6
Die Abendsonne ist riesig, golden wie eine Grapefruit, und lässt die Ränder der Silhouetten vor uns leuchten, Strahlen dringen aus ihren Köpfen. Wir fangen die Stimmen der jungen Männer ein wie Bläschen, die mit der Brise den Hügel hinaufgeweht werden und zerplatzen, wenn sich der Wind dreht. Wir wagen nicht zu sprechen, denn wir wollen den Moment nicht ruinieren, den wir irgendwie durch die Kraft unserer kollektiven Sehnsucht heraufbeschworen haben.
Sie kommen gemächlich auf uns zugeschlendert, sorglos, bis die Vorfreude beinahe unerträglich wird. Wir können erkennen, dass sie nicht von hier sind: Ihre Hosen sind eng geschnitten, anders als die typischen pluderigen Kniehosen der Jungs vom Lande. Modische Haarschnitte, oben wallend, an den Seiten kurz. Wenn der Wind bläst, schmiegt er Sommerhemden an sehnige Körper, die nichts von der bulligen Massigkeit der Landarbeiter haben.
»Ich weiß nicht recht«, sagt Dot plötzlich und köpft ein Gänseblümchen mit dem Daumennagel. »Sollten wir nicht langsam zum Abendessen zurückgehen?«
»Pst, Dot.« Pam arrangiert ihr Kleid so um ihre Beine, dass nur ihre Wade enthüllt wird, und ihre marineblauen Augen richten sich mit räuberischem Fokus auf ihre Ziele.
Da die Attraktivität der Männer immer deutlicher wird, überkommt mich eine Welle der Unsicherheit angesichts meines eigenen Defizits in dieser Hinsicht, und nur das Wissen, dass ich ohnehin zugunsten von Flora übersehen werde, beruhigt mich. »Sollen wir aufstehen?«, flüstere ich.
»Hast du dir einen Bart wachsen lassen?«, raunt Pam.
Flora starrt mich an, lacht. »Oh, Margot, du machst schon wieder deine nervöse Grimasse. Du siehst aus wie eine Mörderin. Sei natürlich.«
»Locker«, zischt Pam.
»Und lächle«, raunt Flora durch ihr eigenes festgefrorenes Grinsen.
Ich lächle so heftig, dass mein Kiefer schmerzt. Eine seltsame Stille senkt sich herab, als sie sich nähern, nur das Rauschen der Gräser im Wind, das faserige Knirschen ihrer Schritte sind noch zu hören. Diskret stupsen wir uns gegenseitig an – Pams Finger schnippen gegen mein Knie, Floras Zehen berühren Dots Arm – als Zeichen unserer schwesterlichen Verbundenheit, bevor wir uns erneut in sirenenhafte Posen werfen.
»Meine Damen.« Er spricht ohne jeglichen ländlichen Akzent. Da er viel zu hübsch ist, als dass ich ihn direkt anschauen könnte – dunkel, mit klassischen Züge, als wäre er einem Renaissancegemälde entstiegen – , beobachte ich, wie gebräunte Finger mit eleganter Geste einer Zigarette an einem Stein das Rückgrat brechen. Funken regnen hernieder und setzen trockene Grasbüschel in Brand. Es ist der andere junge Mann, der kleinere mit dem rotblonden Haar und dem sommersprossigen Gesicht, rund wie der Herbstmond, der sie austritt. »Wir wollen den Sommer doch noch nicht in Brand stecken.«
Wie alt sie wohl sind? Neunzehn? Zwanzig? Ich kenne nicht genügend Männer, um es genau einzuschätzen. Ich weiß nur, dass der kleinere Rotblonde mich mit haselnussbraunen Löwenaugen direkt anstarrt, und der Punkt, an dem sich unsere Blicke treffen, scheint sich in der Luft zu verdichten wie etwas, nach dem ich meine Hand ausstrecken und das ich berühren könnte.
»Tut mir leid, wo hab ich bloß meine Manieren gelassen. Ich bin Harry. Harry Gore.«
Der Name kommt mir vage bekannt vor. Aber ich kann ihn nicht zuordnen.
Er grinst und stellt mit einem Klirren seinen Picknickkorb auf den Boden. Braune Glasflaschenhälse schauen oben heraus. »Und das ist mein Cousin Tom. Der Brandstifter.«
Tom klopft eine weitere Zigarette aus der Packung und lässt mit dem Daumen sein Metallfeuerzeug aufschnappen, ein klobiges Silberfeuerzeug wie das von Pa aus der Armee.
»Pam.« Meine Schwester springt auf, macht, ein Bein hinter dem anderen, einen übertriebenen, tiefen Debütantinnenknicks und bringt damit alle zum Lachen, woraufhin sich die Anspannung löst. Aber da gleiten Harrys und Toms Blicke bereits zu Flora hinüber. Und ich werde wieder einmal daran erinnert, wie unfair es ist, eine Frau zu sein. Denn selbst wenn Pam und ich die liebenswürdigsten und bezauberndsten Mädchen der Welt wären, diese Männer hätten trotzdem bloß Augen für unsere wundervolle ältere Schwester.
»Und du bist?«, fragt Harry leise, und seine Augen wandern von Floras nackten Füßen – sie muss ihre Schuhe abgestreift haben, ohne dass ich oder Pam es bemerkt haben, sonst hätten wir dasselbe getan – hinauf zu der cremeblonden Locke, die sich locker um ihren Finger windet.
»Flora«, sagt sie; es klingt wie Honig, der von einem Löffel tropft. Sie sieht Tom mit ihren veilchenblauen Augen an, senkt daraufhin kurz den Blick und schaut dann wieder zu ihm auf. Er starrt sie ehrfurchtsvoll an.
»Flora«, wiederholt Harry langsam, atemlos, und sein Blick wandert so widerwillig weiter von ihr zu mir, dass es mir fast leidtut, ihn um ihren Anblick zu bringen.
»Ich bin Margot«, greife ich ihm entschuldigend vor, bevor er das Gefühl bekommt, danach fragen zu müssen. Ich bemerke die Widersprüchlichkeiten seines Gesichts, die Unvereinbarkeit seines unbekümmerten, kindlichen Grinsens mit dem ernsthaften Schwung seiner Augenbrauen. Irgendetwas knistert um uns herum wie vorhin die Flamme im Gras.
Er neigt den Kopf und versucht, mich einzuordnen. »Kennen wir uns?«
»Ich glaube nicht.« Ich weiß nicht, wie ich zu klingen habe. Wie ich sitzen soll. Was ich mit meinen Händen anfangen kann. Um seine Aufmerksamkeit von meinen glühenden Wangen abzulenken, sage ich schnell: »Und das ist unsere kleine Schwester Dot.«
»Ah, Dot.« Harry geht neben ihr in die Hocke. Ein silberner Füllfederhalter blitzt aus seiner Gesäßtasche wie bei einem Musterschüler. »Ich glaube, das ist die längste Gänseblümchenkette, die ich je gesehen habe.«
Dot lächelt schüchtern. Ich mag ihn dafür, dass er Dots Gänseblümchenkette bemerkt hat. Für den Füller in seiner Tasche. Dafür, dass er weniger gut aussieht als sein Cousin, weil seine Gesichtszüge nicht ganz gleichmäßig sind, was sie jedoch gerade richtig macht.
»Applecote Manor«, platzt Pam heraus und bringt unumwunden unseren neuen gesellschaftlichen Status ins Gespräch. »Wir sind zu Gast bei unserer Tante und unserem Onkel. Den Wildes? Kennt ihr sie?«
Beim Namen Wilde scheint an einer Million winziger Schnüre unter der Hautoberfläche von Tom und Harry gezogen zu werden. »Ja, in der Tat«, sagt Harry, nimmt Tom die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug aus der Hand und steckt sich eine Zigarette in den Mund, ein Vorwand, nichts mehr sagen zu müssen.
»Unsere Mutter ist im Ausland«, erklärt Flora, die die Anspannung in der Luft spürt und subtil versucht, uns wieder von Applecote zu distanzieren. »Also wurden wir aus Chelsea hergeschickt.«
»Wie Evakuierte«, witzelt Pam.
