Prolog
Applecote Manor, Cotswolds, England. Am letzten Augustwochenende 1959
Keine von uns wagt die so schrecklich intime Geste, seinen Gürtel zu berühren. Und während wir ihn dann über den Rasen schleifen, gräbt die Schnalle Furchen in die Erde. Obendrein ist er schwerer, als es sein Anblick vermuten ließe. Alle paar Schritte halten wir inne, um Atem zu schöpfen. Im ersten Licht der Morgendämmerung schauen wir uns voller Entsetzen an, fordern uns mit Blicken heraus, hinunterzusehen auf die unglaublich wuchtige Tatsache seines Körpers, auf seine scheinbar in kindlicher Unbekümmertheit ausgestreckten Arme.
Inzwischen haften Gänseblümchen an ihm, ihre rosa-weißen Blüten öffnen sich im Lichte der hinter dem Obstgarten beunruhigend schnell aufgehenden Sonne. Diese Gänseblümchen, kleine Sterne in seinen dunklen, verklebten Haaren, wirken zutiefst unangebracht. Dot beugt sich vor, als wolle sie sie herauszupfen, um später einen Kranz daraus zu flechten. Falls sie es wirklich täte, würde das die Situation auch nicht befremdlicher machen.
Nach ein paar weiteren strauchelnden Schritten verliert Dot ihre Brille. Sie beginnt, danach zu tasten. Wir sagen ihr, sie soll es lassen. Uns bleibt keine Zeit. Mit einem Male fangen die Vögel an zu singen, eine Geräuschexplosion, eine Spirale der Angst.
Ich versuche, die wilde Panik in mir zum Schweigen zu bringen: Wir sind noch immer dieselben Mädchen wie zu Beginn dieses langen, heißen Sommers. Applecote Manor ragt noch immer hinter uns auf und blickt schläfrig über das Tal. Und auf der Wiese jenseits des Gartentors steht die lieb gewonnene Runde aus prähistorischen Steinen, unverändert und beständig. Wir müssen ihn noch viel näher zu diesen Steinen schaffen, weg vom Haus, und das schnell – das Glasdach der Orangerie glänzt schon in den ersten Sonnenstrahlen und ist noch näher, als wir dachten.
Unter einer Woge der Übelkeit krümme ich mich zusammen. Ich huste, die Hände auf die Knie gestützt. Flora legt den Arm um meine Schulter. Als ich ihr Zittern spüre, blicke ich auf, versuche, sie beruhigen, doch es gelingt mir nicht. Ihre leuchtenden Augen sind voller Angst, und sie blinzelt mehrmals, als wäre ein Ausdruck in meinem Gesicht, den sie zuvor noch nie gesehen hat.
Mit zusammengebissenen Zähnen zerrt Pam an seinem Ärmel. Doch der Stoff ist der Totlast seines Armes überhaupt nicht gewachsen und reißt mit einem grässlichen Geräusch. Dot unterdrückt mit vor den Mund gepresster Hand ein Schluchzen.
»Schon gut, Dot …« Ich stutze, als ich einen Blutspritzer auf ihrem Finger bemerke. Ich senke den Blick, um meine eigenen Hände zu kontrollieren. Floras. Pams. Mein Magen rebelliert erneut. Unsere Sommerkleider sind Schlachterschürzen. Jetzt sehen wir alle so aus, als hätten wir ihn getötet, nicht bloß eine von uns. Schwestern. Von Blut zusammengeschweißt.