13
Ein schwarzes Loch im Eis und am Rande des Pools, zusammengekauert, durchnässt, reglos, Romy und Bella. Jessie hört sich selbst schreien und schreien. Eine Abfolge von Geschehnissen, unbegreiflich, unerträglich: Joe stürmt über das Pflaster, Will packt Romy. Blaue Lichter blinken über der Eibenhecke, ein schrecklicher Lärm, Wind, ein Hubschrauber landet auf dem Rasen. Sanitäter. Jessies Kehle ist so zugeschnürt, dass sie überhaupt nicht sprechen kann. Eine silberne Foliendecke wird ihr um die Schultern gelegt, Hände, die sie hochziehen, hier entlang, so ist’s gut, die Güte von Fremden, das Surren von Rotorblättern, ein schwindelerregender Anstieg und Auftrieb, Motorenrattern, Romys kleines Gesicht unter der Sauerstoffmaske, ihre winzige kalte Hand in Jessies. Bella, ebenfalls in Folie eingewickelt wie ein Sonntagsbraten, die immer wieder sagt: »Es ist meine Schuld, meine Schuld.« Jessie schaut aus dem Fenster und sieht Will zu seinem Auto rennen, sieht die Erde unter ihnen schrumpfen.
In der Notaufnahme nehmen sie beide Mädchen mit. Jessie versucht, im Wartezimmer nicht völlig die Fassung zu verlieren. Ihre Gedanken stürzen an stockdunkle Orte. Sekunden ziehen sich wie Tage. Ihr Kleid mit dem Papageienmuster, so furchtbar unpassend, kommt ihr vor wie ein Korsett. Wo ist Will? Wann kommt er? Sie schafft das nicht allein. Sie hat Angst. Endlich führt eine gestresst wirkende Ärztin sie irgendwo hin. Irgendetwas passiert hier. Die Ärztin berichtet ihr etwas, wichtige medizinische Dinge, dass es Bella gut gehe, sie nur aufgewühlt sei. Aber dann ändert sich die Stimme der Ärztin, und sie sagt, sie seien beunruhigt wegen Romy. Da sie nicht wüssten, ob sie Wasser geschluckt habe, bestehe die Gefahr des sekundären Ertrinkens durch Wasser in der Lunge, das möglicherweise erst Stunden nach dem Vorfall eintreten könne. Jessies Magen krampft sich zusammen. Ihr ganzes Leben verengt sich auf diesen Moment, die hellen Lichter, der chemische Geruch von Krankenhausluft. Vor dem Schwesternzimmer der Beobachtungsstation steht Bella und bittet darum, ihre kleine Schwester sehen zu dürfen. Vom Ende eines anderen Gangs, noch immer weit, weit entfernt, erklingt Wills Stimme.
Bella starrt auf die schlafende Romy hinunter, ein erbärmlicher kleiner Haufen unter einem weißen Krankenhauslaken, unter dem ein Fuß herausschaut. An ihrem Körper sind Schläuche befestigt. Der Monitor piept. »Du hattest recht damit, mir nicht zu trauen.«
Jessie weiß nicht, was sie antworten soll. Das hatte sie. Das hatte sie nicht. Es ergibt alles keinen Sinn. Eine Träne läuft ihr über die Wange. Als sie sie wegwischt, riecht sie noch den Geruch des Kaminfeuers aus der Kneipe an ihren Fingern, das ihr bereits unendlich weit weg erscheint. Was gäbe sie nun dafür, diesen Tag noch einmal von vorne durchleben zu dürfen, oder auch nur den Nachmittag, um all die kleinen Entscheidungen rückgängig zu machen, das Bestellen der Schokoladentorte, das Grübeln darüber, welches Kleid sie anziehen soll, all die Dinge, die die Zeit, Minute um Minute, katastrophal in die Länge gezogen haben könnten und die Mädchen somit zu lange alleine ließen.
»Bella«, sagt Will leise. Jessie hört seine Stimme wie unter Wasser. Sie schaut ihn an, die feuchtroten Ränder um seine Augen. Er sieht aus, wie um zehn Jahre gealtert. »Kannst du versuchen, uns noch mal zu erzählen, was passiert ist?«, fragt er Bella sanft. »Ich bin vorhin nicht wirklich aus dir schlau geworden. Warum hast du gesagt, dass es deine Schuld ist?«
Jessies Hals ist wie zugeschnürt.