Harry stößt eine Rauchwolke aus, sein Blick sucht wieder den von Tom. Und ein Bruchstück eines vergangenen Sommers kehrt mir ins Gedächtnis zurück: Audrey und ich auf der Wiese, frühmorgens, zwei ältere Jungen auf der anderen Seite des trüben Flusses, sie winken Audrey durch den Nebel zu, Audrey winkt zurück. »Kanntest du unsere Cousine Audrey?«, frage ich, und die Worte dringen in die Gesprächslücke, bevor ich sie aufhalten kann. »Audrey Wilde?«
Pam reißt die Augen auf, eine Aufforderung an mich, den Mund zu halten.
Aber es ist zu spät. Harrys Gesichtsausdruck hat sich verändert, wie alle Gesichter sich verändern, wenn ich Audrey erwähne: dieses wiedererkennende Zucken, gefolgt von etwas Verblüfftem und Unbeholfenem. »Wir kannten Audrey flüchtig. Als wir jünger waren.«
Tom schenkt Flora ein aufrichtiges, bedauerndes Lächeln. »Furchtbare Sache. Es tut mir so leid.«
Harrys Lippen öffnen sich leicht, als hätte er noch mehr zu diesem Thema zu sagen. Aber Pam pikt mir mit dem Finger in die Rippen, so dass ich keine weiteren Fragen mehr stelle, und das Thema Audrey wird wie immer von Räuspern und ausweichenden Blicken verdrängt und hinterlässt wieder nur eine Lücke.
»Wo wohnt ihr beiden denn?«, fragt Pam betont heiter und wischt sich Gras von ihrem Kleid.
»In Cornton, dem Haus meiner Eltern.« Harry nickt zu den Dächern in der Ferne hinüber, als wäre Cornton Hall ein kleines strohgedecktes Häuschen und nicht das imposanteste Haus meilenweit, das auf dem Hügel am Dorfrand thront wie ein Patriarch an der Tafel. »Sagt euch das was?« Ein heimliches Lächeln blitzt zwischen Pam und Flora auf. »Aber wir sind nicht oft dort.« Er neigt den Kopf zurück und stößt Rauchkringel aus, einen, zwei, drei, wie Seilschlingen. »Meine Eltern bevorzugen derzeit ihr Londoner Haus.«
»Oder diese schäbige Absteige an der Côte d’Azur«, zieht Tom ihn auf, was mich vermuten lässt, dass er selbst nicht aus einem so wohlhabenden Hause stammt.
»Die Côte d’Azur«, seufzt Pam voller Sehnsucht und vergisst alle Lässigkeit. »Du Glücklicher.«
Harry nickt, als wäre er nicht besonders überzeugt davon. »Jedenfalls haben sie uns die Schlüssel für einen letzten Sommer hier gegeben.« Das Wort »letzten« hängt in der Luft, bewirkt, dass sich alles irgendwie dringlicher anfühlt, bald schon verloren. »Mein letzter Auftritt hier, bevor ich nach Oxford gehe und Tom zum Wehrdienst«, erklärt er mit einem unbefangeneren Lächeln. »Wir schlagen uns recht tapfer an der Haushaltsfront, was, Tom, Schatz?« Tom lacht. »Ein perfektes Ehepaar. Bis jetzt haben wir erst ein Badezimmer überflutet und zwei Vasen zerschmettert.«
»Wir? Du.« Toms scharfer Ton deutet darauf hin, dass dies eine Diskussion ist, die sie schon einmal geführt haben.
Tom und Harry starren sich gegenseitig an, bis Harry sich schließlich bückt und eine Bierflasche und einen Stapel zerbeulter Metallbecher hochhält, was bei mir die Frage aufwirft, ob sie wussten, dass wir hier sind. »Soll ich euch einschenken?«
Wir werfen uns heimlich begeisterte Blicke zu und versuchen, die jeweilige Reaktion der anderen zu entziffern. Wir haben vielleicht mal ein halbes Glas Champagner auf einer Party getrunken, aber Bier auf einer Wiese am Fluss mit fremden jungen Männern? Unvorstellbar.
»Von der hiesigen Brauerei. Schmeckt besser, als es riecht, versprochen.«
»Das ist sehr nett von dir, aber …«, setzt Flora an.
»Ja, gern!«, ruft Pam dazwischen, streckt die Hand aus und wirft entschlossen ihr Haar zurück. Dots Augen weiten sich hinter ihrer Brille.
Flora, verärgert darüber, dass Pam sie so prüde aussehen lässt, sagt: »Seit wann trinkst du denn Bier, Pam?«
Pam zuckt mit den Schultern. »Ich sterbe vor Durst.«
Flora zögert, lacht. »Ach, weißt du was? Ich nehme auch eins.«
»Flora …«, murmle ich erstaunt und frage mich, wohin das alles noch führen soll. Aber Harry gießt bereits Bier in die Becher, die Flüssigkeit schäumt wie dicke Sahne über die Ränder. Er übergibt sie an Pam und Flora, die neugierig daran riechen, als wäre es irgendein seltsames Elixier.
»Du bist vielleicht noch ein bisschen jung für Bier«, sagt Harry zu Dot. »Aber ich überlasse dir meine Wasserflasche.« Er dreht sich zu mir um, seine Augen funkeln. »Aber du …«
»Margot«, sage ich, enttäuscht, dass er meinen Namen schon vergessen hat, und gleichzeitig hoffe ich, dass er mich nicht auch für so jung hält, dass er mir nur Wasser anbietet.
»Margot«, wiederholt er unbeirrt. »Margot Wilde.« Er grinst. »Kann ich dich in Versuchung führen?«
»Nein danke.« Ich weiß nicht mal, warum ich das sage, obwohl ich eigentlich unbedingt Ja sagen will und mein Mund so trocken ist, dass meine Zunge am Gaumen festklebt.
»Aber auf diesem Bier steht dein Name.« Er zieht seinen Stift aus der Tasche und ritzt ein »M« in den cremeweißen Schaum. »Siehst du?«
Ich lache benommen, als hätte ich schon fässerweise Bier getrunken. Er drückt mir den Becher in die Hand, und meine Finger legen sich einer nach dem anderen um das köstlich kühle Metall. Klebriges Bier tropft auf meine Hand. Hinter Harry drehen Fledermäuse ihre Kreise, schwarz wie die nahende Nacht. Ich hebe den Becher langsam an meinen Mund, spüre, wie die Welt in Schräglage gerät, sich irgendwo loslöst. Der kühle Metallrand drückt sich an meine Lippen, und ich schmecke es, bitter und süß zugleich, Heu und Honig.
Vor dem Haus begegnen wir Billy, der eine Kanne in der Hand hält, aus der sich eine silberne Linie aus Wasser ergießt. Die Art, wie er mich ansieht, wirft in mir die Frage auf, ob er uns gesehen hat, ob er weiß, wo wir waren. Meine älteren Schwestern hasten achtlos vorbei, werden sich seiner Gegenwart jetzt kaum mehr gewahr, als er sich aufrichtet und höflich seinen Strohhut lüftet – von einer Sekunde auf die andere von den Gores in den Schatten gestellt. Kurz darauf erinnere ich mich zu spät an meine Manieren und drehe mich lächelnd um, aber er ist gegangen.
In der Orangerie ist es wie unter einer Glasglocke, und Moll und Sybil wirken darin wie Schmetterlinge. Mit grauen Zeitungsflügeln fächelt Moll Luft und wirbelt Sybils weiße Haare von ihrer blassen, hohen Stirn auf, während diese gebeugt in einem Korbstuhl sitzt. Ihr harter metallischer Blick – es ist viel später, als wir gedacht haben – trifft uns, während wir über die Steinplatten auf sie zukommen.
»Tante?«, sagt Flora sanft. »Haben wir das Abendessen verpasst?«
»Ich war krank vor Sorge.«
»Es tut uns sehr leid«, sagt Flora und senkt nonnenfromm den Kopf, während sie mir ein verstohlenes Lächeln zuwirft. Es tut uns überhaupt nicht leid.
»Ich dachte, euch wäre etwas passiert, Flora.«
Es ist auch etwas passiert, würden wir am liebsten sagen. Der Sommer ist gerade viel interessanter geworden.
