7


Ein früher Septembermorgen, der Tag, an dem der Sommer schwindet und der Herbst anbricht. Dicker Nebel drückt sich an den Fenstern hoch. Romy thront auf dem hölzernen Kinderstuhl vom Dachboden, den Jessie restauriert hat, und knabbert an einem der ersten fast reifen Äpfel aus dem Obstgarten. An der kürzlich frisch gestrichenen rosa Küchenwand tickt die Uhr. Die Stille springt einem ins Ohr. Romy stupst den Apfel vom Tisch auf den gefliesten Boden, wo seine Haut mit einem eindrucksvollen dumpfen Geräusch aufplatzt und das weiße, nasse Fleisch zum Vorschein kommt. »Uh-oh.«

Jessie schaut dem Apfel zerstreut nach, der in das kleine Tipi rollt, das sie für Romy aus Stöcken und einem alten Laken in der Küchenecke gebaut hat, dann wandert ihr Blick wieder zur Uhr und dann zu Will, der nach der eiskalten Dusche, die er nehmen musste, weil der Klempner noch immer nicht aufgetaucht ist, mit bläulichen Lippen am Herd steht, peinlich darauf achtend, nicht mit dessen fettverschmierter Front in Berührung zu kommen. Für seine zweite Woche der Investorensuche hat er sich in einen schmal geschnittenen dunkelblauen Anzug, ein sauberes weißes Hemd und italienische Lederschuhe geworfen. Er scheint auf seltsame Art uneins mit seiner Umgebung und droht jeden Moment von ihr besudelt zu werden: von dem mit Bastelkleber und Nudelteig verschmierten Schneidebrett; von den fusseligen grauen Schaffellen, die Jessie über die Küchenstühle mit den hölzernen Rückenlehnen gelegt hat, um sie bequemer zu machen. Und von Jessie selbst, deren weiße Jeanslatzhose Spritzer der rosa Küchenfarbe aufweist, die Knie abgewetzt vom Bücken und Brombeerpflücken. Sie ist bereits seit Stunden auf den Beinen, denn Romy, zum Verrücktwerden synchron mit ihrer Umgebung, wacht jetzt immer schon im Morgengrauen beim ersten Hahnenschrei auf. »Was macht Bella denn da oben? Soll ich hochgehen?«, fragt sie, auch wenn sie es eigentlich lieber nicht möchte, denn sie wird sich wohl nie an die Fotogalerie von Mandy gewöhnen.

»Gib ihr noch eine Minute.« Will legt die Stirn in Falten.

»Apfel, Daddy.« Romy zeigt gebieterisch auf den Boden.

»Du hältst mich wohl für ziemlich bescheuert, Fräulein.« Aber Will, der Wachs in Romys Händen wie auch in Bellas ist, hebt ihn trotzdem auf und gibt ihn ihr zurück. Außerdem fühlt er sich schuldig, denn er muss sich schon bald wieder verabschieden

Romy, die nichts von Daddys bevorstehender Abreise ahnt, wackelt grinsend mit ihren nackten kleinen Füßchen, die ständig schmutzig sind vom Herumwuseln auf dem Eichendielenboden des Hauses und den Jahrhunderten von Staub und Gott weiß was in seinen Ritzen. Sie schubst den Apfel wieder vom Tisch. »Uh-oh.«

Jessie greift nach dem Lebkuchenmann-Anhänger an ihrer Halskette. Stress breitet sich als prickelnde Hitze in ihrem Körper aus, und ihr ängstlicher Blick bleibt an der Uhr hängen. Bella muss um acht an der Schulbushaltestelle sein. Obwohl Will sie schon vor einer Stunde mit einer Tasse Tee geweckt hat und angewiesen wurde, wieder zu gehen, ist sie noch immer nicht aufgetaucht. Seit Bella vor ein paar Tagen ihre Examensergebnisse der Sekundarstufe bekommen hat, schläft sie lange, zieht sich immer mehr zurück und brütet in ihrem Zimmer vor sich hin. Die Noten waren ein Schlag vor den Kopf, nicht weil sie unerwartet kamen und nicht weil sie besonders schlecht waren, sondern weil Bella weiß, dass sie so viel besser hätte abschneiden können. Jetzt fürchtet Jessie, dass sie einfach aufgeben oder sich weigern könnte, nach Squirrels zu gehen, und dass sich dann einer der Hauptgründe, warum sie überhaupt aus London weggezogen sind, in Luft auflösen könnte. Was in aller Welt würden sie dann tun? Wie könnten sie es rechtfertigen, hier zu sein?

