8


Sybil fährt mit der Bürste durch mein Haar, wie meine Mutter es auch immer machte, abwechselnd energisch und zärtlich, und hält inne, um den schlimmsten Schwimmbeckenfilz mit den Fingern zu entwirren. Ich sitze ergeben auf dem geblümten Polsterhocker vor Audreys Frisierkommode, genieße den Kontrollverzicht, und meine Gedanken wandern träge von Harrys Oberschenkeln zu meiner Entdeckung eines weiteren Sträußchens im Wiesenkrater und meiner neuen Theorie, dass es sich dabei nicht um das heidnische Opfer von Einheimischen handelt, sondern um etwas, das Perry regelmäßig dort hinterlässt als Zeichen der Schuld oder eines dunklen Geheimnisses. Ich spiele noch einmal die Erklärung meiner Mutter durch für das, was Audrey passiert ist, nicht die Worte an sich, sondern die Lücken dazwischen, und ich erinnere mich an das Gefühl, das mich damals beschlich, dass sie mir nicht alles erzählte, eine Art Knitterfalte in der Luft, nachdem sie Perrys Namen erwähnt hatte. Oder bilde ich sie mir bloß ein, diese Falte?

Sybil legt die Haarbürste klirrend in die Silberschale zurück, und ich tauche erneut in meine Gedanken ein. Im Spiegel der Frisierkommode sehe ich mich aufrechter sitzen, die steifen Falten von Sybils Bluse, die sich über den festen Hügeln ihrer Brüste leicht dehnen. Ich weiß, was als Nächstes kommt. Diesen Teil mag ich besonders, wie sie mein dickes, warmes Haar im Nacken anhebt, es in drei Strähnen unterteilt, das sanfte Ziehen, wenn Sybil mit ihren Fingern die Zeit zurückdreht und der Flechtrhythmus den Raum erfüllt wie eine ganz eigene, seltsame Musik.

Als der Zopf fertig ist, treffen sich unsere Augen im Spiegel. Und ich weiß, dass Sybil nicht mich sieht, sondern Audrey und dass das falsch und seltsam ist. Und dennoch.

Ich dachte, es wäre nur das eine Mal. Doch nachdem Sybil mich letzte Woche in diesem Zimmer vorgefunden hatte und mich Audreys Kleid hatte anprobieren lassen, fragte sie mich immer wieder, ob sie mir die Haare flechten könne. Heimlich, sagte sie. Wir würden es niemandem sagen. Ich könne den Zopf danach wieder aufmachen. Es zucke ihr in den Fingern beim Anblick von so viel widerspenstigem Haar, das so dringend gebürstet werden müsse, sagte sie. Nach einer Weile kam mir meine Weigerung selbst gemein vor – ich war so dankbar, dass ich keinen Riesenärger bekommen hatte, weil ich in Audreys Zimmer erwischt worden war. Außerdem wollte ein Teil von mir nur zu gerne wissen, wie es wäre, wieder an Audreys Frisiertisch zu sitzen und die Finger ihrer Mutter im Haar zu spüren. Ich dachte an Mas Schauspielerfreundinnen, die die Macken ihrer Rollen auch abseits der Bühne auslebten, und kam zu dem Schluss, dass meine Chancen, hinter Audreys Gemütsverfassung am Tag ihres Verschwindens zu kommen, umso besser stünden, je mehr ich mich in sie hineinversetzte.

Am Anfang war es schrecklich, dieses Geflechte. Ich saß starr da und zuckte jedes Mal zusammen, wenn Sybils Finger meine Kopfhaut streiften. Auch ihr schneller Atem erschreckte mich, doch nach und nach zwang ich mich dazu, mich auf die Situation einzulassen, und die Prozedur wurde zunächst annähernd erträglich und dann geradezu wohltuend wegen der Fürsorge und der Aufmerksamkeit. Anschließend ging ich in mein Zimmer, ohne zu verstehen, warum mir plötzlich nach Weinen zumute war, und fand als Geschenk die Holzkiste mit den Dominosteinen aus der Abstellkammer auf meinem Bett vor, vollständig bis auf den einen, den ich mir bereits genommen hatte. Und ich wischte mir die Augen und lächelte.