Sybil reicht Moll eine kleine Schüssel mit bräunlichen Pfirsichscheiben und hebt den Blick zu uns. »Ich dachte, ihr wärt vernünftige Mädchen.«
Moll wedelt wieder mit der Zeitung, die sie in ihren dicken, von Druckerschwärze befleckten Fingern hält. Durch ein offenes Fenster dringt süßer Jasminduft herein.
»Wir haben die Zeit aus den Augen verloren«, sagt Dot tapfer und schaut Pam Beifall heischend an. »Sie ist so schnell vergangen.« Pam nickt ihr fast unmerklich zu. Unsere kleine Schwester lernt dazu.
»Oh, in dieser Hitze vergehen die Stunden auch wie im Flug.« Moll wirft Dot ein mitfühlendes Lächeln zu, das das schwarze Tor ihrer Zahnlücke offenbart. »In der Küche ist noch Aufschnitt, keine Sorge.«
»Und Flora ist schon siebzehn«, stellt Pam klar. »Margot und ich auch beinahe. Ma erlaubt uns …«
»Es kümmert mich einen feuchten Kehricht, was Bunny euch erlaubt«, faucht Sybil und spricht Mas Namen mit unerwarteter Schärfe aus. »Ich trage die Verantwortung für euch, während ihr auf Applecote Manor weilt.«
Wir schauen einander bestürzt an: Die Grenzen unseres Sommers schließen sich wieder, gerade als wir dachten, dass sie sich auf aufregende Weise öffnen könnten.
Flora versucht uns zu retten. Sie kniet sich neben Sybils Stuhl, der Abend glitzert noch in ihren Augen. »Tante, wir waren nur auf der Wiese. Vollkommen sicher, versprochen.«
»Es ist nirgends sicher, Flora. Nirgendwo.«
Sie hebt die Hand, um Molls Fächeln zu unterbrechen. Wir haben Mühe, in dieser hageren, nervösen Frau noch unsere unbeschwert lachende Tante von früher zu erkennen, die uns nach dem Mittagessen immer loslaufen ließ, einzig mit der Aufforderung, uns zu amüsieren und wenn möglich zum Tee wieder zurück zu sein.
»Aber die Männer waren furchtbar nett«, sagt Dot. Pam stößt sie mit dem Ellbogen an, aber es ist zu spät.
Eine Pause tut sich auf wie ein klaffender Schnitt im feuchten Abend. »Männer?«
»Junge Männer, genau genommen. Jungs. Bloß ein bisschen älter als wir«, korrigiert Flora schnell. »Sie verbringen den Sommer auf Cornton.«
Sybil zuckt zusammen. Sie setzt sich etwas gerader hin, und ihre Hand springt an ihren Hals. »Cornton? Cornton Hall? Seid ihr sicher?«
Flora nickt begeistert.
»Tom und Harry.« Ich schmecke noch das bittere Bier auf der Zunge. Mir kommt der Gedanke, dass ich es für immer schmecken werde. »Die Gore-Cousins.«
»Einer geht demnächst nach Oxford, glaube ich, der andere zum Militär.«
Sybil steht abrupt auf, ihr langer Rock fällt ihr raschelnd um die Beine. »Wusstest du das, Moll?«
Moll, die gerade Zierkissen aufklopft und so tut, als hätte sie nicht zugehört, sagt: »Wie bitte, Mrs. Wilde?«
»Die Gores sind wieder auf Cornton Hall? Hast du schon davon gehört?«
Moll senkt unbehaglich den Blick.
»Beim Frühstück im Gemeindehaus ging das Gerücht, Mrs. Wilde.«
»Das Gerücht?«, sagt Sybil scharf und wartet darauf, dass Moll ins Detail geht.
»Die alte Mutter Peat sagte, dass sie neulich ihren Brian rüberschicken musste. Das Badezimmer war überflutet, der Stuck an der Decke darunter ziemlich im Eimer.« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Ein Tohuwabohu. Die Gore-Jungs scheinen im Weinkeller gewesen zu sein.«
»Die Gore-Jungs?« Seine Stimme erfüllt den Raum wie Donner. Perry füllt den Türrahmen aus, seine Nasenflügel flattern wie die einer Stute. Moppet drängt sich an Dots Beine. »Was ist mit den verdammten Gores?«
Vorsichtig setzen wir ihn ins Bild, außerstande, die widersprüchlichen Gefühle, die sich im Gesicht unseres Onkels abzeichnen, zu deuten. Nach einer Weile hält er sich die Hand vor den Mund, als dämmere ihm eine schreckliche Wahrheit. »Warum sind wir eigentlich immer die Letzten, die wissen, was im Dorf vor sich geht, Sybil? Es ändert sich einfach nichts, oder? Wir bleiben eingesperrt in diesem Haus wie Leute, die etwas zu verbergen haben.«
Ich beobachte ihn aufmerksam und frage mich, ob das ein geschicktes Ablenkungsmanöver sein könnte.
Sybil verschränkt die Finger. Es fühlt sich wie eine ältere Auseinandersetzung zwischen den beiden an. »Das kommt vom Schwimmen heute Nachmittag. Was ist bloß in dich gefahren? Du bist doch seit Jahren nicht geschwommen, Peregrine. Es wird deinem Rücken schaden. Und es hat dich sehr aufgewühlt, das ist unübersehbar.«
»Wir verhalten uns, als hätten wir uns irgendeiner Sache schuldig gemacht, Sybil«, fährt Perry fort, und sein riesiges Gesicht wird rot. »Wie wir uns hier verkriechen.«
Beim Wort »schuldig« sieht Flora mich mit hochgezogener Braue an.
»Ich … ich werde bald mal ins Dorf gehen«, stottert Sybil. »Ja, ich muss mich bemühen, dass die Dinge wieder ihren gewohnten Gang gehen. Komitees besuchen und all das. Es ist viel zu lange her.« Mit einer seltsamen Mischung aus Angst und blanker Sehnsucht lässt sie den Blick aus dem Fenster über entfernte Hügel schweifen. »Ich werde Lady Anne zum Aperitif einladen«, fährt sie fort. »Ich bin sicher, dass sie diesen Sommer auch herkommen wird, wenn Harry da ist. Ja, das muss ich tun.«
»Lade sie nur ein, und du wirst sehen, dass auch sie ach so beschäftigt sein werden wie all die anderen.« Perry steht in Gedanken versunken am Fenster, die Hände hinterm Rücken verschränkt. Und plötzlich erscheint er wie ein Mann, der die Last der Welt auf seinen Schultern trägt. »Lasst uns das zu unserem Vorteil nutzen.«
»Wie bitte?«, sagt Sybil angespannt.
Perry fährt mit leuchtenden Augen herum. »Warum, glaubst du, hat Bunny uns die Mädchen wirklich geschickt, Sybil? Es ging doch nicht bloß darum, ihr einen Gefallen zu tun, oder darum, dass Applecote wieder erfüllt ist vom Lachen junger Mädchen, das kann ich dir versichern, was auch immer sie dir gesagt haben mag. Jedenfalls sind sie nicht hier, um sich an Molls Marmelade zu mästen. Oder ist es dir lieber, wenn sie Billy, den Gärtner, heiraten? Er ist ein ziemlich schneidiger Kerl.«
Sybil legt die Hand an den Hals. »Guter Gott!«
»Onkel, ich habe vor, Krankenschwester zu werden«, sagt Pam empört.
»Krankenschwester?« Ein lautes, unerwartetes Lachen schießt aus Perrys Mund. »Ah, sehr gut, sehr gut. Nun, da solltest du aber noch ein wenig an deinem Umgang mit Kranken arbeiten, du kleine Hexe.« Er wendet sich an Flora. »Aber du, Flora, ich hoffe, du trägst dich nicht mit solch fixen Ideen, Deinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.«
»Peregrine«, sagt Sybil warnend mit besorgtem Gesicht, als wisse sie bereits, was nun folgt.
Er wirft ihr einen ungehaltenen Blick zu. »Nun ja, es würde den Tratsch verstummen lassen, oder? Eine unserer Nichten heiratet in die hochherrschaftliche Gore-Familie ein. Verflucht seien sie.«
»Peregrine, das ist Unsinn. Du machst dich lächerlich«, schilt Sybil.