»Ich bin mit ihr raus, damit wir im Schnee spielen«, sagt Bella leise und umklammert das Bettgitter.
Will nickt, offensichtlich in dem Versuch, ermutigend zu wirken. Doch Jessie sieht, wie seine Hand zittert, als er sich damit durchs Haar fährt. Die Luft fühlt sich an wie viele kleine Elektroschocks, wie Quallenstiche.
»Ich hab Romy Handschuhe angezogen, ihren Mantel, alles. Ich habe dafür gesorgt, dass ihr warm genug ist, ehrlich. Wir haben einen Schneemann gebaut. Es hat Spaß gemacht, aber dann … dann …« Sie schaut Jessie kurz an und dann wieder weg, als könne sie Jessies Gesichtsausdruck nicht ertragen.
Es gibt eine Unregelmäßigkeit in den Signaltönen des Monitors. Jessie schnürt es die Luft ab. Das Warten auf den nächsten Piepton, bloß ein Minutenbruchteil, ist viel zu lang. Will versucht sie zu beruhigen, indem er ihr die Hand an den Rücken legt. Aber nichts könnte sie beruhigen. Er dringt kaum noch zu ihr durch, genauso wenig wie sie zu ihm. Irgendwie sind sie zwar beide im selben Alptraum gefangen, müssen ihn aber jeder für sich durchleiden. Als das Piepen des Monitors wieder einsetzt, atmet Jessie aus. Will bedeutet Bella mit einem Kopfnicken fortzufahren.
»Aber dann fing meine Sendung an, diese Backshow. Ich schätze, da hab ich nicht … Ich habe nicht daran gedacht, die Spülküchentür abzuschließen, Dad. Ich hab gar nicht darüber nachgedacht.« Bella vergräbt das Gesicht in ihren Händen »Also ist es meine Schuld.«
»Das bedeutet nicht, dass du Schuld hast«, sagt Will.
»Ich bin auf die Toilette und hab sie auf dem Sofa sitzen lassen, Dad.« Bellas Stimme bricht. »Und … als ich zurückkam, war sie nicht mehr da. Romy war weg.«
Jessie kneift die Augen zusammen wie jemand, der sich auf einen Schlag gefasst macht. Sie sieht es genau vor sich wie einen Film in ihrem Kopf.
Bella beißt sich auf die Lippe. »Ich konnte sie nicht finden.«
»Also bist du rausgerannt?«, fragt Will mit jetzt weniger gefestigter Stimme. »Du bist ihren Fußabdrücken gefolgt?«
»Sie hat keinen Mucks gemacht, Dad. Da war nicht mal ein Platschen.«
Jessie stellt sich Romys perfekte rosa Lunge vor, wie sie schmutziges, eiskaltes Wasser einatmet.
»Ich … ich bin einfach reingesprungen«, sagt Bella.
Will zieht Bella an sich. Sie wirkt winzig in seinen Armen, viel zu jung, um so etwas zu bewältigen. Jessie steht daneben, als sie sich umarmen, und weiß nicht, was sie sagen soll.
Die Krankenschwester kommt zurück, misst Romys Puls, notiert ihn und lächelt Jessie dann freundlich an. »Sie sind bestimmt sehr stolz auf Ihre Tochter, dass sie ihre kleine Schwester gerettet hat.«
Jessie rechnet damit, dass Bella die Krankenschwester scharf korrigiert, wie sie es immer tut, wenn jemand sie beleidigt, indem sie Jessie für ihre richtige Mutter hält, aber Bella starrt einfach auf ihre Füße hinunter wie jemand, der weiß, dass er in Tränen ausbrechen wird, wenn er etwas sagt.
»Ja, das … das bin ich«, bekommt Jessie heraus.
Bella scharrt mit dem Fuß am Boden. Dann steht sie still und drückt sich ganz ernst an den Rand des Krankenbettes, die Augen ausdruckslos auf Romy gerichtet. Jessie fühlt sich wieder zurückversetzt in die mitternächtliche Dunkelheit, als Bella schlafwandelte, diese hohe, dunkle Säule, die neben dem Gitterbettchen aufragte. Sie hatte es immer als bedrohlich empfunden – erst jetzt kommt ihr in den Sinn, dass es fürsorglich war, dass Bella über ihre kleine Schwester gewacht haben könnte.