Die Frage schnürt ihr die Brust ab. Die Realität trifft sie an diesem Morgen hart. Will in seinem Anzug, gewappnet für den Firmenkampf. Die Luft ist feucht und süßlich, der Fluss schwillt langsam an. Gestern sah Jessie bereits Schwalben, winzige schöne Vögel, die sich versammeln und Richtung Süden aufbrechen. Aus irgendeinem Grund trieb ihr dieser Anblick Tränen in die Augen.

Als sie das träge Klappern von Schritten auf der Treppe vernehmen, eilen Jessie und Will hinaus in den Flur. Ihre Finger berühren sich, doch sie wagen es nicht, sie ineinander zu verschlingen. Und da ist Bella, unerwartet schüchtern, die Hand am Holzgeländer, auf halbem Weg nach unten. Bloß dass es nicht die Bella ist, die sie kennen. In dem grauen Faltenrock mit Wollblazer und einer gestreiften burgunderroten Krawatte, das Gesicht frei von jeglicher Schminke und die Haare zurückgebunden, sieht sie aus wie ein Schulmädchen aus längst vergangener Zeit. Ganz anders als der frühreife Teenager in winziger Jeans-Shorts und schwarzer Strumpfhose, der durch London stapfte, den Blick in stiller, düsterer Andacht aufs Handy gesenkt. Will strahlt. Er nimmt Jessies Hand und drückt sie hinter seinem Rücken. Jessie lächelt. »Du siehst toll aus«, sagt sie ehrlich.

»Ich fühle mich wie ein totaler Trottel.«

Nach einem eiligen Frühstück besteht Bella darauf, allein zur Bushaltestelle zu gehen, bloß kein peinlicher Familienabschied. An der Haustür tritt Will bewundernd einen Schritt zurück, nimmt Bella an den Händen und schwenkt ihre Arme hin und her, als wäre sie ein kleines Mädchen in einem neuen Partykleid. »Tut mir leid, dass ich die ganze Woche in London sein muss. Es ist nur, bis ich die Finanzen geregelt habe, okay? Gut. Das ist mein Mädchen. Du musst nicht so tun, als würdest du mich vermissen.«

Jessie wendet den Blick ab. Sie fühlt sich wie ein Eindringling. Als sie wieder hinsieht, geht Bella bereits den Kiesweg hinunter, in den Nebel hinein. Ihr Rock streift die verwelkten silbernen Lavendelköpfe, und bei diesem Anblick ist Jessie kurz ergriffen. »Bella!«, ruft sie. Bella dreht sich um, und es folgt ein verlegener, bedeutungsschwangerer Moment, ein Moment, in dem eine Mutter normalerweise loslaufen und ihre Tochter zum Abschied umarmen würde. Doch der Gedanke an Bellas Zurückzucken hält Jessie davon ab, es überhaupt zu wagen. »Viel Glück«, sagt sie stattdessen.

Bella nickt. Der Moment ist vorüber.

»Schüss, Bell-Bell.« Romy winkt aufgeregt. Bella geht einfach weiter. Sie winkt ihrer kleinen Schwester nicht zurück.

Nun muss auch Will aufbrechen. Er zieht Jessie sanft an den Trägern ihrer Latzhose zu sich hin, bis sich ihre Stirnen und die Nasenspitzen treffen. Über seine Schulter hinweg sieht Jessie durchs Fenster dichte schwarze Wolken, deren Schatten sich wie riesige Luftschiffe langsam über die Hügel auf sie zubewegen. Sie wird von einer Vorahnung erfasst.

Und doch weiß sie, dass es so am vernünftigsten ist. Die Tage, an denen er sich letzte Woche bis nach London und zurück gequält hat, haben bewiesen, dass tägliches Pendeln nicht praktikabel ist, nicht bei all den aufeinanderfolgenden Meetings, den abgesagten Zügen und frühen Terminen. Und es wäre dumm, das Angebot eines hübschen Gästezimmers im Haus einer Freundin während der Woche abzulehnen – unhöflich zudem. Natürlich war seine Gastgeberin, eine geschiedene und sehr attraktive Ärztin namens Kate, eine von Mandys besten Freundinnen. Aber es ist ja nur eine vorübergehende Maßnahme. Er wird die Finanzen schnell geregelt haben.

