel Longfellow wird in fünf Minuten eine Presseerklärung abgeben.«
Grace, Jerry, Ryan und Laurie versammelten sich um den Konferenztisch in Lauries Büro und sahen zu, wie Senator Longfellow vor die Kameras trat. Zwei Wochen lang war es ihm gelungen, sich zur Verhaftung seiner Frau nicht zu äußern, sah man von Plattitüden ab wie »konzentriere mich weiterhin auf meine Arbeit für das amerikanische Volk«, »kooperiere voll und ganz mit den Ermittlungsbehörden« und »vertraue dem besten Rechtsprechungssystem der Welt«. Politische Beobachter hatten sich enttäuscht gezeigt, dass er unter den gegebenen Umständen nicht selbst längst verhaftet wurde, ganz zu schweigen davon, dass er nach wie vor seiner Arbeit nachging.
Laurie hatte seit Leigh Anns Verhaftung Longfellow nicht mehr gesehen. Er schien fünf Kilo abgenommen zu haben und ein ganzes Jahrzehnt älter geworden zu sein.
»Vor fünf Jahren habe ich gegenüber der Polizei ausgesagt, dass meine Frau Leigh Ann mit mir nach Washington, D.C., gereist sei, wo ich vor meiner Ernennung zum Senator mit politischen Führern zusammengetroffen bin. Das war eine Lüge. Ich könnte Ihnen erklären, warum ich das zum damaligen Zeitpunkt für eine harmlose Aussage hielt, aber letztlich spielt es keine Rolle. Meine Aussage war eine Lüge, schlicht und ergreifend, und sie war ein Fehler. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass meine Frau in den Mord an Dr. Martin Bell verwickelt ist. Als sich die Polizei bei uns meldete, habe ich tatsächlich angenommen, ich wäre der Verdächtige bei den Ermittlungen. Die Polizei sprach als Erstes mit Leigh Ann, die bei der Befragung angab, mit mir in Washington gewesen zu sein. Dadurch war ich also gezwungen, eine Entscheidung zu treffen: Ich konnte entweder ihre Version bestätigen oder der Polizei sagen, dass die Frau, die ich liebe, soeben eine Falschaussage zu meinen Gunsten abgegeben hatte. Immerhin wusste ich, dass ich unschuldig war, ich hatte ein wasserdichtes Alibi, ich sah also keinen Schaden darin, wenn ich meine Frau schützte. Ich schwöre der amerikanischen Öffentlichkeit, dass mir nie der Gedanke kam, sie hätte lügen können, um für sich ein Alibi zu schaffen. Aber wie gesagt, das alles spielt keine Rolle mehr. Wir leben in einem Rechtsstaat, und ich wurde der Verantwortung, die wir als Bürger dieses Landes haben, nicht gerecht. Ich werde mir jetzt anhören, was mir meine Freunde, meine vertrauten Ratgeber und vor allem Sie, meine Wählerinnen und Wähler, zu sagen haben, um zu entscheiden, welche Schritte ich als Nächstes unternehmen werde. Aber egal, was geschieht, ich verspreche, bei der Strafverfolgung meiner Frau Leigh Ann« – seine Stimme brach kurz – »mitzuwirken und das Vertrauen der Öffentlichkeit nie mehr zu enttäuschen. Schließlich möchte ich mich zutiefst bei Martin Bells Eltern, Cynthia und Robert Bell, entschuldigen, bei dessen Kindern Bobby und Mindy sowie bei seiner Witwe Kendra Bell, die jahrelang völlig ungerechtfertigt mit diesem schrecklichen Verdacht leben musste. Meine Unehrlichkeit und Feigheit haben verhindert, dass sie die Wahrheit über Martins Tod erfahren haben, eine Schande, mit der ich für immer leben muss.«
Nachdem er sich von den Mikrofonen entfernt hatte, ohne Fragen entgegenzunehmen, schaltete Jerry den Fernseher aus.
»Das klingt, als könnte er jederzeit in den nächsten Stunden oder Tagen zurücktreten«, sagte Jerry.
»Oder auch nicht«, entgegnete Laurie. »Ich habe heute eine Expertenrunde gesehen, in der meinte man, er könnte es aussitzen. Viele seine Anhänger wollen, dass er weiterhin im Amt bleibt. «
Nachdem Laurie allein war, rief sie Kendra Bell an. Sie entschuldigte sich für die Störung während der Arbeit. »Ich wollte nur sichergehen, dass Sie von Longfellows Pressekonferenz erfahren.«
»Machen Sie Witze? Steven hat sie im Wartezimmer laufen lassen. Das waren zwei harte Wochen, den Kindern zu erklären, warum die Frau des Senators ihrem Vater Böses wollte, aber Sie wissen ja gar nicht, wie gut es sich anfühlt, von jeglichem Verdacht entlastet zu sein.« Sie senkte die Stimme. »Eine von den alten Schachteln, die mich immer so böse angesehen hat, hat mich doch allen Ernstes umarmt und sich entschuldigt. Es ist, als hätte ich mein Leben zurück. Steven kommt heute Abend zu einer kleinen Feier zu uns. Ich war ihm immer so dankbar für seine Freundschaft, erst langsam wird mir richtig klar, dass er der Einzige war, der nie an meiner Unschuld gezweifelt hat.«
»Haben Sie zufällig was von Robert und Cynthia gehört?« Laurie hatte in der Woche zuvor das letzte Mal mit Martins Eltern gesprochen. Sie hatte gespürt, wie sehr sie sich schämten, Kendra jahrelang verleumdet zu haben, aber eine Entschuldigung kam den beiden nicht leicht über die Lippen.