Er stemmt die Hände in die Hüften und tritt näher an Flora heran. Ein Rinnsal Schweiß läuft an seinem Hemdrücken herunter. »Wenn du nur halb so viel Verstand hast wie deine Mutter, solltest du wie ein verdammter Hunnenpfeil auf Harry Gore abzielen. Verstehst du, Flora? Halt dich nicht mit Tom auf.« Er macht eine wegwerfende Geste. »Der ist ganz hübsch, aber nicht einen Penny wert. Harry ist der Kerl, den du willst. Aus diesem Jungen wird mal was, denk an meine Worte. Anscheinend ist er ziemlich brillant. Der bringt es nach ganz oben, und er ist Erbe eines hübschen Vermögens. Verstehst du?«
Flora nickt mit undurchschaubarem Gesichtsausdruck. »Ich verstehe, Onkel.«
»Also gut«, sagt er zögernd. »Dann wäre das ja geklärt. Deine Mutter wird es dir danken. Und ich auch. Das Vermögen der Wildes bräuchte mal wieder eine Aufbesserung. Diese Familie ist seit einer Generation keine anständige Verbindung mehr eingegangen. Also toi, toi, toi.« Er wendet sich verächtlich an uns andere. »Und ihr drei könnt euch um Tom reißen, ja? Von mir aus zerhackt ihr ihn in drei Stücke, damit es keinen Streit gibt. Und hört auf, mit unserem hübschen jungen Gärtner zu flirten, oder ich schmeiß ihn gleich raus.«
Ein leises Schluchzen bricht aus Sybils Kehle, ein knackendes Geräusch, wie wenn man auf eine Haselnuss tritt. Sie zieht ein Taschentuch aus dem Ärmel, tupft sich die Augen. Wir starren auf den Boden und tun so, als hätten wir nichts gehört.
»Schon wieder diese Pollen, was, Sybil?«, sagt Perry mit stockender Stimme. Aber der furchtbare Klang des Weinens meiner Tante ist unverkennbar. Moll huscht aus der Tür.
»Verzeiht mir, Kinder«, schnieft Sybil.
»Nicht jetzt, Sybil«, sagt Perry matt.
Da sie offensichtlich etwas sagen möchte, was Perry nicht hören will, ermutige ich sie. »Was ist los, Tante?«, frage ich und ignoriere Pam, die mich kopfschüttelnd anstarrt und mich auf diese Weise vor dem heiklen Audrey-Gespräch warnen will, das wir alle erahnen.
»Ich … ich muss nur daran denken, dass der kleine Harry jetzt schon so groß geworden ist, dass er bald nach Oxford geht.« Ihre Stimme bricht. »Und … Audrey …«
»Sybil, Liebling«, sagt Perry. Seine Hand schwebt über ihrem Arm, bereit, sie zu trösten, doch dann lässt er die Hand sinken.
»Wenn Audrey wieder nach Hause kommt, wird sie sich riesig freuen, dass Harry in der Nähe ist«, sagt Sybil und ringt sich ein Lächeln ab. »Das ist doch was.«
Die Stille schwillt an wie ein schriller Ton, der Glas zum Bersten bringt. Und uns allen wird schlagartig klar, dass Sybils Glaube daran, dass ihre Tochter eines Tages zurückkehren wird, ihr Lebensgrund ist. Und dass Perry die Dinge ganz anders sieht.
»Um Himmels willen, Frau …« Perrys Stimme zittert am Rande von etwas Schrecklichem. »Audrey kommt nicht mehr zurück!«
Als er aus der Tür poltert, frage ich mich, wie mein Onkel sich da so sicher sein kann.
Mein kleiner Wecker zeigt fünf Uhr an. Doch es kommt mir so vor, als wäre seit dem Vorabend keine Zeit vergangen: Harrys Bier, der Name der Gores, der, laut ausgesprochen in der Orangerie, wie das Knallen eines Schusses war, die schluchzende Sybil und der verzweifelte Perry, die Vergangenheit, die durch das Gewebe der Gegenwart stößt und offenbart, dass es so dünn und brüchig ist wie altes Leinen. Draußen kräht ein Hahn.
Ich frage mich, was Audrey jetzt tun würde, wenn sie ich wäre. Ich schlüpfe in meinen Morgenmantel und vermeide es, auf die oberste Stufe zu treten, da sie knarrt, und schleiche mich hinunter in das kühle Herz des Hauses, bis ich Perrys urzeitliches Schnarchen nicht mehr hören kann. Ich verspüre einen Kitzel, der damit einhergeht, dass ich wach bin, während alle anderen tief und fest schlafen. Ich fühle mich weder gehetzt noch beobachtet. Die Zeit schmiegt sich an mich wie ein Lederhandschuh an warme Haut.
An den ochsenblutfarbenen Wänden der Bibliothek fällt mir Perrys bedrohliche Sammlung von Waffen und Schwertern auf. Doch ansonsten fördere ich lediglich eine blonde Kinderlocke in einer winzigen Schublade des Sekretärs im Salon zutage und, schlimmer noch, einen kleinen Stoffbeutel mit Milchzähnen. Davon verunsichert, husche ich weiter in die Küche. Ich stibitze zwei Scones, die unter einer Drahtglocke liegen – einen für mich, einen für den entzückten Moppet –, und fange an, das Gewirr kleiner Räume rund um die Spülküche zu erkunden, was tagsüber unmöglich ist, da dies Molls und Sybils Territorium ist.
Alles ist so vertraut. Ein Raum mit Ziegelwänden: Regale voller Konserven, Essiggurken, Chutneys, Marmeladenschätze in Einmachgläsern. Ich erinnere mich daran, wie sehr ich die verschwenderische Fülle dieses Raumes immer geliebt habe, seine bienenstockähnliche Organisation, wie Moll mir und Audrey auftrug, die karierten Stoffstücke mit Schnur auf die Gläserdeckel zu binden. Dann ist da noch die Speisekammer mit ihren Mausefallen, Körben voller Kartoffeln, kühlen Ecken für den Käse. Der Besenschrank, in dem sich Flora einst versteckte und im Dunkeln stolperte, so dass sie sich die Lippe an einem Metallkübel aufschlug und dann blutend aus der Tür gestürzt kam und uns alle zu Tode erschreckte. Die Waschküche, warm und feucht wie ein frisch gebadetes Baby, weiße Laken, die über Holzstangen hängen – wir übten uns in der Kunst, zwischen ihnen zu stehen und so vorsichtig zu atmen, dass sie sich nicht bewegten – , die Mangel, mit der ich immer meinen Badeanzug auswrang, bloß weil ich so gern an der schweren Kurbel drehte. Ihre Mechanik faszinierte mich, denn in London ließen wir unsere Wäsche immer außer Haus waschen. Und daneben ein Abstellraum, der mich nach Luft schnappen lässt. Das Licht darin ist grün wegen des efeubewachsenen Fensters, und die Luft wird aufgewirbelt durch den Zug aus einem großen Sprung in der unteren Scheibe. Drinnen stapeln sich Reliquien aus längst vergangenen Kindheiten – von Opa, Perry, Pa, Audrey – und harren einer neuen Generation, die nicht geboren werden kann: ein hölzerner Kinderstuhl mit langen, schiefen, insektenartigen Beinen, eine kleine Porzellanschale, über deren Rand Peter Hase huscht. Audreys Kinderwagen, die Matratze an einer Ecke angekaut – das denkwürdige Erbe von Audreys und meiner übereifrigen Erziehung von »Baby Moppet«. Springseile, Flohspiel-Chips, Buchstabenklötzchen und eine kleine Holzkiste mit Dominosteinen, bei der ich das Gefühl habe, etwas wiederzufinden, das ich vor langer Zeit verlegt habe. Ich öffne den starren Deckel und erinnere mich an die Spiele, die wir an verregneten Nachmittagen spielten, daran, wie ich Audrey gewinnen ließ, um die natürliche Ordnung der Dinge nicht zu stören. Ich glaube, dass sich ihre Fingerabdrücke noch immer auf jedem Stück befinden, auch meine, etwas von uns. Spontan suche ich mir einen Glücksbringer aus, einen Talisman, und lasse ihn in der Tasche meines Morgenmantels verschwinden. Dann ziehe ich die Tür hinter mir zu, beeindruckt von meiner eigenen Kühnheit.