»Bist du sicher, dass du hier alleine klarkommst?«, fragt er sanft.

Jessie muss an die Frau mit den Hunden denken, die laut Bella gestern Abend wieder auf dem Weg stand und zum Haus herüberstarrte. »Schau dir die Latzhose an und meine uralten Lederstiefel.« Sie lächelt. »Würdest du dich im Ernst mit einer Frau anlegen, die so aussieht?«

»Du siehst echt aus, als würdest du deine Abendzigarre mit der Axt absäbeln.«

Jessie muss an die Fotos der stilvollen, eleganten Mandy in Bellas Zimmer denken, und ihr Lächeln schwindet. Hat Will seine beiden Frauen jemals verglichen? Ist es überhaupt möglich, das nicht zu tun, wenn man bedenkt, dass die Fotos ihm ständig vor Augen sind? Jessie erinnert sich an die Warnungen ihrer Mutter davor, aufs Land zu ziehen, und was das mit ihrer Ehe machen könnte.

Wills Gesichtsausdruck wird ernst. »Jetzt, wo Bella wieder in der Schule ist, wirst du auch andere Mütter aus der Gegend kennenlernen können und all das«, sagt er zögerlich.

»Du meinst, ich soll mich wieder wie ein zivilisierter Mensch benehmen?«, erwidert sie prompt.

»So habe ich das nicht gemeint.«

»Schon gut. Ich weiß schon, was du meinst.« Jessie streicht ihm einen Fussel von der Schulter, eine der grauen Staubraupen, die hier überall von den Balken geschwebt kommen. Sie weiß nicht genau, was sie in diesem Haus alleine anfangen soll. Aber sie bezweifelt, dass morgendlicher Wohltätigkeitskaffeeklatsch bald zu einer vorrangigen Angelegenheit für sie wird. Dafür gibt es noch viel zu viel am Haus zu tun. »Ich werde ziemlich beschäftigt sein. Also mach dir um mich mal keine Sorgen.«

»Ruf mich an, wenn es mit Bella Probleme gibt, ja?«

»Bella wird schon klarkommen«, betont sie und ist sich genauso wie er bewusst, dass sie und die Mädchen zum ersten Mal länger als eine Nacht alleine hier sein werden. Außerdem ist Bellas Stimmung, besorgt über den Start an einer neuen Schule, wieder mal an einem Tiefpunkt, und ihre Gefühle spielen Flipper. Vor ein paar Nächten ist sie wieder schlafgewandelt: Will sah sie wie einen Geist über den Flur der obersten Etage wandern. »Ich und die Mädels werden ohne dich einen Riesenspaß haben.« Sie küsst ihn und verweilt mit ihrer Nase an seiner Wange, versucht, seinen Duft zu speichern. »Und jetzt los. Sonst verpasst du deinen Zug, und wir gehen noch pleite bei dem Versuch, Jackson auszubezahlen, und dann müssen wir für immer wie Bauern aus dem dreizehnten Jahrhundert hier leben.«

»Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, dass es das ist, was du wirklich willst, Jessie«, ruft er ihr noch über seine Schulter zu.

Sie sieht ihm nach, wie er wegfährt, bis sein Auto im Nebel verschwunden ist.

Jessie ist überrascht, wie sehr sie Bella vermisst. Applecote fühlt sich zu still an ohne das Stampfen und Türenknallen und die trockenen Kommentare von der Seite. So ist es jetzt, begreift sie, nur sie und Romy ganz allein in diesem riesigen, stillen Haus. In Bellas Zimmer stellt Jessie den Wäschekorb auf dem Teppich ab, geht zu dem kleinen runden Fenster hinüber und späht hinaus: Es eröffnet ihr eine Vogelperspektive oder die eines Teenagers, so abgetrennt und erhöht, dass alles andere bis zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpft. Der Nebel hat sich endlich gelichtet. Die Steine auf der Wiese wirken wie Rückenflossen in einem fernen Meer. Sie verspürt eine echte Sehnsucht, jetzt dort draußen zu sein, im hohen, feuchten Gras, und nicht in diesem bedrückenden Raum, in dem sie die Erinnerung daran überfällt, wie sie Mandys Kaftan an ihren Körper presste, neidisch auf die Anziehungskraft einer toten Frau. »Los, komm, Romy«, sagt sie abwesend und wirft einen Blick über ihre Schulter. »Ach, du kleiner Spinner. Was machst du denn da?«