Die Krankenschwester versichert Will, dass er ruhig Kaffee und Sandwiches holen gehen könne, eine ausgezeichnete Idee, da sie bestimmt noch einige Stunden hier sein werden. Widerstrebend macht sich Will auf den Weg in die Krankenhauscafeteria. Die Krankenschwester wird woandershin gerufen und lässt Jessie und Bella hinter dem blassgrünen Kabinenvorhang zurück, wo sie Romy ängstlich schweigend beobachten.
Bellas Mund verzieht sich und fängt an zu zucken. Sie stößt ein ersticktes Schluchzen aus. Jessie hält es nicht länger aus und nimmt Bella fest in die Arme. Bella stößt sie nicht weg. Etwas in ihr scheint nachzugeben, und sie vergräbt ihr Gesicht an Jessies Schulter.
Jessie will sie nicht mehr loslassen. So nah war sie ihrer Stieftochter noch nie. Sie atmet Bellas Duft ein – eine Art hormongeschwängerte Süße, vermischt mit Shampoo – und spürt ihren biegsamen, schlanken Körper, ihr langes weiches Haar als zutiefst tröstlich. Diese Umarmung weckt einen verwirrenden Ansturm mütterlicher Gefühle in ihr.
Ruckartig und ohne Vorwarnung entzieht sich Bella plötzlich, als ob sie sich selbst dabei ertappt hätte, auf einen Trick hereingefallen zu sein. »Du hast an das gedacht, was in London passiert ist, oder? Als du mich und Romy am Pool gesehen hast?«
»Nur einen Moment lang.« Nichts kann jetzt verborgen bleiben, alles ist umgeworfen durch die schrecklichen Ereignisse des Tages und Romys unsichere Situation.
Bella lässt sich auf den Bettrand sinken. Sie hören dem Piepen zu, Romys leisem, flachem Atmen, dem Weinen aus der Kinderstation. Dann sagt Bella: »Kurz bevor es passiert ist, diese Sache mit Zizzi, waren wir in der Umkleide …«
Jessie braucht einen Moment, bis sie erkennt, dass Bella über den Schwimmbad-Vorfall in London spricht, und plötzlich fühlt sie sich ganz beklommen, angesichts dessen, was sie gleich erfahren wird.
»… und die anderen Mädchen haben sich über die Mütter-Töchter-Disco an dem Abend unterhalten, eine Spendenveranstaltung, die Zizzi organisiert hat. Und Zizzi sagte zu mir – sie sagte es vor allen anderen, Jessie –, dass … dass ich mir die Mutter von jemand anderem ausleihen muss, wenn ich rein will.« Ihre Wangen brennen. »Ich weiß, es hört sich nach einem nichtigen Grund an, sich aufzuregen.«
»Oh, Bella, nein, überhaupt nicht. Es tut mir so leid. Warum hast du deinem Dad das nie erzählt?«
Bella schweigt und kühlt sich mit den Handflächen die Wangen. »Ich weiß auch nicht. Aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht. Vielleicht wollte ich ihn nicht wieder wegen Mama traurig machen. Oder dass er denkt, ich käme nicht klar. Ich weiß nicht.«
»Ich bin jedenfalls froh, dass du es mir erzählt hast.« Sie fühlt sich geehrt.
»Ich wollte Zizzi Angst einjagen.« Zu Jessies Überraschung spricht Bella weiter: »Ich wollte sie bestrafen. Ich war so wütend. Also habe ich sie runtergedrückt.«
»Wirklich?« Jessie wird es bang ums Herz.
»Ja, ich habe sie ganz fest runtergedrückt. Und es hat sich gut angefühlt. Es hat sich angefühlt, als könnte ich Zizzi für alles bestrafen, was mir passiert ist.«
»Oh«, sagt Jessie schwach und weigert sich, sie dafür zu verurteilen.