Als ich die Türe, die aus der Küche nach draußen führt, öffne, ist das Morgenlicht weich und die Luft angenehm kühl. Ich setze mich auf eine Gartenbank und werde mir langsam eines Geräusches gewahr: schwer zu identifizieren, rhythmisch, metallisch, von der Seite des Hauses kommend. Ich stehe auf und spähe vorsichtig um die Ecke.
»Guten Morgen, Margot«, sagt Sybil, ohne auch nur in meine Richtung zu blicken, und ihre Gartenschere schneidet in Efeu, der über ein Fenster im Erdgeschoss kriecht, das mit dem Sprung.
Mein Magen zieht sich zusammen. Sie muss mich gesehen haben. Ich warte darauf, dass sie sich umdreht und mich ausschimpft, dass ich nie, nie wieder in Audreys Sachen herumschnüffeln darf und den Dominostein sofort zurückbringen soll. Aber da ist nur das Schneidegeräusch, ein amputierter Efeuarm, der zu Boden fällt, und dieses kleine rätselhafte Lächeln, das die Lippen meiner Tante umspielt.
Im weiteren Verlauf unserer ersten Woche auf Applecote taucht Sybil immer wieder ganz plötzlich auf, lautlos, unsere Bewegungen nachzeichnend. Zweimal erwischt sie mich sogar dabei, wie ich vor Audreys Tür stehe und gegen den Drang ankämpfe, sie zu öffnen. Auch Perry trampelt uns hinterher, minotaurusartig, eine Hand in den unteren Rücken gestützt, und schlägt uns vor, mit ihm schwimmen zu gehen oder Bridge zu spielen. »Aber eigentlich will er uns das Fleisch von den Knochen saugen«, meint Pam. Nichtsdestotrotz laufen sich unsere Tante und unser Onkel nie über den Weg, wie Gäste einer Party, die schon seit langem miteinander in Fehde leben.
Es ist seltsam anzusehen. Unser ganzes Leben lang wurden wir dazu erzogen, das zu wollen, was Sybil hat: eine Ehe mit einem Erstgeborenen aus gutem Hause, ein großes Anwesen, treue Hausangestellte, silberne Zuckerzangen, einen goldenen Reisewecker, der tickend die Zeit bis zum nächsten Hochzeitstag herunterzählt. Und doch mahlt Sybil morgens Pfeffer über ihr gekochtes Frühstücksei, als wolle sie am liebsten dem Huhn, das es gelegt hat, den Hals umdrehen.
Obwohl sie morgens immer in voller Montur erscheint, das Gesicht fast wundgeschrubbt – man kann sie sich unmöglich müßig in einem Morgenmantel vorstellen wie Ma, summend über einer Tasse Kaffee und den Klatschspalten der Zeitung von vergangener Woche – , ist sie in fünf Jahren nicht weiter als bis zur Dorfkirche gegangen. Sie hat sich hinter ihren Blumenvorhängen verbarrikadiert.
Und es wird deutlich, dass sie mit uns das Gleiche vorhat. Als Audrey noch hier war, spielten wir stundenlang auf der Wiese, tummelten uns bis zur Dunkelheit auf den Feldern, schwammen im von Wasserlinsen gekrönten Fluss. Als wir Schwestern gestern einen Ausflug ins Dorf unternehmen wollten, das nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt liegt, verkrampfte sich Sybils zerbrechliches Gesicht vor Angst. Sie versuchte uns zu überreden, etwas anderes zu machen. Ein Bad im Pool? Krocketspielen? Vielleicht ein Picknick im Obstgarten? Als unsere geheime Mission, den Gore-Cousins über den Weg zu laufen, bedroht schien, schlug Flora sogar vor, Sybil solle mit uns kommen, denn sie wusste nur zu gut, dass sie das nicht tun würde. Sybil blinzelte und wurde blass, und ich merkte, dass etwas in ihr verzweifelt Ja sagen wollte. Doch sie tat es nicht.
Sie verpasste nicht viel. Ein kleines Fest auf dem Dorfanger beim Ententeich und Dutzende glotzender Einheimischer. Ich bin mir nicht sicher, ob es Floras Rock war, die im grellen Sonnenlicht fast durchsichtig wirkende helle Baumwolle, oder einfach nur der Anblick von vier offensichtlich nicht von hier stammenden Schwestern, die das Dorf in hellen Aufruhr versetzten, als wir durch die engen gepflasterten Gassen spazierten, vorbei an den bogenförmigen Glasfassaden der Läden, und offenbar etwas Beunruhigendes, Verstörendes ausstrahlten. Spitzenvorhänge hinter Cottagefenstern schoben sich leicht zur Seite, um sich dann sogleich wieder zitternd zu schließen. Frauen flüsterten hinter vorgehaltenen Händen, Kinder gafften, liefen davon, und ein paar Mal hörte ich die Namen unserer Tante und unseres Onkels. Nicht ein einziger Mensch lächelte uns an. Als wir verwirrt und niedergeschlagen nach Applecote zurückkehrten, sah ich, dass Sybil uns von einem Fenster im Obergeschoss aus beobachtete, die Hand am Vorhang und ihr Gesicht blass wie ein Teller. Und ich fragte mich, ob sie geahnt hatte, wie das Dorf auf uns reagieren würde, und uns vielleicht sogar davor hatte beschützen wollen.
Gerade als wir es fast schon aufgeben wollen, jemals wieder von den Gores zu hören, traben sie auf schwitzenden samtschwarzen Pferden an der Obstgartenmauer vorbei und werfen eine Einladung wie einen Strauß Blumen herüber. Sybil verbietet es. Perry überstimmt sie: »Geh nur und bezirze Harry, Flora.«
Die Daphne ist ein winziges Ruderboot, blau und verkratzt, das aussieht, als könne es jederzeit sinken. Harry behauptet, wenn man zusammenrückt, passen sechs Leute hinein. Doch das Boot liegt so tief im Wasser, dass es über die Seitenwände hereinschwappt und wir jedes Mal lachen und schreien, wenn sich jemand bewegt. Der Fluss fließt in sanften Windungen träge dahin, breit wie eine Landstraße, und Weidenbäume küssen seine trübgrüne Oberfläche.
Harry sitzt in Shorts neben mir, und sein Oberschenkel stößt immer wieder gegen meinen. Auf seinen Beinen sind Haare wie Kupferdrähte. Die Seite von mir, die ihn berührt, fühlt sich unsagbar lebendig an.
Die Jungs fangen an zu rudern. Ich spüre die Hitze an Harrys Bein. Die Anstrengung, die es bereitet, die langen hölzernen Ruder zu bewegen, wogt, von seinen Armen ausgehend, durch seinen gesamten Körper. Gelegentlich wirft er mir von der Seite ein leicht verwundertes Lächeln zu. Das strahlende Lächeln, das er Flora schenkt, ist offener und weniger schwer zu interpretieren. Als wolle er an ihr lecken.
Als die Jungs aufhören zu rudern, treiben wir flussabwärts, schneller, da die Strömung zunimmt, und ducken uns unter überhängenden Zweigen weg. Wir fahren durch Mückenschwärme und versuchen, unsere Füße aus der Pfütze zu halten, die sich im Boot angesammelt hat, während wir wie Schauspielerinnen im Film die Finger durchs Wasser gleiten lassen. Blauschwarze Mehlschwalben fliegen im Sturzflug knapp über die Wasseroberfläche. Erinnerungen an Audrey tauchen auf wie Naturgeister, die zwischen dem Schilf lauern: Audrey mit Zöpfen im Alter von sieben Jahren, die ihr Springseil hinter sich herzieht; Audrey mit zwölf, an dem Sommernachmittag, an dem es ohne Vorwarnung zu schütten begann und unsere Blusen ganz nass und durchsichtig wurden, als wir lachend zum Haus zurückrannten, unsere Münder weit geöffnet, die Zungen herausgestreckt, um die Regentropfen einzufangen.
Wenn ich mir diesen Tag heute in Erinnerung rufe, fällt es mir schwer, mich nicht zu fragen, ob uns nicht jemand dabei beobachtet hat und Audreys erblühende Schönheit bemerkte, unsere offen zur Schau gestellte mädchenhaft unbekümmerte Freude. Hat unser Glück bei jemand anderem das Bewusstsein dafür geweckt, dass ihm selbst dieses Glück fehlt, so dass er beschloss, es für sich einzufangen? Vielleicht ein einsamer Fischer, der zappelnde Maden auf seinen Haken spießt. Der Mann mit dem Hut, der im feuchten Schatten unter der Brücke lauerte.
