von Lowell Thomas
Die Kunst, wirkungsvoll und überzeugend zu sprechen, ist ein sicherer Weg zum Erfolg. Man gerät dadurch ins Rampenlicht und unterscheidet sich von der Masse.
Dale Carnegie hat mehr Reden gehört und beurteilt als wohl irgendein Mensch auf dieser Welt. Wenn jede von den schätzungsweise 150000 Reden auch nur drei Minuten lang gedauert hat, so brauchte man zehn Monate, Tage und Nächte, um sie alle nacheinander anzuhören.
Dale Carnegies eigene Karriere, in der die größten Gegensätze aufeinanderprallen, ist ein Musterbeispiel dafür, was ein Mensch zu leisten vermag, wenn er von einer Idee besessen ist und vor Unternehmungsgeist sprüht.
Dieser Junge, der auf einer Farm in Missouri geboren wurde, fünfzehn Kilometer von der nächsten Eisenbahn entfernt, und der bis zu seinem zwölften Lebensjahr noch nie eine Straßenbahn gesehen hatte, sollte einmal die entferntesten Ecken der Erde, von Hongkong bis Hammerfest, kennenlernen und sogar näher an den Nordpol herankommen als Admiral Byrd seinerzeit an den Südpol. Dieser Junge, der in Missouri einst für fünf Cents in der Stunde Erdbeeren pflückte, wurde später teuer dafür bezahlt, daß er Geschäftsführer großer Unternehmen in der Kunst der Rede unterrichtete.
Dieser ehemalige Cowboy, der Rinder treiben, Kälber brennen und Pferde zureiten mußte, hielt in London Vorträge unter dem Patronat der königlichen Familie.
Dieser Bursche, der die ersten Male völlig versagte, als er in der Öffentlichkeit zu sprechen versuchte, hatte es nicht leicht gehabt in seiner Jugend. Unglück und Not waren ständige Gäste auf der Farm. Jahr für Jahr stieg der Fluß, überschwemmte die Felder und riß das Heu weg. Waren die Schweine gerade fett, so wurden sie krank und gingen ein. Die Preise für Maultiere und Rindvieh fielen ins Bodenlose, und die Bank drohte mit Pfändung.
Völlig entmutigt entschloß sich die Familie zum Verkauf und erwarb eine andere Farm in der Nähe von Warrensburg, Missouri. Dort besuchte Dale das staatliche Lehrerseminar. Für einen Dollar am Tag hätte er in der Stadt Unterkunft und Verpflegung gefunden – aber diesen Dollar hatte er nicht. Also wohnte er weiterhin auf der Farm und legte die fünf Kilometer bis zum Seminar täglich zu Pferd zurück. Zu Hause melkte er die Kühe, spaltete Holz, fütterte die Schweine und lernte beim Schein einer Petroleumlampe lateinische Verben, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen und er einnickte.
Selbst wenn er erst um Mitternacht ins Bett kam, stellte er den Wecker auf drei Uhr. Sein Vater züchtete nämlich reinrassige Duroc-Jersey-Schweine, und in den bitterkalten Nächten konnte es leicht geschehen, daß eines der kleinen Ferkel erfror. Deshalb steckte man sie alle zusammen in einen Korb, der mit einem Jutesack zugedeckt und hinter den Küchenherd gestellt wurde. Nun lag es aber in der Natur dieser Tierchen, daß sie um drei Uhr eine warme Mahlzeit verlangten. Wenn der Wecker um diese Zeit losging, kroch Dale Carnegie aus den Federn, trug den Korb mit den Ferkeln hinaus zu ihrer Mutter, wartete, bis sie satt waren, und stellte sie dann wieder hinter den Herd.
Das Seminar zählte insgesamt sechshundert Schüler. Dale Carnegie gehörte zu jenem halben Dutzend Außenseiter, die es sich nicht leisten konnten, in der Stadt zu wohnen. Er schämte sich seiner Armut, die ihn zwang, jeden Abend auf die Farm zurückzureiten. Er schämte sich auch seiner zu engen Jacke und der zu kurzen Hose. Er entwickelte sehr schnell einen Minderwertigkeitskomplex und sah sich nach einer Möglichkeit um, sich vor den andern hervorzutun. Er hatte bald heraus, daß gewisse Gruppen innerhalb des Seminars ein besonderes Ansehen genossen – die Fußball- und Baseballspieler sowie diejenigen, welche sich an den Debattier- und Rednerwettbewerben die ersten Preise holten.