Als sie mir das nächste Mal die Haare machte, wollte ich mich gar nicht im Spiegel ansehen – was um alles in der Welt machte ich schon wieder hier, und was würden meine Schwestern bloß dazu sagen? – , also schloss ich die Augen, und allmählich verspürte ich die vertraute Wärme tief in meinem Bauch, die ich immer in Audreys Gesellschaft empfunden hatte, und erkannte darin ein Echo des guten Gefühls, Wirbelwind Margot, Pas Lieblingstochter, gewesen zu sein – ein Zusammenhang, den ich vorher nie hergestellt hatte. Und diese kleine Erkenntnis war wie eine Offenbarung, nicht über Audrey, sondern über mich selbst oder meine verschiedenen Persönlichkeiten, die eine in der anderen steckten wie Matrjoschkas. Und hier sitze ich nun wieder, an dem Frisiertisch.

»Margot?«, schreit Pam die Treppe hinauf.

Nervös springe ich auf wie jemand, der aus einem tiefen Schlaf gerissen wurde. Jedes Mal, wenn ich wieder in Audreys Zimmer bin, dauert es anschließend ein wenig länger, bis ich mich wie ich selbst fühle. »Ich muss gehen«, flüstere ich.

Sybil nickt, doch ihre Enttäuschung ist offensichtlich. Ein gelbes Band baumelt schlaff von ihren Fingern.

»Ich rufe dich schon seit einer Ewigkeit. Wo warst du?« Pam steht unten am Treppenabsatz, die Hände in den Hüften, und starrt mich mit zusammengekniffenen Augen durchs Geländer hindurch an. Plötzlich fällt mir auf, dass keine von uns mehr wie ein Mädchen aus London aussieht. Ma würde uns nicht wiedererkennen. Wir sind seit fast einem Monat auf Applecote, und unsere Haare sind ausgebleicht und haben jetzt die Farbe von Weizenfeldern, unsere Schultern sind durchs Schwimmen gekräftigt, unsere Bäuche weich von Molls ständigen Applecrumbles und ihrem selbstgemachten Sahnekaramellkrokant.

Auch innerlich sind wir verändert. Es steckt eine gewisse Schärfe in der Art, wie Pam mich anschaut, ein unausgesprochenes Misstrauen. Wenn Ma überhaupt mal zu uns durchkommt – sie ist sehr beschäftigt, erzählt uns Sybil, und die Verbindung miserabel – , frage ich mich, ob sie es an unseren Stimmen hört. Sie ging fort, in dem beruhigenden Wissen, dass wir immer aufeinander aufpassen würden, einen festen Verbund bilden. »Was ist der Sammelbegriff für Schwestern? Eine Schwesternschar? Ein Rudel?«, sinnierte Ma einmal und wedelte sich mit einer martinifleckigen Ausgabe der Vogue Luft zu. Sie wusste, dass wir die Gedanken der anderen lesen können wie Telegramme. Doch das ist vorbei.

»Ich war bloß hier oben.« Es ist nicht wirklich eine Lüge, aber nahe genug dran, dass ich mir schäbig vorkomme.

»Was in aller Welt hast du mit deinen Haaren gemacht?«, ruft Pam spöttisch. »Du siehst aus wie zwölf, Margot.«

Erschrocken über meine Nachlässigkeit zerre ich an meinem borstigen festen Zopf und reiße ihn grob auseinander. »Mit offenen Haaren war mir zu heiß.«

»Sollen wir dann einfach ohne dich los?«, sagt sie ungeduldig wie jemand, der genau das vorhat. »Da du noch nicht fertig bist.«

»Wofür?« Während meine Panik nachlässt, fällt mir auf, dass Pam Lippenstift trägt – den karmesinroten, den sie von Ma stibitzt hat

»Herrgott, Margot. Du stammst wirklich von einem anderen Planeten, was? Die Gores. Sie haben gesagt, sie würden nach dem Tee im Fluss schwimmen gehen. Schon vergessen?«

Ich halte mir die Hand vor den Mund. Meine Finger riechen verstörend nach Sybil: Rosen, Speisestärke, irgendwie eingeseift und abgeschrubbt. »Ja, ja, natürlich. Ich komme mit!«