»Aber nur ein, zwei Sekunden, dann kam ich zur Besinnung und hörte auf. Ich schwöre es. Ich ließ los. Ich wartete darauf, dass Zizzi auftauchen und mich als Schlampe beschimpfen würde. Aber sie blieb unten, schlug keuchend mit den Armen und bauschte es für den Bademeister auf.« Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen. »Ich habe nicht versucht, sie zu ertränken, Jessie. Einen Moment lang hätte ich es gerne getan. Aber ich hab es nicht gemacht. Ich habe sie getaucht, das ist alles.«
Jessie weiß nicht, was sie sagen soll.
Bellas Augen verengen sich. »Glaubst du mir immer noch nicht?«
Jessie weiß, dass sie nicht lügen oder dieser Frage ausweichen kann, dass es für Bella fundamental ist. Wenn Romy ihr so etwas gestehen würde, selbst wenn ihre Version nicht mit der des Bademeisters und des Opfers übereinstimmen würde, würde sie ihr nicht glauben? Und hat sie nicht immer gesagt, dass sie die Mädchen gleich behandeln wird? Ist es leider doch so, dass Romy ihre Tochter ist und Bella Mandys, dass Blut dicker ist als Wasser? Ist es das?
»Ich glaube dir, Bella«, sagt Jessie einfach, aber aus ganzem Herzen.
Es ist schon sehr spät, als Romy von der behandelnden Ärztin Entwarnung bekommt. Jessie und Will danken ihr überschwänglich unter Tränen. Sie sehnen sich nach zu Hause. Draußen ist es sehr kalt, und der Himmel ist pudrig grau und sternenlos. Bella breitet über Romy in ihrem Kindersitz eine Decke aus. Romy lächelt schläfrig über diese unerwartete Fürsorge ihrer großen Schwester und nickt dann wieder ein.
Zu zerschlagen, um sich zu unterhalten, fahren sie schweigend über die mit Streusand behandelten Straßen der Stadt auf die rutschigen, heimtückischen Landstraßen. Hecken kauern am Straßenrand. Durch die schwarzen Stäbe der Hofgatter sieht Jessie schneebedeckte Felder, verlassen und fremd. Schneeflocken, die in die Kegel der Autoscheinwerfer geraten, wirken in der eisigen Nachtluft beinahe phosphoreszierend, wie etwas aus den sonnenlosen Tiefen des Meeres. Jessie fühlt sich wie unter Wasser, noch immer gefangen in den traumatischen Ereignissen der letzten Stunden, als verbinde sie nichts mehr mit dem geschäftigen, beiläufigen Leben an der Oberfläche. Sie dreht sich in ihrem Sitz um, ergreift Romys warmen, bestrumpften Fuß. Auch wenn Romy nun in Sicherheit ist, ist die Angst immer noch in ihr. Vielleicht wird es sie für immer begleiten, dieses gesteigerte Gefühl der Gefahr: Von einem auf den anderen Moment kann sich das ganze Leben ändern, so wie es für die arme Frau Wilde in den 1950ern gewesen sein muss, die Angst ist ebenso ursprünglich, was auf dem Spiel steht, ist das Gleiche. Es ist ein Schock, ein tödlicher Schlag gegen Jessies Urvertrauen, dass schlimme Dinge immer nur anderen Menschen widerfahren. Will und Bella wissen das natürlich schon. Es macht sie demütig, und sie schämt sich ein wenig. Und trotzdem hat sie eigentlich keine Ahnung, was die beiden durchgemacht haben müssen. Denn Romy hat überlebt und Mandy nicht. Romy hatte Glück, Mandy nicht.
So viele Dinge hätten den schicksalhaften Zeitpunkt andern können, an dem der Laster Mandy erreichte – eine Lieferung, die eine Unterschrift an der Haustür erfordert, ein Loch im Fahrradreifen, über das Mandy geflucht hätte, ohne zu ahnen, dass es ihr das Leben retten würde. Jessie fragt sich, wie Bella, die noch so jung ist, dieses Was-wäre-wenn erträgt, und empfindet plötzlich Hochachtung für das erschöpfte, blasse Mädchen, das den Kopf mit halb geschlossenen Augen ans Fenster gelehnt hat, als fühle sie sich noch immer nicht sicher genug, um zu schlafen.