Da er unsportlich war, beschloß er, einen der Rednerwettbewerbe zu gewinnen. Monatelang bereitete er sich darauf vor, übte im Sattel, wenn er zur Schule und wieder zurückritt, und übte beim Melken. Während er in der Scheune Heu aufschichtete, hielt er den erschreckten Tauben mit großem Stimmaufwand und weit ausholenden Gesten flammende Reden über das Tagesgeschehen.
Doch trotz seines Einsatzes und seiner Vorbereitungen mußte er eine Niederlage nach der andern einstecken. Er war damals achtzehn, empfindsam und stolz. Er wurde so mutlos und deprimiert, daß er sogar an Selbstmord dachte. Und plötzlich gewann er nicht nur einen Rednerwettbewerb, sondern gleich sämtliche Rednerwettbewerbe des Seminars.
Seine Mitschüler baten ihn, ihnen zu helfen – und gewannen ebenfalls.
Nach den Abschlußexamen begann er den Siedlern zwischen den Sandhügeln von West-Nebraska und Ost-Wyoming Lehrgänge über Korrespondenz zu verkaufen. Doch trotz seiner grenzenlosen Energie und Begeisterung hatte er keinen Erfolg. Enttäuscht warf er sich in seinem Hotelzimmer in Alliance, Nebraska, aufs Bett und weinte vor Verzweiflung. Er sehnte sich zurück ans Seminar, sehnte sich danach, den harten Lebenskampf überhaupt aufzugeben. Weil er beides nicht konnte, beschloß er, nach Omaha zu gehen und eine andere Arbeit zu suchen. Da er kein Geld für eine Fahrkarte hatte, reiste er in einem Güterzug und fütterte und tränkte unterwegs als Entgelt für die Fahrt zwei Wagen voll wilder Pferde. In Süd-Omaha fand er eine Stelle als Vertreter für Speck, Seife und Schmalz. Sein Bezirk lag zwischen den Badlands und der viehreichen Indianergegend von Südwest-Dakota. Er reiste in Güterzügen, Postkutschen und zu Pferd umher und schlief in Gasthöfen, deren Zimmer statt durch eine Wand einzig durch einen Baumwollvorhang getrennt waren. Er las Bücher über Verkaufstechnik, ritt bockende Pferde zu, spielte mit Indianern Poker und lernte, wie man am geschicktesten Geld eintreibt. Konnte zum Beispiel ein Ladenbesitzer Speck und Schinken, die er bestellt hatte, nicht bar bezahlen, nahm Dale Carnegie ein halbes Dutzend Paar Schuhe vom Gestell, verkaufte sie an die Eisenbahner und sandte den Erlös an seine Firma.
An manchen Tagen legte er hundertfünfzig Kilometer im gleichen Güterzug zurück. Hielt der Zug an, um Fracht auszuladen, raste Carnegie los, besuchte drei oder vier Kaufleute im Ort und nahm ihre Bestellungen auf. Sobald die Lokomotive pfiff, raste er wie der Blitz zurück und sprang auf den fahrenden Zug auf.
Im Zeitraum von zwei Jahren brachte er seinen Bezirk, der bisher als unrentabel gegolten hatte und umsatzmäßig an fünfundzwanzigster Stelle der insgesamt neunundzwanzig Bezirke lag, in den vordersten Rang. Seine Firma bot ihm eine Beförderung an mit der Begründung, er habe Unmögliches möglich gemacht. Doch er wies das Angebot zurück – und kündigte. Dann fuhr er nach New York, schrieb sich an der Akademie für dramatische Kunst ein und zog mit einem Wandertheater herum, bei dem er in einem Stück namens Zirkus Polly die Rolle des Dr. Hartley spielte.
Er war vernünftig genug einzusehen, daß er nicht das Zeug zu einem großen Schauspieler hatte, und kehrte wieder zum Handel zurück. Diesmal als Vertreter für Lastwagen.
Er hatte keine Ahnung von Motoren, und sie interessierten ihn auch nicht. Todunglücklich mußte er sich täglich von neuem zur Arbeit zwingen. Er wünschte sich Zeit, um all die Bücher zu schreiben, von denen er im Seminar geträumt hatte. Also kündigte er wieder und beschloß, von nun an tagsüber Geschichten und Romane zu schreiben und sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer an einer Abendschule zu verdienen.