Pam tut nicht so, als wäre sie besonders erfreut darüber. Je weniger Konkurrenz um Toms Aufmerksamkeit, desto besser. Sie hat ja mit Flora bereits ein außerordentliches Hindernis zu bewältigen, obwohl diese erklärt hat, »schon zu drei Vierteln verliebt in Harry« zu sein, sträubt sie sich noch dagegen, das Seil zu kappen, an dem Tom baumelt, und stiehlt somit selbstsüchtig und gierig die Herzen beider jungen Männer, anstatt die Beute mit Pam zu teilen. »Dann solltest du dich besser mal beeilen. Zieh deinen Badeanzug unters Kleid. Schnapp dir ein Handtuch. Und geh vorher noch aufs Klo. Du kannst ja schlecht ins Gras machen, wenn Jungs dabei sind.«

Im Wasser des Flusses wirkt die Haut der Gores blassgrün wie die Unterseite eines Laubblattes, ihre Körper sind so muskulös definiert, dass sie mich an die Statuen aus dem Victoria and Albert Museum erinnern. Bis jetzt habe ich Jungs noch nie als schön empfunden, so dass man ihre Gestalt erforschen möchte wie die von Mädchen. Aber sie sind schön, wie sie da im Wasser herumtollen, unwiderstehlich und so unbekümmert lebendig. Wir starren sie an, wie verzaubert hinter einem Schleier aus Wiesenkerbel, und halten Moppet am Halsband zurück. Über den Bäumen steigt ein riesiger Heißluftballon auf, tomatenrot, mit schaukelndem Korb.

»Das ist keine gute Idee«, sagt Dot und zeigt auf Moppet. »Ich gehe zurück zum Haus.«

»Nein, nein. Bleib hier bei uns«, sage ich und drücke ihre Hand, weil ich will, dass sie sich dazugehörig fühlt. »Sybil hat bestimmt nichts dagegen.« Seit die Sache mit dem Zöpfeflechten begonnen hat, ist Sybil ein wenig lockerer geworden, und selbst wenn sie uns nicht direkt die Erlaubnis erteilt hat, so übersieht sie unsere Treffen mit den Gores, solange wir bei Tageslicht zurück sind und uns nicht zu weit entfernen.

»Sie hat gesagt, der Fluss ist gefährlich.«

»Sybil hält doch schon ein Bad in der Wanne für gefährlich, Dot.« Flora lacht und versucht einen amüsierten Blick mit mir zu wechseln. Doch ich schaue schnell weg und fühle mich seltsam treulos, sowohl Sybil als auch Flora gegenüber, in der Zwickmühle, da ich mit keiner von beiden ehrlich bin.

»Juhu!« Harry winkt jubelnd vom Wasser herüber und ruft, wir sollen zu ihnen kommen. Ich kann an nichts anderes als an meine Kniekehlen denken, die ich mir letzte Nacht im Schlaf aufgekratzt habe, durch die zahnpastaartige Galmeicremekruste hindurch.

Doch Pam zieht sich bereits ihr Kleid über den Kopf, erpicht darauf, Tom ihren kräftigen, athletischen Körper zu zeigen. Flora folgt ihr und schlüpft mit einer anmutigen Bewegung aus ihrem. Die Jungen wechseln lüsterne Blicke.

Dann tue ich es ihnen unbeholfen nach, vergeblich bemüht, meine Beine hinter dem Handtuch zu verstecken. Ich springe als Erste in den Fluss, suche Deckung im Wasser. Dot bleibt am Ufer, stur bekleidet und mit Moppet auf dem Schoß.

Das Wasser ist kalt, voller winziger silberner Fische. Ich mag die Fische, wie sie zwischen meinen Fingern herumschwimmen, doch Flora lassen sie aufkreischen. Mücken umschwirren unsere Köpfe wie Heiligenscheine.