Romy hat Bellas Sport-BH auf dem Kopf und wühlt sich durch Jessies Wäschekorb. Jessie lacht und schnappt sich den BH. »Bella bringt dich um. Nein, das kannst du auch nicht haben. Oh Mann, du Zwerg. Weg da, aber schnell.« Sie nimmt den Korb aus Romys Reichweite und stellt ihn mitten auf Bellas Bett. Sie beäugt die beiden Kisten, die zwischen Bett und Wand eingezwängt sind, und fragt sich, was sich darin wohl noch verbirgt.

Romy wandert hinüber zu Bellas Frisiertisch, den Kuriositäten, die Bella darauf zu einem Stillleben drapiert hat: der herzförmige Knopf, alte Zeitungen von 1959, eine sehr hübsche, wenn auch angeschlagene, mit kleinen Goldblumen dekorierte Teetasse und einen neuen Fund aus der Wildnis, ein ziemlich irritierender langer, weißer Knochen, der zu groß ist, um von einem Kaninchen zu stammen.

»Bring diesmal bitte nichts durcheinander, Schätzchen.«

Da Romy in den vergangenen Tagen bereits heftig von Bella gescholten wurde, weil sie in deren Sachen gewühlt hatte – »Du missachtest meine Privatsphäre, kapierst du das nicht?«, zischte Bella, und Romy nickte feierlich, obwohl sie nichts von dem Gesagten verstand – , inspiziert Romy nun alles mit gebührendem Abstand, und beim Anblick der faszinierenden Objekte ihrer geliebten großen Schwester, die sie nicht mehr zu berühren wagt, zuckt es in ihren kleinen Fingern. Jessie lächelt und nimmt sich dann einen Stapel von Bellas Unterwäsche, dreht sich um, öffnet die oberste Schublade von Bellas Kommode – und da sind sie. Briefe.

Jessie weiß sofort, dass sie sie nicht anschauen darf. Doch sie sind nicht ganz hinten verstaut, sondern seitlich in der Schublade an die Socken gelehnt, fast so, als ob sie absichtlich dort hingelegt worden wären, damit sie sie heute Morgen findet.

Jessie schaut zu Romy hinüber, die noch immer in die Gegenstände auf dem Frisiertisch vertieft ist, und verschiebt neugierig den Stapel, um die Handschrift sehen zu können. Es ist Wills. Briefe an seine Tochter zu Hause? Oh, und die von jemand anderem, eine schwungvolle, tadellose Schrift. In diesem Augenblick weiß sie, dass die Briefe aus den Kisten sind. Sie will die Schublade schon hastig schließen, doch dann zögert sie, und abermals schlüpft die Frau, die den Kaftan in die Hand genommen hat, wie ein öliger schwarzer Schatten in sie hinein, und sie schiebt die Hand in den offenen Spalt.

Die Briefe wurden über die Jahre von verschiedenen Orten aus abgeschickt, die Will, wie Jessie weiß, für die Arbeit besucht hatte – Brüssel, Kopenhagen, Paris – , bevor er seine Reisen zurückschraubte, um für Bella da zu sein. Sie sind voller Sehnsucht und ehelicher Zärtlichkeit – »Was haben wir nur in unseren früheren Leben getan, dass wir so gesegnet sind?«, schreibt er –, und es spricht eine erotische Intimität aus ihnen, die Jessie erröten lässt und jede Hoffnung zerstreut, dass Wills Ehe mit Mandy sich vielleicht mit der Zeit abgekühlt haben könnte zu etwas warmherzig Gewohnheitsmäßigem. Mit brennenden Augen überfliegt sie die Briefe von Mandy. Witzig, eigensinnig, so offensichtlich viel wortgewandter als alles, was sie jemals schreiben könnte, springen sie von weltpolitischen Themen zu Persönlichem: dass Bella sich beim Schaukeln die Lippe aufgeschlagen hat; der skandalöse Auftritt einer Geliebten beim Grillfest von Nachbarn; wie sehr sie es vermisst, beim Schlafen seine Hand zu halten. Spitznamen, Witze, die Briefe offenbaren die verschlungene private Welt, über die Jessie und Will nie sprechen. Und dann ist da noch ihre greifbare Realität, schließlich sind es keine SMS oder E-Mails, sondern Briefe, altmodisch und romantisch. Jessie muss ihre Tränen unterdrücken und spürt, wie sich die Worte in ihrem Inneren festsetzen wie winzige Splitter verschluckten Glases. Und es ist allein Romy, als sie schließlich der Versuchung erliegt und sich den herzförmigen Knopf schnappt, die Jessie wieder ins Hier und Jetzt zurückholt und sie erkennen lässt, was sie da tut. Daraufhin stopft sie die Briefe eilig zurück in die Schublade und versucht, sie genau so zu hinterlassen, wie sie sie vorgefunden hat, obwohl sie nicht mehr sicher ist, wie das war.