»Land in Sicht!«, ruft Harry, ergreift einen baumelnden Weidenast, zieht das Boot unter den Baum und verscheucht damit diese beunruhigenden Gedanken.
Wir werfen eine Picknickdecke auf das grasbewachsene Ufer und überlassen es Harry und Flora, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Auf dem Bauch liegend, das Kinn in die Hände gestützt, beobachte ich Flora, wie sie sich mit ihrer schmalen Taille vorbeugt, kichernd hinter einem Vorhang aus blondem Haar, und mit einem Eimer Wasser schöpft und wie Harry sie streift, näher, als er ihr sein müsste. Auch Tom beobachtet die beiden mit einem Blick enttäuschten Verlangens. Und Pam beobachtet Tom.
Als Flora und Harry sich schließlich zu uns gesellen, mit roten Wangen, glühend, und Harry etwas aus Floras Haaren pflückt, ist es jedem klar, dass sie sich nähergekommen sind, dass diese paar Minuten zu zweit lang genug waren, um eine Art Allianz zu schmieden, aus der wir anderen ausgeschlossen sind, verdammt dazu, Zuschauer zu sein. Bei marmoriertem Schinken und kalten Hähnchenschenkeln versucht Pam Toms Aufmerksamkeit zu erregen, doch es will nicht besonders gut klappen. Also legt sie sich noch mehr ins Zeug, klemmt sich ihr Kleid seitlich in die Unterwäsche, so dass ihre straffen braunen Oberschenkel sichtbar werden, watet mit schwingenden Händen zurück zum Boot und verkündet, dass sie uns alle zurückrudern werde. Die Jungs jubeln. »Ich und Margot!«, ruft Pam über ihre Schulter. Ich schüttle den Kopf.
»Margot, Margot!«, ruft Harry und schlägt sich mit der Hand auf den Oberschenkel.
Es ist das erste Mal, dass ein Junge begeistert meinen Namen ruft.
Schon nach wenigen Sekunden fangen meine Handflächen an zu brennen. Meine Kniekehlen reiben an der Bank. Doch es steht mehr auf dem Spiel, als nur zu beweisen, dass wir bessere Ruderer sind als die Jungs, auch wenn ich nicht genau weiß, was. Das letzte Stückchen fühle ich mich, als wäre ich nicht zu stoppen. Als wir wieder Land betreten, mit zittrigen Beinen und schweißnassen Kleidern, grinsen Pam und ich uns erst einmal triumphierend an und blicken uns dann um, fast als würden wir Applaus erwarten oder zumindest einen bewundernden Männerblick. Doch Tom starrt bloß wütend Harry an, der Flora gerade etwas ins Ohr flüstert, sie zum Lachen bringt, und es scheint fast so, als schnuppere er an ihr – sie stinkt nicht nach Schweiß. Und ich erinnere mich erneut daran, dass ich bloß Margot Wilde bin, die durchschnittliche Margot mit dem juckenden Hautausschlag.
Die Vorhänge in Dots Zimmer sind zugezogen, der heiße Nachmittag ein weißer Schnitt, dort, wo sie sich treffen. Ich sitze neben ihr auf dem Bett, wo sie sich mit dem Gesicht zur Wand zusammengerollt hat. »Ist dir noch immer schummerig vom Boot?«, flüstere ich und streichle ihre Schulter.
Ihre Zehen zucken, aber sie sagt nichts.
Ich beuge mich zu ihr hinunter. »Oh Dot, du weinst ja. Was ist denn los? Ist es, weil wir nichts von Ma gehört haben?«
Die Postschiffe seien unberechenbar, behauptet Sybil. Besser, wir verbannten Ma ganz aus unseren Gedanken, sagt sie. Wir seien jetzt Applecote-Mädchen.
Dot lächelt schwach. »Es macht mir nichts aus, dass Ma nicht da ist, solange ich dich habe, Margot.«
»Was ist es dann?«
»Ich bin zu kindlich. Ich versuche, es nicht zu sein. Aber ich halte euch andere bloß zurück, das weiß ich.«
»Zurück wovon?« Ich lächle, sie ist rührend.
Sie presst ihre Lippen zusammen.
»Meinst du, mit Jungs und so?«, frage ich zaghaft.
Sie nickt, wirft mir ein kleines dankbares Lächeln dafür zu, dass sie verstanden wurde.
»Oh Dot, ich bin da ehrlich gesagt genauso außen vor wie du. Ich muss die Jungs jetzt auch nicht gerade mit einem Stock abwehren, oder?« Ich streiche ihr eine Haarsträhne von der verschwitzten, tränennassen Wange. »Zwei zu drei geht auch gar nicht.«
Dot ändert die Position, legt den Kopf auf ihre Hand. »Harry hat dich angeschaut, Margot. Im Boot. Als du gerudert bist.«
»Er hat nur Augen für Flora.« Trotzdem macht etwas in mir einen Sprung.
Dot seufzt. »Mich schaut nie jemand an, Margot.«
»Das werden sie schon noch«, sage ich, und mein Herz fängt an zu klopfen. Harry hat mich angeschaut? Mich? »Du bist noch ein Kind, Dot. Aber bald wirst du eine wunderschöne Frau sein, das sehe ich.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich trage eine Brille. Es ist eine totale Katastrophe.«
»Viele Mädchen tragen eine Brille. Und die Haut in meinen Kniekehlen sieht aus wie getrocknetes Dosenfleisch.«
Dot lächelt. »Knie kann man verstecken.«
»Nicht im Badeanzug. Nicht mal im Sommerrock besonders einfach, nicht ohne halbwegs anständige Strümpfe.«
»Aber ich sehe nicht aus wie ihr anderen.« Ihr Gesichtsausdruck wird ernster. Sie spricht im Flüsterton. »Warum bin ich so dunkel, Margot? Warum bin ich nicht blond wie die anderen Wilde-Mädchen? Warum habe ich keine blauen Augen? Ma hat blaue Augen. Pa hatte blaue Augen.«
»Oh Dot, du könntest schwarz wie Tinte sein und wärst immer noch eine Wilde. Du bist kein Kuckuckskind. Sei keine dumme Gans. Rutsch lieber mal.« Ich klettere zu ihr ins Bett und lehne es ab, mich über Dots exotischen Teint zu wundern, denn es spielt keine Rolle und hat es auch nie. Sie fühlt sich überraschend drahtig und kräftig an, nicht mehr nach dem blassen, asthmatischen Stadtmädchen, das sie noch vor etwas mehr als einer Woche war. Mir kommt der Gedanke, dass Ma einen besonderen Sommer unseres Heranwachsens verpasst. Es dürfte eigentlich keine Rolle spielen – schließlich ist es auch ganz normal, ein Semester fort an der Schule zu sein und reifer nach Hause zurückzukommen – , aber irgendwie tut es das hier. Vielleicht wachsen wir ja auf Applecote Manor leicht krumm wie Rosen, die falsch am Spalier entlanggezogen werden. »Es war so ein langer, heißer Tag, schlaf ein bisschen, Dot. Danach fühlt sich alles besser an, versprochen. Das tut es immer.«
»Ich hab dich lieb, Margot.« Sie gähnt, und schon fallen ihr die Augen zu.
Als ich auf den Flur hinaustrete, bietet sich mir ein erstaunlicher Anblick: Moll, die schnaufend mit einem Wäschekorb unterm Arm durch Audreys Tür geht, als hätte der Raum keinen anderen Stellenwert als die Spülküche. Ich unterdrücke ein Keuchen, weiche zurück in den Türrahmen von Dots Zimmer und warte darauf, dass etwas passiert, auf den Weltuntergang, eine Art statisches Knistern. Doch Moll geht nicht zuckend in Rauch auf. Und sie lässt die Tür einen Spaltbreit offen.
Ich beobachte fasziniert, wie sie Audreys Bett abzieht, ein neues Laken feststopft und es mit der Handfläche glattstreicht. Sie faltet eine rosa Decke, eine Decke, an die ich mich sehr gut erinnere: Zusammengeschmiegt unter dieser Decke, gaben wir uns lebenslange Versprechen, die wir nicht halten konnten.