Tom watet nah am schlammigen Ufer herum, groß, sehnig, und blickt scheu zu Flora hinüber, die im Seichten steht und ihm übers Wasser hinweg verstohlen zulächelt. Sie können den Blick gar nicht voneinander lassen. Doch als Harry mit einem Jauchzen aus dem tieferen Wasser auftaucht und strähniges Schilfgras abschüttelt – gedrungen, wo Tom schlank ist, seine Energie kondensiert, wie auf engem Raum zusammengedrängt – , wendet sich Flora bewusst ab von Tom und von der Versuchung und lässt sich mit vor Lachen bebenden Brüsten zu Harry hinübertreiben.

Plötzlich wünsche ich mir, dass auch meine Brüste so rund und wohlgeformt wären wie die von Flora oder dass ich gar keine hätte: dass ich entweder die Erwartungen übertreffe oder sie komplett umgehe wie Dot. Ich hasse es, Mittelmaß zu sein. Nur in Audreys Zimmer, wird mir bewusst, bin ich besonders.

Die Gores und meine älteren Schwestern fangen an, sich gegenseitig mit Wasser zu bespritzen, zu kichern und von Ästen ins Wasser zu springen. Zu gehemmt, um mitzumachen, drehe ich um und schwimme flussabwärts. Erleichtert darüber, allein zu sein, genieße ich das Rauschen des Wassers zwischen meinen Beinen und bleibe lieber im Tiefen, da ich den Schlamm im Seichten mit all den Flusskrebsen, die dort herumkrabbeln, nicht mag und auch nicht, wie fleischig es sich anfühlt, als wäre dort alles voller Körper.

»Eins, zwei, drei!«, höre ich Pam rufen, die Arme über dem Kopf ausgestreckt und bereit, von einem Baum ins Wasser zu springen. Aber die Gores schauen nicht zu ihr. Sie beobachten Flora, die gerade zum Ufer watet: Ihr Badeanzug ist hochgerutscht und enthüllt eine runde Pobacke, so weiß wie der Rahm oben auf der Milch. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass sich der ganze Nachmittag nur noch um den Hintern meiner Schwester drehen, gleichsam in dessen Bann stehen wird. Dass jetzt nichts Großes mehr passieren kann.

Ich fange an zu schwimmen, diesmal schneller. Erst nach einer Biegung des Flusses, als die anderen nicht mehr zu sehen sind, lasse ich mich wieder treiben und flüchte mich ins Betrachten von Dingen: den Bau der Schermaus, einen Wasserläufer, der lustig über die Wasseroberfläche stakst wie ein Mann auf Stelzen. Mir fällt auf, dass sich die Welt des Flusses einem erst dann vollkommen erschließt, wenn man mittendrin ist, wenn man die Sicherheit des Festlandes verlässt, sich auf sein Niveau begibt, und vielleicht gilt dies ja auch für die Vergangenheit. Es ist richtig, dass ich Zeit in Audreys Zimmer verbringe und etwas von ihr in mir aufsauge.

»Du siehst nicht aus wie ein Mädchen, das Hilfe braucht.«

Harrys unerwartete Nähe lässt mich prusten. Wo ist er so lautlos hergekommen? »Alles okay«, bekomme ich atemlos heraus.

Er lächelt und umkreist mich, mit den Füßen rudernd. »Pam meinte, dass du gerne zu weit weg schwimmst, ohne es zu merken, also ergriff ich die Gelegenheit, mich als Held zu beweisen. Der Fluss wirkt friedlich, aber an manchen Stellen ist er ziemlich vertrackt.«

»Ich kenne den Fluss.«

Er lächelt spöttisch. »Ah, du klingst wie ein modernes Mädchen, das nicht gerettet werden will.«

»Ich bin vollkommen in der Lage, mich selbst zu retten, danke«, sage ich spröde. Hastig schwimme ich weg. Zu meiner Überraschung folgt Harry mir, statt zurückzukehren und Flora zu begaffen – seine Schwimmzüge verursachen keinerlei Spritzer, und seine Muskeln treten hervor, wenn er die Arme hebt, um das Wasser zu durchpflügen.

Der Fluss hat jetzt nichts Ruhiges mehr an sich, und das liegt nicht an der Strömung. Harrys Anwesenheit verstärkt alles, die Hitze der Sonne, den Sog des Wassers an meiner Haut. Noch eine sanfte Kurve, und der Fluss wird breiter. Hier verlangsamt sich alles, die Strömung, mein Herzschlag. Der Heißluftballon direkt über uns scheint sich kaum zu bewegen, was den Nachmittag vollkommen zum Stillstand bringt.