Nachdem sie die Mädchen ins Bett gebracht haben, kuscheln sich Jessie und Will vors Kaminfeuer. Jessie hat noch immer ihr Kleid an und Will sein schickes Hemd, zwei Überlebende, Gäste einer Party, die schrecklich aus dem Ruder gelaufen ist. Jessie erzählt von ihrer Unterhaltung mit Bella über Zizzi, und er nickt benommen, verzögert. Jessie weiß, dass er in Gedanken woanders ist, dass ihn das Krankenhaus, die traumatischen Ereignisse der letzten Stunden, wieder zurückversetzt haben zu dem Unfall von damals.
»Du bist nicht okay, oder?«, fragt sie sanft.
Er schweigt zunächst und sagt dann nüchtern und aufrichtig: »Wenn einem der Mädchen etwas zustoßen würde, wäre es das für mich.«
Jessie beobachtet den Rauch, der sich von den brennenden Holzscheiten hochschraubt, und denkt an Mandys Schal, den sie hinter der Heizung in London gefunden hat und den sie, da sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, einfach wieder zurück hinter den staubigen Heizkörper gestopft hat. Ihr wird klar, dass sie das seither immer wieder gemacht hat. Und es hat nicht funktioniert. Die Vergangenheit steigt aus allen Ecken, aus jeder Lücke, schiebt sich immer wieder in die Mitte des Raumes. Sie fragt sich, was wohl passieren würde, wenn sie sie einfach nicht mehr zurückdrängen, sondern stattdessen zu sich herziehen würde. »Hat es sich so angefühlt, als Mandy starb?«, fragt sie zaghaft, auf unsicherem Terrain.
Will wirkt überrascht. Die Frage legt sich über das Schweigen. »Ich hatte ja noch Bella. Ich hatte Bella immer. Und mein Herz hatte … Reserven. Mandy hat es aufgefüllt, solange wir zusammen waren. Und sie hat es nicht mitgenommen, als sie starb«, antwortet er nachdenklich. »Falls das irgendwie Sinn ergibt?«
Jessie nickt, bewegt von seiner Ehrlichkeit. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gesprochen haben, ohne versteckte Absichten oder Eile. Und diese Vertrautheit erinnert sie an ihre Anfangszeit, als sie im St James’s Park im Gras lagen und sich dem anderen Stück für Stück offenbarten und sich langsam in dessen Herz vortasteten, während hinter den Platanen die Stadt pulsierte.
»Mandy hinterließ mir die Fähigkeit zu lieben.« Will holt seine eigenen Gedanken ein und hält inne. Er lächelt sie an. Die Distanz zwischen ihnen beginnt zu schrumpfen. »Aber das wurde mir erst klar, als ich dich traf.«
Jessie unterdrückt blinzelnd ihre Tränen. Zum ersten Mal redet Will ganz offen über seine Ehe mit Mandy, indem er einfach sagt: Das ist es, Jessie. Das ist die wunderbare Sache, die ich hatte. Das ist, was ich verloren hab.
Und seine Worte klingen ehrlich. Sie erinnert sich an den gutaussehenden Mann, der ihr zum ersten Mal während der Mittagspause im Park auffiel, wie wütend, verletzt und von Trauer gezeichnet er war, aber nicht gebrochen, kein Mann, der wieder vollkommen aufgebaut werden musste – davon hätte sie sich nicht angezogen gefühlt. Er war immer noch Will. Er ist immer er selbst geblieben. Die Vorstellung, dass sie das Mandy zu verdanken hat, ist verunsichernd und macht sie zugleich demütig.
»Mandy hätte nicht gewollt, dass ich allein bleibe. Sie hätte gefunden, dass ich mein Leben verschwende.« Er wirft ihr ein zaghaftes Lächeln zu. »Sie war so voller Lebensfreude. Wie du.«
»Wie ich?« Jessie zuckt zusammen. Plötzlich fühlt sie zu viele Dinge auf einmal – sie ist geschmeichelt, ihrer eigenen Einzigartigkeit beraubt, traurig, dass sie Mandy nie kennengelernt hat, dass sie sich nicht mit ihr anfreunden können wird, all das gleichzeitig.