Als sie sich hinunterbeugt, fällt mein Blick auf das Bullauge, das purpurrote Licht, das sich auf den Zimmerboden ergießt wie Johannisbeerlikör. Als Moll fertig ist, trete ich wieder rückwärts in Dots Zimmer, bis ich das leise Klicken einer sich schließenden Tür und Molls Schritte die Treppe hinunter vernehme.
Niemand ist in der Nähe. Dot schläft. Pam und Flora spielen mit Sybil und Perry im Salon Monopoly. Ich höre Perry brüllen: »Ha! Ab ins Gefängnis, Pam!«
Audrey tippt mir auf die Schulter: Also, worauf wartest du? Der Türknauf lässt sich erschreckend leicht drehen. Ich zögere, wie ich schon so oft zuvor gezögert habe, mein Herz klopft. Es bleibt die Angst, dass, wenn ich diesen Raum erst einmal betreten habe, ein Teil von mir für immer dort bleiben wird. Komm schon, Margot. Ich spüre, wie sie mir mit den Fingern die Augen zuhält. Such mich. Zähl bis zehn. Eins, zwei, drei …
Als ich eintrete, löst sich etwas in mir, wie ein Seufzer: Ich fühle mich geborgen, wieder wie ein kleines Mädchen. Nichts hat sich geändert. Audrey scheint nur kurz raus zu sein, um sich einen Apfel zu holen: Sie wird gleich zurückkehren und sich mit der Zunge einen Kern zwischen den Zähnen herausfischen. Das Zimmer riecht nicht nach verlorenen Dingen, sondern nach Lavendelwasser. Frischen Laken. Auf ihrem alten Schreibtisch steht ein kleines Sträußchen Wiesenblumen – das Wasser klar, die Blumen frisch, rosa und weiß –, und ihre Bleistifte, alle gespitzt im offenen Blechetui, liegen bereit für die emsigen Finger meiner Cousine. Auf ihrer Kommode ihre Haarbürste mit dem Griff aus Elfenbein, einige gelbe Bänder in einer muschelförmigen Porzellanschale. Lang vergessene Erinnerungen tauchen auf, nicht nur die Spiele, Geschichten und Kostümierungen, sondern auch wie Audrey mir dazu verhalf, mich als eigenständige Person zu fühlen, nicht bloß als eine von vier Schwestern. Vor allem erinnere ich mich an die Freude, mich auserwählt zu fühlen, als Favoritin: Es war das genaue Gegenteil davon, am Flussufer zu stehen, mit schmerzendem Körper und juckenden Kniekehlen, und Harry dabei zuzusehen, wie er Flora umwirbt.
Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, nehme meine Haarklammern heraus und werfe mich rücklings auf Audreys wolkiges Bett. Mit den Fingern fahre ich die vertrauten Dellen im Kopfteil aus Korbgeflecht nach. Heiße Tränen schlängeln sich mir in die Ohren, nicht nur um Audrey, sondern auch weil das Leben so schnell dahinrast und die Vergangenheit zurücklässt, immer kleiner werdend wie ein vergessenes Kind auf einem verlassenen Bahnsteig. Ich weiß nicht genau, wie lange ich dort verweile, warum ich eindöse, doch als ich die Augen wieder öffne, ist der Himmel im runden Fenster bereits rötlich, und ich fühle mich anders, leer und doch friedlich: Ich habe Platz in mir geschaffen, einen Ort, an dem Audrey weiterleben kann. Langsam stehe ich auf, noch etwas schläfrig: Im Spiegel der Frisierkommode sehe ich mein Gesicht, ihr Gesicht, die Grenze zwischen uns verschwommen, sich auflösend wie eine Silhouette in der Mittagshitze. Und als ich wieder zu meinen Schwestern gehe, lasse ich nicht nur meine vergessenen Haarklammern zurück, sondern auch ein bisschen von mir selbst, so wie ich es geahnt hatte.
Ich stelle fest, dass ich recht gerne Geheimnisse vor meinen Schwestern habe. Es hat etwas Aufregendes, etwas für mich zu behalten. Außerdem weiß ich, dass Pam und Flora wütend wären, wenn ich ihnen sagen würde, dass ich in Audreys Zimmer war oder mit ihrem Dominostein unterm Kopfkissen schlafe. Für sie stehen jetzt Tom und Harry auf dem Spiel, die prekäre Freiheit dieses Sommers. Wir können es uns nicht leisten, Sybil zu verärgern.
Mir ist das auch bewusst. Aber ich kann der Sogwirkung von Audreys Zimmer nicht widerstehen. Manchmal stecke ich lediglich meinen Kopf durch den Türspalt, manchmal verweile ich zu lange darin und riskiere, erwischt zu werden. Jetzt, da es mir wieder fast so vertraut ist, als ob es mein eigenes wäre, ist es zu meiner Zuflucht vor allem Möglichen geworden: Ma, die nicht schreibt; Harry, der Flora mit den Augen auszieht; die durchdringende Angst, dass, wenn Perry Audrey etwas Schlimmes angetan hat, er uns dasselbe antun könnte; die Entdeckung eines weiteren seltsamen Sträußchens im Wiesenkrater, eine dunkelrote Blume und ein knospender Zweig, wie eine Art heidnisches Opfer; und die unausweichliche backofenartige Sommerhitze.
Heute weht eine Brise, aber sie leckt warm und feucht an uns. Dot findet Unterschlupf unter einer riesigen, knorrigen Buche im Dickicht, zusammen mit Moppet, dessen Gesellschaft sie unserer vorzieht. Uns andere zieht es zum Pool, nur um dort schon Perry vorzufinden. Wir steigen hinein, beobachten ihn argwöhnisch: Er hält sich mit ausgebreiteten rosa Armen an der steinernen Seitenwand des Pools fest, während sich sein Bauch wie ein Fass im Wasser hebt und senkt. Und er beobachtet uns.
Nach einer Weile wuchtet er sich aus dem Wasser. In einem Stuhl am Rande des Pools schläft er mit ausgestreckten Beinen ein, und die Ausbuchtung in seiner gestrickten Badehose zuckt, während er träumt, was uns alle in unterdrücktes Prusten ausbrechen lässt. Wir verstummen wieder. Die Hitze wird immer stärker. Ich verlasse meine älteren Schwestern, die hinter dem Schild ihrer Romane träge über die Gores tratschen, so in das Thema vertieft, dass sie mein Gehen kaum bemerken.
Am Pooltor bleibe ich noch einmal stehen und verspüre einen leichten Stich beim Gedanken an die langen, eintönigen Tage, bevor die Gores in unseren Sommer platzten und wir nur einander hatten. Damals hätte ich keine Chance gehabt, mich in Audreys Zimmer zu schleichen. Pam hätte mich sofort an meinen Badeanzugträgern zurückgezerrt. Und Flora hätte mir bloß in die Augen schauen müssen, und schon hätte sie Audreys Zimmer darin erkannt wie in einem der runden, konvexen Spiegel mit den Goldrahmen in der Eingangshalle.
Audreys Schranktür steht halb offen. Ich kann unmöglich widerstehen. Audrey war immer die am besten Gekleidete. Meine Kleider, die von Woolworth oder Marks & Spencer stammten, kamen aus dritter Hand, die Säume waren ganz verschossen und knitterig vom vielen Hochnähen und Auslassen. Audrey hatte immer neue Kleider, die von einer Näherin in Bath angefertigt wurden oder über die glänzenden Ladentheken von Harrods gegangen waren. Sie ließ sie mich anprobieren, auch wenn sie mir zu groß waren, und ich drehte mich darin, voller Sehnsucht nach Audreys prächtigem Leben. Ich glaube, Audrey wusste ihre feinen Kleider nur dann wirklich zu schätzen, wenn sie sie an jemand anderem sah.