Er nimmt mich beim Arm. »Schau!« In der Zeit, die er braucht, um dieses Wort zu sagen, ist es schon passiert: Die blaue Bombe, die ins Wasser einschlägt und sofort wieder auftaucht. »Ein Eisvogel, hast du ihn gesehen?«

Seine Hand ist immer noch auf meinem Arm. Dieser Moment – der Heißluftballon, der Eisvogel, seine Hand – fühlt sich schon jetzt an wie ein kleiner Verrat und noch wie etwas anderes, etwas Aufregendes. Ich habe kein Wort dafür.

»Du erinnerst mich an jemanden, Margot.« Er starrt mich durchdringend an, bringt mich dazu, rot zu werden.

»Die Leute sagen, ich sehe aus wie meine Cousine. Wie Audrey«, sage ich, erneut außer Atem.

Er nimmt seinen Arm weg und runzelt die Stirn. »Ah ja. Ich habe mich gefragt, was an dir ist.« Sein lässiger Charme steht im Kontrast zu etwas anderem, etwas Dunklerem, Tieferem, wie die Füße des Wasserläufers auf der trüben Wasseroberfläche.

»Ihr wart Freunde, sagt meine Tante.« Ich paddle schneller mit den Füßen, verteile dadurch die winzigen Fische. Ich kann noch immer seine warme Hand auf meinem Arm spüren, die gespreizten Finger.

Harry dreht sich auf den Rücken, verharrt reglos, als gäbe es eine verborgene Bohle unterm Wasser. »Wir hingen zusammen rum die ersten Wochen des Sommers. Ich war der dürftige Ersatz – sie wartete voller Ungeduld auf die Ankunft ihrer wundervollen Cousinen.« Er dreht sich zu mir um und grinst mich auf eine Weise an, dass sich etwas in mir zusammenzieht. »Jetzt kann ich sehen, was es mit dem ganzen Wirbel auf sich hatte.«

Ich lächle und drehe mich auch auf den Rücken, starre hinauf in den Himmel. Es ist einfacher zu reden, wenn ich ihn nicht ansehe. Und wenn er seine Hände bewegt, spüre ich das als Wellen entlang meines Körpers. »Darf ich dich was fragen, Harry?«

»Alles.«

»Werden meine Tante und mein Onkel hier nicht gemocht?«

»Gemocht?«, wiederholt er mit einem leisen Lachen, offenbar verblüfft darüber, dass sich jemand darum schert, ob sie gemocht werden oder nicht. Vielleicht ist er aber auch einfach nur überrascht darüber, dass ich so eine direkte Frage gestellt habe. Ich vergesse immer, dass die Leute nicht mit Direktheit rechnen, dass es höflicher ist, nicht zu sagen, was man meint.

»Es ist bloß so … na ja, sie haben jetzt kaum mehr etwas mit den anderen zu tun. Das ist seltsam.« Ich drehe meinen Kopf und sehe ihn an, mein Ohr füllt sich mit Wasser. »Sybil hat Angst, das Haus zu verlassen. Sie kann sich einfach nicht dazu durchringen.«

»Nichts hält sie davon ab, Margot«, sagt Harry sanft. »Man muss sich zwingen, die Dinge zu tun, vor denen man am meisten Angst hat. Man muss sich seinen dunkelsten Ängsten stellen, oder?«

Ich versuche, nicht zu beeindruckt auszusehen. Aber diese Worte klingen wahr und weise. Ich nehme mir vor, ihre Botschaft an Sybil weiterzugeben, sie damit eines Tages aus dem Haus zu locken.

»Nur dann kann man sich selbst aushalten«, fügt er mit plötzlicher poetischer Heftigkeit hinzu.

Ich bin voller Staunen über diese Worte. Harry redet nicht wie andere Männer. Wie ungerecht, dass Flora dies nicht zu würdigen weiß, während ich ihn dafür lieben würde.