Aber in welchem Fach? Wenn er an seine Seminarzeit zurückdachte, so war ihm klar, daß das damalige Training als Redner ihm weit mehr Selbstbewußtsein, Mut, Gelassenheit und Geschick im geschäftlichen Umgang vermittelt hatte als der ganze übrige Unterricht zusammengenommen. Also wandte er sich an die Schule des Christlichen Vereins Junger Männer in New York mit der Bitte, ihm Gelegenheit zu geben, einen Rednerkurs für Geschäftsleute durchzuführen.
Wie bitte? Aus Geschäftsleuten Redner machen? Das war unmöglich. Das wußte man dort aus Erfahrung. Man hatte es schon verschiedentlich mit solchen Kursen probiert, und es war noch jedesmal ein Fehlschlag gewesen. Nachdem man ihm sogar ein Honorar von zwei Dollar pro Abend verweigert hatte, erklärte er sich mit einer prozentualen Gewinnbeteiligung einverstanden – falls bei der ganzen Sache überhaupt ein Gewinn herausschaute. Innerhalb von drei Jahren bezahlte man ihm auf dieser Basis dreißig Dollar pro Abend – anstatt zwei.
Die Beteiligung an diesen Kursen wurde immer größer. Andere Schulen, andere Städte hörten davon. Dale Carnegie wurde bald ein berühmter Wanderlehrer und reiste ständig zwischen New York, Philadelphia und Baltimore hin und her, später auch noch nach London und Paris. Die vorhandenen Lehrbücher waren aber viel zu wissenschaftlich und unpraktisch für die Geschäftsleute, die in Scharen in seine Kurse strömten. Also setzte er sich hin und schrieb sein eigenes Lehrbuch über die Kunst der freien Rede und des geschäftlichen Einflusses. Es wurde an vielen Schulen, bei Berufsverbänden und Vereinen zum offiziellen Lehrbuch.
Dale Carnegie behauptete, daß in der Wut jeder Mensch sprechen kann. Es genügt, den erstbesten Mann, der einem über den Weg läuft, mit einem Kinnhaken umzulegen, und kaum hat er sich wieder aufgerappelt, redet er mit einer Gewandtheit, einem Eifer und einer Bestimmtheit, die jeden Politiker vor Neid erblassen lassen würden. Carnegie behauptete auch, daß jeder in der Lage ist, in der Öffentlichkeit einigermaßen annehmbar zu sprechen, vorausgesetzt, er hat Selbstvertrauen und eine Idee, die in ihm kocht und brodelt.
Selbstvertrauen, meinte er, gewinnt man dadurch, daß man genau das tut, wovor man Angst hat, und auf diese Weise eine Reihe von ermutigenden Erfahrungen sammelt. Deshalb zwang er an jedem Kurstag jeden Teilnehmer zum Sprechen. Die Zuhörer sind wohlwollend, sitzen sie doch alle im selben Boot. Durch ständiges Üben entwickeln die Kursteilnehmer so viel Mut, Selbstvertrauen und Begeisterung, daß sogar ihre privaten Gespräche davon beeinflußt werden.
Dale Carnegie machte es sich nicht zur Lebensaufgabe, Redner auszubilden – das war lediglich ein Nebenprodukt. Seine Hauptaufgabe sah er darin, den Menschen zu helfen, ihre Angst zu überwinden und mutig zu werden.
Er begann zunächst lediglich mit einem Kurs für freies Sprechen. Doch seine Schüler waren Geschäftsleute, Frauen und Männer. Viele unter ihnen hatten seit dreißig Jahren kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen. Die meisten bezahlten ihr Kursgeld in Raten. Sie wollten Resultate – und das möglichst bald. Resultate, die sie schon anderntags in Verhandlungen oder in einer Ansprache vor einer kleinen Gruppe anwenden konnten.
Das zwang Carnegie zu einem ebenso schnellen wie praktischen Vorgehen, und er entwickelte in der Folge ein einzigartiges Lernprogramm – eine erstaunliche Kombination von Rednerkurs, Verkaufstechnik, Umgang mit Menschen und angewandter Psychologie.
Der berühmte amerikanische Psychologe und Philosoph William James pflegte zu sagen, daß der Durchschnittsmensch nur etwa zehn Prozent seiner latenten geistigen Fähigkeiten entfaltet. Indem Dale Carnegie Frauen und Männern half, ihre bisher ungenützten Fähigkeiten zu entwickeln, leistete er einen bedeutenden Beitrag zur Erwachsenenbildung.