»Sie wäre dir wahnsinnig dankbar für alles, was du für Bella tust.«
»Sag das nicht. Bis jetzt war ich keine besonders gute Stiefmutter, da brauchst du gar nicht so tun, als ob.« Ihre Stimme ist tränenerstickt. »Ich fürchte, ich habe bisher nichts für Bella getan.«
»Du musst auch gar nichts tun, Jessie. Verstehst du das nicht? Sie muss einfach nur wissen, dass du für sie da bist, egal, wie schwer sie es dir macht.« Er stochert mit dem Schürhaken im Feuer herum, verschiebt die Scheite. Jessie spürt, dass auch in ihr selbst etwas in Bewegung gerät. »Und sie hat es dir ganz schön schwer gemacht, das weiß ich, Jessie. Aber du bist immer noch da.«
»Ich kralle mich noch gerade so mit den Fingernägeln fest.«
Ihre Blicke treffen sich, und sie lachen. Ein Zweig kratzt am vereisten Fenster wie die Wahrheit an den Rändern ihres Gesprächs. Es ist Zeit. »Will, ich muss dir etwas sagen.« Sie holt tief Luft. »Bella hat deine alten Liebesbriefe, die du Mandy im Laufe der Jahre aus dem Ausland geschickt hast. Du hattest sie in eurer Wohnung in London aufbewahrt.«
»Meine Briefe?« Erst sieht er verdutzt aus, dann scheint er sich zu erinnern, reibt sich den Nacken. »Mist. Ich habe nicht mal dran gedacht, wo die sein könnten.«
»In Bellas Sockenschublade.«
Er zieht die Augenbraue hoch. »Okay …«
»Ich habe sie gefunden, als ich ihre Wäsche eingeräumt habe. Ich glaube, Bella hat sie absichtlich dort hingetan, damit ich sie finde. Aber das ist keine Entschuldigung.« Die Flammen flackern blau und orange auf. »Will, ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe sie gelesen.«
»Du hast sie gelesen?«, sagt er mit einem erstaunten Lachen.
Jessie nickt, wappnet sich dafür, dass er wütend wird. »Schon im September.«
»Ah«, sagt er mit einem langsam erwachenden Lächeln, als würde dies ihre Stimmung während der letzten Monate ein wenig erklären.
»Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen.«
»Nein, das hättest du nicht. Ich würde nicht mal eine SMS lesen wollen, die du einem früheren Liebhaber geschickt hast. Sonst würde ich ihm die Eier abschneiden wollen.«
Einen Moment lang fühlt sich Jessie fast betrogen von Wills Antwort, die den Briefen ihre unheimliche Macht nimmt und ihre monatelange Eifersucht ad absurdum führt. »Mir hast du nie einen Brief geschrieben«, sagt sie, unfähig, so einfach locker zu lassen.
»Habe ich nicht?« Er klingt aufrichtig überrascht.
»Nein. Definitiv nicht.«
»Dann mache ich das eben noch.«
»Das geht jetzt nicht mehr. Es wäre nicht dasselbe.«
Sein Blick wird weicher. Er beugt sich zu ihr, bis seine Nasenspitze ihre berührt. »Das war ein anderes Leben. Jetzt bist du mein Leben, du und die Mädchen. Und ich weiß, es ist nicht perfekt. Aber es gibt nichts anderes. Nichts anderes, das von Bedeutung wäre. Keine Frau, die ich mehr liebe als dich, Jessie.« Seine Hände fahren ihre Strumpfhose entlang und streifen den Saum ihres Kleides. »Obwohl ich deine Latzhose vermisse.«
Sie lächelt, ihr wird warm, und ihr ganzer Körper kribbelt vor Spannung. »Bis jetzt warst du ziemlich gut. Also übertreib’s nicht.«
»Ich mache echt keine Witze.«
»Da ist noch etwas, was ich dir nicht erzählt habe, Will.« Jessie rückt von ihm ab. Absolute Offenheit. Jetzt muss alles auf den Tisch. Will macht erneut ein argwöhnisches Gesicht. »Diese Geschichte von dem verschwundenen Mädchen, die, die Bella so beschäftigt.«
Er schüttelt den Kopf. »Also hast du es auch herausgefunden. Das arme Kind.«
»Du weißt davon?«, stammelt sie verblüfft.