Jessie zieht gerade alte Tapeten von den Wänden des Zimmers, das ihr Atelier werden soll, als sie die Tür zuschlagen hört. Romy krakelt mit dem Griff eines Pinsels im Staub am Boden herum, hält inne und blickt auf. »Bell-Bell Hause.«

Jessie nickt, das Haar überzuckert mit Staub. Sie hat Briefe aus der Unterwäscheschublade ihrer Stieftochter genommen und sie gelesen. So ein Mensch ist sie. Falls Bella sie dort absichtlich hingetan hat, um sie auf die Probe zu stellen, wird sie ihr dann direkt ansehen, was sie getan hat? Jessie ist sich nicht sicher. Einen winzigen Moment lang, als sie sich im Hausflur gegenüberstehen und sich ihre Blicke treffen, hat Jessie das Gefühl, dass sie sich blind verstehen, doch dann zerstört sie es, indem sie Fragen nach Lehrern und dem Schulessen auf ihre Stieftochter loslässt – zu viele, zu schnell. Am nächsten Tag, nachdem Bella zur Schule gegangen ist, überprüft Jessie die Schublade wieder und sieht, dass die Briefe nicht mehr da sind.

Jessie ruft Lou an, um das, was sie getan hat, einer anderen erwachsenen Person anzuvertrauen, das Terrain zu sondieren, bevor sie Will davon erzählt. Aber Lou hat erst einmal Londoner Klatsch loszuwerden – ein Freund, der sich geoutet hat, ein machtbesessener Chef, ein tanzender Flash-Mob, wegen dem eine ganze U-Bahn-Station geschlossen werden musste – , all das klingt für Jessie wie Nachrichten von einem anderen Planeten. Als Lou schließlich fragt, wie es ihr geht, zögert Jessie und beschließt, die Demütigung durch die Briefe doch für sich zu behalten. Sie ist sich auch nicht mehr sicher, ob sie es Will überhaupt sagen soll. Sie kann sie schließlich nicht ungelesen machen.

Die Woche zieht sich ohne Will, sein Lachen, seinen Geruch, seinen verschlafenen Guten-Morgen-Kuss. Dafür gibt es jede Menge verstörender Gedanken, Geräusche und Herbstspinnen. Jessie und Bella fangen sie zusammen ein – seltene Momente der Harmonie. Bella schreit: »Links, rechts, oh mein Gott, das ist ja ein Riesenvieh, los, los!« Und Jessie robbt auf allen vieren herum mit einem der Marmeladengläser, die sie ganz hinten im Küchenschrank gefunden hat.