»Wir haben sie letztes Wochenende in ihrem Landhaus besucht. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich die Einladung annehmen soll, aber Caroline hat mich dazu überredet. Sie meint, ich sollte ihnen die Chance geben, wieder ganz normale Großeltern zu sein und nicht mehr meine Feinde. Ob Sie es glauben oder nicht, sie waren sehr freundlich zu mir. Aber was noch wichtiger war, ich sehe endlich, wie sehr sie Bobby und Mindy lieben – auf ihre ganz eigene, verkrampfte Art«, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Sogar Caroline macht einen gelösten Eindruck. Ich war nicht die Einzige, die in den vergangenen Jahren die Last von Martins Ermordung zu tragen hatte. Wie auch immer, es hat sich einiges verändert für die Familie, und dafür muss ich Ihnen danken. «
Kendra klang erleichtert. Glücklicher. Laurie hatte sechs Jahre gebraucht, bis sie sich nach Gregs Tod vorstellen konnte, einen anderen in ihr Leben zu lassen und dieses mit ihm zu teilen. Kendra Bell näherte sich dem gleichen Punkt.
Laurie gratulierte Kendra erneut und teilte ihr mit, dass sie sich melden werde, sobald sie mit der Produktion fertig seien. Sie hatte gerade aufgelegt, als ihr Handy summte. Es war eine SMS von Alex: Wir sind unten.
Draußen wartete ein schwarzer Wagen. Timmy sprang aus dem Fond, umarmte sie und setzte sich anschließend auf den Beifahrersitz neben Ramon, während Laurie hinten zu Alex einstieg.
»Das alles muss einfacher zu bewerkstelligen sein«, sagte Laurie. Ramon hatte Timmy von der Schule abgeholt, war dann zum Bundesgericht gefahren, wo Alex gewartet hatte, und war jetzt in Midtown, um Laurie einzusammeln.
Timmy sah mit einem breiten Grinsen nach hinten. »Das ist schon okay, Mom. Ramon mag es, wenn ich mitfahre. Wir hören dann Jazz, und ich erzähle ihm was über die einzelnen Musiker.«
»Und manchmal muss er sich auch die Hip-Hop-Sender anhören, die ich gut finde«, warf Ramon ein. »Wir könnten auch in einem dieser Filme sein, wo ein Alter und ein Junger in den Körper des jeweils anderen schlüpft. Also, wohin soll es jetzt gehen?«
Ramon und Timmy wussten nur, dass sie alle zusammen irgendwohin fuhren. Alex nannte Ramon die Adresse des Gebäudes an der 85th Street zwischen der 2nd und 3rd Avenue.
Sie stiegen aus, und Timmy und Ramon folgten ihnen und Rhoda Carmichael, die auf sie vor dem Gebäude gewartet hatte, im Aufzug hinauf in den fünfzehnten Stock. Mit Erleichterung sah Laurie, dass das Absperrband der Polizei wie versprochen von der Eingangstür entfernt worden war .
»Die Eigentümer akzeptieren unser Angebot«, sagte Alex glücklich. »Aber bevor wir alles offiziell machen, sollten wir sicherstellen, dass sich auch alle hier wohlfühlen. Wenn nicht, suchen wir weiter.«
Fünf Minuten darauf war es offiziell. Die Wohnung sollte ihr neues Zuhause werden.
»Wir haben definitiv die beste ›Wie habt ihr eure Wohnung gefunden?‹-Geschichte«, sagte Alex, als sie auf der Kücheninsel die letzten Dokumente zur Angebotsabgabe unterzeichneten.
Ramon und Timmy gingen schon zum Wagen voraus, Laurie und Alex waren noch einmal stehen geblieben und warfen einen letzten Blick auf die Stuckverkleidung an der vier Meter hohen Decke in der Diele. Er nahm ihre Hand. »Denk an die vielen Erinnerungen, die wir uns hier gemeinsam schaffen werden.«
Sie dachte bereits an die kleine Person, die vielleicht in dem netten Eckzimmer gleich neben Timmys Zimmer aufwachsen würde.