»So oder so, das ist hier wie in der Steinzeit.« Harry dreht sich wie ein Welpe auf den Bauch, und etwas an dieser Geste lässt alles wieder leichter erscheinen. »Die glauben hier an Zwerge, Kobolde und Feen. Steingeister. Und, weißt du, dummerweise ist Pech ansteckend. Verschwundene Kinder auch. Kein Rauch ohne Feuer und so.«

Das Wasser fühlt sich jetzt kälter an. »Also haben … haben die Leute angenommen …«

»Dass dein Onkel und deine Tante etwas damit zu tun hatten?«, führt er meine Frage zu Ende. Ich sinke auf unelegante Art tiefer und muss mich strampelnd wieder an die Oberfläche bringen. »Totaler Quatsch, haben sie natürlich nicht«, fügt er hinzu.

Irgendetwas fühlt sich nun anders an, als hätten wir eine neue Stufe erreicht. Ich prüfe, ob der Heißluftballon noch am Himmel ist. Ob noch alles so ist, wie es war. Flussgeschmack sickert mir die Kehle hinunter, kuhmistartig, grasig. Das könnte das Letzte sein, was Audrey geschmeckt hat, nicht Apfelkuchen oder Schweinekotelett oder Honigkuchen, sondern der Fluss. »Was haben deine Eltern gedacht? Sie sind … gebildete Leute.«

»Meine Eltern?« Er lacht gekünstelt. »Gebildet? Im weitesten Sinne vielleicht. Meine Eltern ziehen es vor, gar nicht zu denken, Margot. Sie schlagen einfach einen bestimmten Kurs ein und bleiben dann dabei wie Ozeanriesen.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt lachen darf, und entscheide, dass es sicherer ist, nichts zu sagen und ein ernstes Gesicht zu machen.

»All die Reporter, die überall herumschnüffelten. Sie wollten ihre Namen auf keinen Fall in der Zeitung lesen, also gingen sie weg und wollten sich auch nicht mehr viel hier aufhalten, nicht nach alldem. Dann haben sie sich wohl daran gewöhnt, den ganzen Sommer in Frankreich zu verbringen. Die Sonne. Der Wein. Sie sind einfach Gewohnheitstiere, meine Eltern.«

»Warum wolltest du zurückkommen?« In dem Moment, in dem die Worte aus meinem Mund sind, spüre ich, dass es eine Frage zu viel sein könnte. Er zögert, wie Menschen es tun, wenn sie jemand irgendwohin führt, wo sie nicht hingehen wollen.

»Weil sie Cornton bald verkaufen werden, und als ich ein kleiner Junge war, war das mein besonderer Ort, gleichbedeutend mit Sommer.« Er grinst. »Wirklich, Margot, dass ich die Schlüssel zu Cornton habe, ist ein Geschenk. Vier wunderschöne Schwestern sind auf Applecote Manor. Es ist traumhaft heiß. Im Radio läuft Elvis Presley. Man kann nicht viel an der Welt aussetzen, oder? Haben wir nicht großes Glück, dass wir hier leben, jetzt? Ich meine, an diesem Punkt in der Geschichte.«

Ich überlege, ob ich ihm von Audreys Zimmer erzähle, davon, dass Sybil es für ihre Rückkehr bereithält, sie nur für diesen Tag lebt, dass nichts Geschichte ist, nichts vorbei ist. Es vergeht bloß die Zeit, und Audrey werden die Jahre gestohlen. »Das haben wir«, sage ich stattdessen. Ich fühle mich unglaublich glücklich, hier bei ihm zu sein.

»Du hast ein sehr hübsches Lächeln, Margot. Du solltest mehr lächeln. Nicht immer so ernst sein. Komm schon, ich scheine ja kein besonders guter Retter zu sein. Am Ende musst du noch mich retten. Lass uns zurückschwimmen.« Er holt tief Luft, hebt seinen muskelbepackten Arm an und taucht ihn mit einer fließenden Bewegung in den Fluss.

Ich folge in seinem Kielwasser, bewundere seine kraftvollen Schwimmbewegungen, betrachte eingehend die zimtfarbenen Sommersprossen auf seinen Schulterblättern. Ich denke über ihn und Audrey nach, versuche ein Muster im Chaos dieser Sommersprossen zu erkennen, so wie ich damals Audreys Gesicht in den Sternbildern am Himmel sah. Aber es bleiben bloß Sommersprossen, zufällige Spritzer längst vergangener Sommer und ferner Sonnenwärme.