Jessie füllt ihre Tage mit körperlicher Betätigung, damit weniger Raum für Selbstanalyse bleibt, weniger Zeit zum Nachdenken über Will und Mandy, die beim Schlafen Händchen halten. Sie unternimmt mit Romy Fahrten durch angrenzende Dörfer, Täler und Märchenwälder. Auf einem dieser Ausflüge stößt sie zufällig auf ein Café, etwa fünfzehn Kilometer entfernt – das zählt als ortsnah, lernt sie – , und es fühlt sich an wie eine Oase der Kultur. An eine Gärtnerei angeschlossen, finden dort Jazzabende und Lyriklesungen statt, Dinge, die sie in einem anderen Leben zurückgelassen zu haben glaubte. Es befindet sich in einem hübschen alten Gewächshaus, dekoriert mit den Werken lokaler Künstler, und geführt wird es, in einer Wolke aus Dampf und trockenem Humor, von einer großgewachsenen, wortgewandten Frau Anfang siebzig mit der Haltung einer Tänzerin und einer Vorliebe für mächtige Halsketten – wahren Fäusten aus Lapislazuli und Türkisen – , die das leuchtende Blau ihrer Augen hervorheben. Sie hat so eine Art, freundlich in Jessies Richtung zu blicken, als ob sie deren unruhige Gedanken spüren könnte. Und der sehr nette Mann in der Gärtnerei, der die ergraute Attraktivität eines Robert Redford hat, beantwortet geduldig ihre naiven Gärtnerfragen. Er verkauft ihr einen Zwergzitronenbaum mit drei winzigen sonnengelben Zitronen daran, den sie in einen Tontopf in der Orangerie pflanzt. Sie fotografiert Romy, die mit einer kleinen Schaufel danebensteht, und schickt das Foto an Will als Beweis ihres glücklichen neuen Lebens und postet es anschließend noch auf Facebook.

Ihr Leben wird vierzigmal geliked. Und schon fühlt sie sich ein bisschen besser damit.

Am Fenster des Dorfladens klebt ein welliger Werbeflyer: »Joe Peat. Bauarbeiten. Gelegenheitsarbeiten. Haus und Garten. Nehme jeden Auftrag an.« Jessie hinterlässt ihm eine Nachricht auf der Mailbox. Der Nachname Peat – Torf – klingt vertrauenerweckend. Sie schreibt sich auch die Details lokaler Kleinkinderspielgruppen auf und hat das Gefühl, etwas geschafft zu haben.

Freitag ist der Tag, an dem Will zurückkehrt: Jessie merkt, dass sie die ganze Woche lang den Atem angehalten hat. Die Welt wird wieder heller. Die Sonne kommt heraus und schimmert durch safrangelbes Laub. Die Luft riecht nach Holzrauch, der vom Dorf aus den Fluss entlang bis zu ihnen zieht. Jessie stellt in Gedanken eine Liste glücklicher Familienanekdoten zusammen, die sie Will bei seiner Rückkehr erzählen wird – Brombeerensuchen mit den Mädchen, der Ausflug zu dem alten Steinkreis bei Sonnenuntergang mit einer Kanne Kakao. Aber es gibt da noch eine andere Liste von Dingen, mit denen sie ihn nicht behelligen wird, damit zum Beispiel, dass Joe Peat nicht zurückruft, oder mit dem Abend, an dem Bella Romy zum Fledermausbeobachten mit in die Wildnis nahm und sie für zehn Minuten aus den Augen verlor.

Nachdem sie Romy mit den Buchstabenklötzchen vom Dachboden versorgt hat, holt Jessie ihr vertrautes Rezeptbuch heraus, voller goldener Sirup- und Olivenölflecken, mit dessen Hilfe sie sich selbst beibringen will, wie man für eine Familie kocht, nachdem sie jahrelang glücklich von Tütensalat und Mikrowellen-Falafel gelebt hat. Sie wird wunderbar kochen, redet sie sich selbst ein. Sie wird ein Gericht zaubern, das so gut ist wie alles, was Mandy so gekocht haben könnte, fügt eine kleine unsichere Stimme in ihrem Kopf hinzu.

Will verspätet sich. Jessie harrt aus, bis das Huhn zu qualmen anfängt. Es ist verschrumpelt, die Kartoffeln verbrannt. Trotzdem verteilt sie verknitterte Leinenservietten, steckt Bienenwachskerzen in alte Weinflaschen und schaltet die grelle Neonröhre in der Küche aus. Das Kerzenlicht flackert an den sich wölbenden Wänden und Balken und lässt den Kamin so dunkel und tief wie eine Höhle erscheinen, was den ganzen Raum in eine andere Zeit versetzt. Romy klammert sich an ihr Bein. Sie schenkt sich ein großes Glas Rotwein ein.

»Schon wieder Stromausfall?« Bella leuchtet Jessie mit ihrer iPhone-Taschenlampe mitten ins Gesicht.