Etwas von dieser kindisch habsüchtigen Begeisterung kehrt zurück. Meine Hände haben bereits hineingegriffen, klappern mit den mit Blumenstoff gepolsterten Bügeln – Lochstickereien, Seersucker, Chinakrepp, Batist, Perlmuttknöpfe, Hornknöpfe, Knebelknöpfe, Reißverschlüsse, Haken und Ösen – und arbeiten sich langsam von links nach rechts, erstaunt darüber, wie Kleinmädchenkleider von Kleidern für ältere Mädchen und dann noch ältere Mädchen abgelöst werden. Es sind genügend Kleider, um Audrey seit ihrem Verschwinden jede Saison einzukleiden. Ganz rechts an der Schiene, ans Zedernholz gedrückt, hängt ein Kleid, das die Vergangenheit wie ein Feuerwerk zurückbringt: Blau – der Farbton der Kornblumen auf der Wiese, des riesigen Sommerhimmels – mit weißem Bubikragen und scharlachroten Herzknöpfen, unterfüttert mit einem hauchdünnen Unterkleid. Und dennoch. Wie kann ich mich bloß an ein Kleid in dieser Größe, mit Abnähern an der Brust erinnern?
Ich streife es vom Bügel und halte es mir an, male mir aus, wie wir zusammen durchs Zimmer tanzen und es mir all seine Geheimnisse verrät.
»Margot.« Sybil ist ein schmaler dunkler Strich in der Türöffnung.
Mir rutscht das Herz in die Hose. »Ich wollte …«
»Ich sehe, was du machst.«
Ich weiß nicht, wohin mit mir oder mit dem Kleid, das ungebührlich an meinen Beinen raschelt. Ich hole Luft, um etwas zu sagen, bleibe dann aber stumm und wundere mich, warum Sybil mich noch nicht ausschimpft.
»Audrey wird neue Kleider brauchen, wenn sie nach Hause kommt.« Sybil spricht mit unsicherer Stimme, als ob sie es wäre, die sich erklären müsste. »Kleidung, die passt.«
Ich senke den Kopf, fühle mich zutiefst unwohl. »Natürlich.«
»Das war ihr Lieblingskleid. Das, das sie trug … an diesem Tag.«
»Ja.« Ich wünschte, ich hätte es nicht in der Hand.
»Also habe ich es nachmachen lassen, genau wie es war.«
»Wie schön«, murmele ich leise, als ob daran nichts merkwürdig wäre.
Sybil mustert mich aufmerksam, wägt meine Reaktion ab, fragt sich wohl, ob sie mir trauen kann. »Sag das nicht deinem Onkel, ja? Es würde ihn nur aufregen. Er kommt nie hier rein.«
»Das werde ich nicht«, versichere ich ihr.
»Auch nicht deinen Schwestern.«
Ich zögere. Es fühlt sich wie Verrat an, so etwas zu versprechen.
»Margot, du darfst es deinen Schwestern wirklich nicht erzählen. Sie würden es nicht verstehen.«
»Okay«, sage ich, weil das stimmt.
Sybil seufzt erleichtert. »Es ist nicht das erste Mal, dass du hier drin bist, oder, Margot?«, fragt sie mit sanfter Stimme, sanfter, als ich es von ihr den ganzen Sommer über gehört habe.
Ich schüttle den Kopf.
»Warum ziehst du das Kleid nicht mal an?«, flüstert sie mit zitternder Stimme.
Ich starre sie verständnislos an, in der Hoffnung, mich bloß verhört zu haben.
»Ich weiß, dass du das möchtest, Margot. Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Nicht mehr. Nicht hier drinnen.«
Ich schüttle den Kopf.
»Ich habe gesehen, wie du den Dominostein genommen hast, Margot. Ich habe deinen Blick gesehen. Ich weiß, dass du auch da nicht anders konntest.«
Meine Wangen brennen vor Hitze. »Es war nur … eine dumme, unüberlegte Sache. Ich … ich werde ihn zurücklegen.«
Sie nickt wieder in Richtung Kleid. »Zieh es an.«
»Ich … lieber nicht«, sage ich, vor Scham ganz benommen. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so bloßgestellt gefühlt, so durchschaut. »Es gehört Audrey.«
Sybils graue Augen füllen sich mit Tränen. »Es würde mich so glücklich machen, Margot. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich mich das machen würde. Nur ganz kurz. Nur einmal kurz drehen.«
Beschämt und nicht in der Lage, es ihr abzuschlagen, knöpfe ich mit linkischen Fingern verlegen mein Hemdkleid auf, bis ich nur noch in meiner Unterwäsche dastehe. Das Bullaugenfenster wirft einen lila Splitter auf meinen weißen Slip, dort, wo das Gummiband auf meinen Bauchnabel trifft. Ich zögere, stelle mir die entsetzten Gesichter meiner Schwestern vor, wenn sie mich jetzt sehen könnten.
Sybil nickt mir ermutigend zu.
Nervös steige ich mit den Fußspitzen voraus in die Falten des Kleides.
»Oh. Es passt! Bis auf den obersten Knopf.« Ich versuche, nicht unter Sybils kalten Fingern zusammenzuzucken, die am Oberteil zerren. Es wird nicht zugehen. Mein Rücken ist zu breit. »Also fast perfekt.«
Sybils Gesicht ist meinem sehr nah, nur Zentimeter entfernt, und sie lächelt ein längst vergessen geglaubtes Lächeln, das sie wieder in die Sybil verwandelt, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. »Oh, es unterstreicht das Blau deiner Augen ganz wunderbar, Margot. Genau wie bei ihr.« Sie fängt an, Haarsträhnen rund um mein Gesicht zurechtzuzupfen. »Nein, es stimmt noch nicht ganz. Ein Zopf würde besser aussehen. Audrey liebte es, einen Zopf zu tragen.«
Sie zwingt mich bei einem von ihr selbst kreierten Spiel mitzuspielen, genau wie Audrey es immer getan hatte. Ich fange an, das Kleid aufzuknöpfen, fummle an den Knöpfen herum. »Meine Schwestern warten auf mich.« Ich schlüpfe zu schnell in mein eigenes Kleid und zerreiße mit dem Fuß eine Naht.
»Nicht so hastig«, sagt Sybil. »Hier. Lass mich mal.« Und wieder rückt sie mir zu nahe. »Oh, du hast hier einen leichten Sonnenbrand, Margot.« Zart berührt sie meine rechte Schulter. »Und ein paar Hitzebläschen, glaube ich. Ich werde Moll sagen, dass sie etwas Galmei-Lotion heraufbringen soll. Wie geht es deinen Kniekehlen?« Und bevor ich darauf antworten kann, hebt sie den hinteren Saum meines Kleides hoch und beugt sich hinunter, um sie zu inspizieren. »Oh, mein Liebling. Oh, du armes Ding.«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist, wirklich.« Und obwohl es sich auf eine Art falsch anfühlt, die ich nicht ganz begreifen kann, lässt sich ein Teil von mir verführen – von der aufmerksamen mütterlichen Anteilnahme und davon, wie ein kühler Finger langsam über die juckenden Stellen fährt.
»Deine Mutter hat dich furchtbar vernachlässigt, das sehe ich. Aber damit ist jetzt Schluss, solange du dich in meiner Obhut befindest, wird es dir an nichts fehlen, mein Liebchen.« Sie lässt den Saum meines Kleides wieder fallen und streicht es mit einer schnellen Handbewegung glatt, eine Geste, die ich als Erlaubnis, mich zu entfernen, verstehe.
In der Türöffnung halte ich noch einmal inne. »Es tut mir aufrichtig leid, Tante Sybil.«
»Oh, ich wusste immer, dass du hier hereinkommen würdest, Margot, dass von euch Schwestern du es sein wirst. Schau nicht so überrascht.« Ihr Blick ist voll unerwarteter Wärme. »Du bist genau wie Audrey. Sie hätte den Dominostein auch genommen. Und natürlich wäre auch sie hier hereingekommen.«
Erst dann begreife ich: Sybil hat die Schranktür absichtlich offen gelassen. Und sie war es auch, die meine Haarklammern gefunden hat, nicht Moll. Sie hat meine Schwäche bereits an jenem Morgen erkannt, als ich in der Vorratskammer herumstöberte. Wahrscheinlich wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit wäre.
Sybil neigt den Kopf, und ihre Finger spielen mit den Saatperlen um ihren Hals. »Weißt du, ich wollte diese Tür eigentlich verschlossen halten.« Ihr Blick wandert über mein Gesicht. »Aber aus irgendeinem Grunde dachte ich an dich, Margot, und dann wollte ich das Zimmer doch nicht mehr absperren. Ist das nicht seltsam?«