Will nickt kleinlaut. »Ich weiß es schon seit einer Weile. Bella hat die ganze Zeit davon geredet, also hab ich einmal, als der Zug total Verspätung hatte, in der Bücherei am Bahnhof darüber recherchiert.«
Jessie starrt ihn voller Erstaunen an. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte dir dein Applecote nicht verderben, wollte dich nicht beunruhigen. Ich habe es einfach nicht fertiggebracht, die Seifenblase von deinem Märchenschloss platzen zu lassen.« Er greift scherzhaft nach ihr und haucht ihr ins Ohr: »Und was ist deine Ausrede, meine geliebte Ehefrau? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wusste, es gibt einen Grund dafür, dass ich dich liebe …«
Will küsst alle weiteren Worte hinweg, und dort auf dem Schaffellteppich vor dem flackernden Feuer schält er sie aus ihrem Kleid, ihrer Strumpfhose, nimmt sie auseinander und setzt sie wieder zusammen, und die Leidenschaft, die Jessie bereits verloren glaubte, kehrt zurück, elektrisierend, belebend und überwältigend.
Jessie schläft so tief wie seit Monaten nicht mehr. Irgendwann klettert Romy neben sie ins Bett und kuschelt sich an ihre Brust wie ein Baby. Jessie schlummert wieder ein und träumt davon, wie sie auf dem Rücken einen Fluss hinuntertreibt, während ein metallisch blauer Eisvogel neben ihr ins Wasser schießt. Beim zweiten Klingeln der Türglocke erwacht sie.
»Ich mach auf.« Sie wirft sich einen alten Morgenmantel über. Nicht sehr glamourös, aber sie riecht wieder nach Will.
»Hi!« Sie ist überrascht, den riesigen Koloss von Joe vor der Haustüre zu sehen.
»Für Romy.« Er zieht einen weißen Stoffhasen aus einer seiner höhlenartigen Taschen. »Ich habe gehört, dass sie schon gestern Nacht wieder sicher zu Hause war.«
»Das ist sehr freundlich. Sie wird ihn lieben, danke, Joe.« Jessie nimmt ihn entgegen, erstaunt, dass ihre Familienereignisse, obwohl sie kaum jemanden im Tal kennen, bereits die Runde gemacht haben. Sie wird sich mehr Mühe geben, beschließt sie. Sie wird Leute zum Tee einladen. Sie wird aufhören, sich abzuschotten. Dann wartet sie darauf, dass er sich wieder verabschiedet.
Er tritt in der Kälte von einem Fuß auf den anderen. Aber er macht keine Anstalten zu gehen. »Wie geht es denn dem armen Wurm?«
»Besser. Wir hatten unglaubliches Glück.«
Er späht über seine Schulter, als befürchte er, dass ihn jemand belauschen könnte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz hereinkomme, Jessie?«, flüstert er, und sein Atem bildet Nebelschwaden in der kalten Luft.
»Kann das auch bis morgen warten?« Sie zeigt lächelnd auf ihren Morgenmantel und versucht, seine Aufmerksamkeit höflich auf die Tatsache zu lenken, dass sie noch nicht wirklich aufgestanden sind, dass es erst neun Uhr an einem eiskalten Sonntagmorgen ist.
»Eigentlich nicht. Ich störe Sie nur ungern nach allem, was Sie durchgemacht haben, aber – aber meine Frau meinte, ich soll es tun.« Joe fängt an, über seine eigenen Worte zu stolpern. »Vielleicht sollte hier die Polizei eingeschaltet werden oder so. Ich habe mit so was keine Erfahrung, Jessie.«
»Die Polizei? Langsam, Joe. Ich verstehe nicht.« Jessie runzelt beunruhigt die Stirn. »Kommen Sie besser mal herein. Warten Sie kurz, ich hole Will.« Sie eilt nach oben und kehrt mit einem verschlafenen Will zurück.
»Also, wo liegt das Problem, Joe?«, fragt Will, ein Gähnen unterdrückend, während er die Küchentür zumacht, damit die Mädchen nichts mitbekommen.
»Ich habe im Garten etwas gefunden.« Joe nimmt seine Mütze ab und enthüllt eine gewölbte Stirn, auf der ihm der Schweiß steht. Er blickt Jessie an. »Setzen Sie sich lieber erstmal hin.«