Jessie hebt die Hand, um sich gegen das blendende Licht zu schützen. »Wir feiern deine erste Woche in Squirrels. Zu hell.«

»Äh, wieso?« Bella legt die Stirn in Falten und schaltet das Telefon aus.

»Weil es eine große Sache ist und du dich hervorragend geschlagen hast.«

Bella sieht aufrichtig überrascht aus. Das Stirnrunzeln verwandelt sich in ein kleines Lächeln.

Jessie hebt Romy in den alten Kinderstuhl, der leicht wackelt. Sie muss die Schrauben unbedingt wieder anziehen. »Ich fürchte, dein Vater verspätet sich. Es tut ihm wirklich leid.«

»War die Idee nicht ursprünglich mal, dass wir an den Arsch der Welt ziehen, damit er mehr zu Hause ist?« Bella nimmt eine grüne Bohne aus dem Dampfgarer, beißt hinein und zuckt zusammen, weil sie so heiß ist.

»Ja, das war die Idee. Und das wird er auch.« Jessies Stimme klingt ein bisschen zu angespannt. »Essen wir, solange das Essen noch halbwegs genießbar ist.«

Während Jessie die zähe Hühnerbrust für Romy in Stücke sägt, schaut sie auf und gibt sich Mühe zu lächeln. »Du könntest dieses Wochenende doch mal ein Mädchen aus der Schule zu uns einladen.«

»Ich habe keine Freunde«, antwortet Bella nüchtern.

»Das wird schon noch. Ist ja erst eine Woche.«

Bella zuckt mit den Schultern. »Ich bin nicht wie die. Werd ich nie sein.« Mit anmutig gestrecktem Hals schlingt sie ihr Haar zu einem lockeren Knoten und befestigt ihn mit einer Haarklemme. »Und es würde sowieso keiner einen Fuß in dieses Haus setzen wollen«, fügt sie hinzu.

Jessie nimmt einen großen Schluck Wein. Er brennt in ihrer Kehle, und sie spürt seine Wirkungen beinahe sofort. Sie hat das vorher schon bemerkt: Hier auf Applecote scheint ihr Körper reiner zu sein und empfindlicher auf Alkohol zu reagieren. »Warum sagst du das?«

Jessie fällt auf, dass Bella ziemlich selbstzufrieden aussieht. »Hier ist irgendwas passiert. Das haben mir die Mädchen aus der Schule erzählt. Es ist eine Legende in Squirrels.« Bella setzt ihre Worte sorgfältig und beobachtet Jessies Reaktion. »Sie finden, der Makler hätte es uns sagen sollen, bevor wir es gekauft haben.«

Romy neigt den Kopf, durch die Veränderung des Tonfalls aufmerksam geworden. Ihr Blick wandert von Jessie zu Bella und wieder zurück, denn sie spürt, dass sich etwas Besorgniserregendes ins Gespräch eingeschlichen hat.

»Und?«

»Ein Mädchen lebte hier, die Cousine von ein paar Mädchen, die auf meine Schule gingen. Ihr Name war Audrey. Audrey Wilde.« Bella senkt die Stimme, das Kerzenlicht flackert auf ihrem Gesicht, und ihre Augen leuchten wie bei einer Séance. »Es gibt auch ein Foto mit den Cousinen, auch Wildes, vier – eine sieht echt aus wie ein Supermodel. Es hängt in der Aula von Squirrels.«

Jessie nimmt noch einen größeren Schluck Wein. »Wie aufregend.«

Bella hält ihren Löffel jetzt so, dass sich der Kerzenschein, vom Griff gespiegelt, an der Decke kräuselt. »Und das ist noch nicht alles.« Bellas Gesichtsausdruck ist lebhafter, als Jessie es seit Monaten erlebt hat. »Audrey ist verschwunden. Sie verschwand aus Applecote Manor.«

Jessie verschluckt sich beinahe an ihrem Wein und muss husten. »Etwa eine Entführung durch Außerirdische?«

»Sie ging eines Tages hinunter zum Fluss …«, sagt Bella, irritiert darüber, dass Jessie es auf die leichte Schulter nimmt, »… und wurde nie wieder gesehen.«

Irgendetwas in Jessie zieht sich zusammen. Sie denkt an den Fluss, der sich durch die Wiese schlängelt, an seine glatte, grünspanfarbige Oberfläche, den überraschenden Zug seiner Strömung. »Sie ist ertrunken?« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. Romy schaut ihre Mutter fragend an und dreht eine verbrannte Bratkartoffel in ihren Fingern herum.