»Na bravo, Hintern!« Aus Pams Lächeln spricht glühende Wut. »Falls Harry dir vorm Schwimmen heute Nachmittag noch nicht verfallen war, Flora, dann ist er es jetzt. Und ich wage zu behaupten, dass es Tom genauso geht, dem Ochsen auf dem Feld, dem Fahrer des Heißluftballons und jedem anderen, der in dankbarer Reichweite deiner Stripshow war. Ma wäre stolz auf dich.«

»Sei still, oder ich lackiere dir den Mund zu«, faucht Flora.

Wütend funkeln sie einander an. Dann beugt sich Flora wieder über meinen auf ihrem Schoß liegenden Fuß, und ich spüre den kalten Druck der Polierfeile an meinem Nagel. Sie hat auch die Fußnägel von Pam lackiert, die nun mit den Zehen wackelnd auf Floras Bettvorleger steht und die Farbe trocknen lässt, doch es ist nicht genug. In Pam brodelt es noch immer.

Als Harry und ich von unserem Bad im Fluss zurückkehrten – »Ihr habt euch aber Zeit gelassen«, sagte Flora, eher verdutzt als verärgert, denn sie würde mich, ihre gute alte gewöhnliche Schwester, nie als Rivalin um die Gunst eines Jungen ansehen – , sonnten sich die anderen am Flussufer mit von blutroten Kirschen verschmierten Lippen. Etwas war erloschen, die Zwietracht zwischen Flora und Pam besorgniserregend, fast körperlich spürbar. Und die Atmosphäre wurde von Harrys offensichtlicher Abwesenheit nicht gerade verbessert, der Art, wie er sich unterstand, an einem Grashalm zu kauen und angestrengt in den dahingleitenden Fluss zu starren, anstatt all seine Energie darauf zu verwenden, Flora schöne Augen zu machen. Sie sah mich fragend an; ich zuckte mit den Schultern. Da sie Harrys Distanziertheit als Ablehnung verstand – Flora hatte schließlich wenig Erfahrung mit Ablehnung – , entfernte sie sich und legte sich neben Tom. Der hatte sich verführerisch im Gras ausgestreckt, die Augen geschlossen, den Kopf auf den ineinander verschränkten Händen ruhend, nackt bis auf die Badehose. Als Flora sich neben ihm niederließ, machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit: Auf ihre Präsenz, auf ihre Koordinaten am Ufer eingestellt, wie er war, schien er zu wissen, dass es sich um Flora handelte, ohne dass er auch nur die Augen öffnen musste. Während sie lachten und sich leise unterhielten, fiel mir auf, wie Flora in Toms Gegenwart immer natürlicher wurde, während Tom in ihrer immer größer zu werden schien und seine Zurückhaltung verlor. Auch Pam, die die beiden mit dem unbarmherzigen Blick eines wütenden Schwans beobachtete, bemerkte es – es genügte doch, dass Flora Harry hatte, da brauchte sie nicht auch noch Tom. Ich verstand das. Ich wollte Harry für mich, mehr als ich jemals zuvor irgendetwas gewollt hatte.

Die Zersetzung verstärkte sich den Nachmittag über. Zurück im Haus, brachte Moll uns Eis am Stiel aus dem Gefrierfach des Kühlschranks. Normalerweise war das ein Moment des kollektiven Genusses, aber diesmal nahmen wir es nur schweigend entgegen, ließen uns auf die gestreiften Liegestühle im Schatten der Buche fallen, als befänden wir uns auf verschiedenen Inseln, und lutschten gedankenverloren an unserem Eis, während Pam vor sich hin schmollte. Einmal, als ich mich besonders lebhaft an Harrys Hand auf meinem Arm erinnerte, seufzte ich viel zu sehnsüchtig und zu laut. Doch keine meiner älteren Schwestern bemerkte oder kommentierte es, und ich fragte mich, ob wir die Fähigkeit, einander zu lesen, verloren hatten – ein verlegenes Kratzen an der Nase zeugte von schlechtem Gewissen, hinter einem scharfen Einatmen waren Worte zurückgehalten, der trödelnde Schritt verriet die Träumerin – oder ob wir bloß alle so sehr in unsere eigene Welt versunken waren, dass es uns nicht kümmerte.