»Ein Mann wurde verhaftet.«

Ein Mann. Ein böser Mann. Jessie will es nicht hören. Sie will nicht, dass ein Mädchen in diesem Haus zu Schaden gekommen ist. Applecote Manor ist ihr sicherer Ort. Hier werden sie zu einer glücklichen Familie zusammenwachsen, und Bella wird wieder auf den rechten Weg finden. Es darf keine unheilvolle, dunkle Vergangenheit haben. Sie steht auf und fängt an, die Teller aufeinanderzustapeln.

»Audreys Vater wurde verhaftet.«

Jessie dreht sich um. In der Luft hängt der Geruch von fettigem Hühnerfleisch. »Wie schrecklich. Und … ist sie gefunden worden?«

»Noch nicht.«

Irgendetwas an dem »noch« ist seltsam. Es bedeutet, dass sie immer noch hier sein könnte, dieses Mädchen, dass sie ein Dielenbrett anheben könnten … Nein, jetzt ist sie schon so albern wie Bella. Das ist die Art von Geschichte, die Schulmädchen erfinden. Trotzdem hätte sie ausgerechnet am heutigen Tage wirklich darauf verzichten können. Jessie greift nach dem Anhänger an ihrer Halskette und spürt in seinem goldenen Material den Widerhall ihres Herzschlags.

Bella fängt unaufgefordert an, Teller abzuräumen. »Die Squirrels-Mädchen sagen, dass einige von ihnen sie gesehen haben, diese Audrey. Ernsthaft. Ich mach keine Witze. Dass sie jetzt alt ist, aber zurückkommt, um auf Applecote Manor herumzugeistern. Ein Mädchen aus der Oberstufe, Tania – sie hat ganz schlimme Akne –, fuhr während einer Fahrstunde am Haus vorbei, vor nicht einmal sechs Monaten, als das Haus noch leer stand, und sah ein Gesicht im Fenster, von innen gegen das Glas gedrückt. Eine Frau, die rausschaut! Sie hätte beinahe einen Unfall gebaut.«

»Uh-oh«, sagt Romy.

»Na ja, deine Mitschülerinnen haben sicher eine lebhafte Fantasie«, sagt Jessie knapp.

Bella beobachtet Jessies offensichtliches Unbehagen mit Interesse, und Jessie fragt sich, ob das Ganze nur ein Trick ist, um sie zu verunsichern. »Weißt du noch, dass ich, als wir das Haus das erste Mal sahen, gespürt habe, dass hier etwas Schlimmes passiert ist?« Die Kerzenflammen werden von einem Luftzug erfasst, dehnen sich zu langen roten Zungen und werfen Schatten an die Wände. »Tja, ich hatte recht, oder? Ich wusste es.«

Jessie dreht den schwergängigen Messingwasserhahn auf und versucht, sich vom in die Spüle sprudelnden Wasser ablenken zu lassen. Erst die Briefe und jetzt noch diese Geschichte von dem Mädchen. Der Sommer ist vorbei. Will ist weg. Und Bella will das Haus unbedingt mit Geistern füllen. »Okay, wer will Nachtisch?«

»Ich denke, es gibt bestimmte Orte, Häuser, in denen einfach schlimme Dinge passieren und immer wieder passieren«, sagt Bella voller Überzeugung.

Jessie kommt ein Hitzeschwall entgegen, als sie den Backofen öffnet, und sie verbrennt sich die Finger an der Steingutschale.

»Ich frage mich, was als Nächstes passieren wird. Wann es passieren wird.«

»Bella, ich glaube, ich habe jetzt genug von verschwundenen Mädchen gehört. Und da ich das Hühnchen sowieso bis zur Unkenntlichkeit verkohlt habe, schlage ich vor, dass wir uns lieber an Applecrumble satt essen«, sagt Jessie in dem Versuch, das Thema unter dampfenden Nachtischportionen zu begraben. Doch sie wird von einer jähen Angst erfasst, weniger wegen des verschwundenen Mädchens als vielmehr wegen des quälenden Gefühls, dass etwas an der Geschichte Bella direkt anspricht und dass Bella sie neu erzählen will.