»Dot, rück mal ein bisschen. Du bist mir im Licht.« Flora tupft wieder an meinen Füßen herum, und meine Gedanken verfliegen. »Dein kleiner Zeh ist echt kniffelig. Er ist nicht größer als eine Erbse.«

»Flora?« Dot schiebt ihre Brille auf der Nase wieder hoch. Es ist das erste Mal seit Ewigkeiten, dass sie etwas sagt. Seit wir vom Fluss zurückgekehrt sind, ist sie still. Ich glaube nicht, dass es ihr gefällt, wie sich unsere schwesterliche Loyalität, seit wir die Gores kennengelernt haben, ständig wandelt, dass sie sich beinahe im Minutentakt neu ausrichtet wie die Wolke aus winzigen Mücken, die über der Flussoberfläche auf und ab tanzt.

»Hm?«, sagt Flora abwesend, während sie meinen Fuß hochhält und ihr Werk begutachtet. »Perfekt, wenn ich das so sagen darf. Aber Vorsicht, Margot, sonst verschmiert es.«

»Was war denn vorhin mit Harry los? Warum war er plötzlich so still?« Dot hängt in Gedanken noch immer an diesem Vormittag.

Ich spüre Floras Zucken beim Auftragen des Nagellacks. »Vielleicht kannst du uns das erklären, Margot.«

Ich erröte. Der chemische Geruch des Lacks brennt plötzlich in meiner Kehle. Pam und Flora wechseln einen Blick der schweigenden Übereinkunft. Pam nimmt einen großen, hübschen Briefbeschwerer aus Glas von Floras Schreibtisch und wechselt ihn schwungvoll von einer Handfläche in die andere.

»Du hast ihm wegen Audrey auf den Zahn gefühlt, oder?«, sagt Pam und hebt ihr eckiges Wilde-Kinn.

»Na ja. Gewissermaßen.«

»Oh, Herrgott noch mal, Margot.« Flora stößt meinen Fuß von ihrem Schoß.

»Musst du alles kaputtmachen?« Jetzt sieht Pam noch wütender aus, sie gibt mir die Schuld an Harrys vermeintlicher Ablehnung, die zu Floras alleiniger Beanspruchung von Tom führte. »Audrey ist mausetot und kommt nicht wieder. Mir ist mittlerweile sogar egal, wer es war. Perry, Moll, der enthauptete deutsche Pilot, die Katze. Audrey ist tot! Wir leben! Können wir dafür nicht einfach dankbar sein?«

»Sie hat recht«, sagt Flora.

»Irgendwer muss doch Fragen stellen«, schleudere ich ihnen mit scharfer Stimme entgegen. Die Schuldgefühle, die mein Verlangen nach Harry begleiten, machen mich hitzig und defensiv.

»Margot, die Fragen sind doch gestellt worden«, sagt Pam müde. »Und es gibt keine Antworten.«

»Das ist einfach nicht wahr.« Aufgebracht und mit klopfendem Herzen trete ich ans offene Fenster. Ich muss daran denken, wie ich vorhin an Audreys Frisiertisch saß, an das Ziehen und Flechten von Sybils Fingern: Dort habe ich mich mehr verstanden gefühlt als jetzt, mehr geschätzt allemal.

»Musst du alle mit deiner sentimentalen Fantasie anstecken?«, zischt Pam leise.

Ich schüttle den Kopf, ungläubig, dass Audreys Schicksal sie so wenig interessiert. »Du hast einen Eissplitter statt eines Herzens, Pam.«

»Und in deinem, meine seltsame kleine Schwester …«, sie hält den Briefbeschwerer gegen das Licht und dreht ihn langsam, so dass der kobaltfarbene Wirbel darin sich zu bewegen scheint wie ein sich drehendes, tanzendes Mädchen in einem blauen Kleid, »… haust ein Geist.«