5
Um auch noch die letzte Nachmittagssonne mitzunehmen, lümmeln sich Jessie und Will mit ausgestreckten Beinen auf die Stufen der Orangerie, und ihre nackten Füße auf den moosigen Steinen wecken den Forschergeist winziger schwarzer Ameisen. Aus dem Haus dringt das Geplapper einer Kochshow, eine der wenigen Sendungen, die Bella und Romy beiden gefällt, weshalb Jessie und Will einmal unter sich sein können.
Es sind die letzten Augusttage, mild, dunstig, schon herbstlich. Vögel zwitschern im Efeu, der am Haus rankt. Überall Insekten: Libellen, Falter, Mücken, Ohrwürmer, Bienen und mehr Schmetterlinge, als Jessie je gesehen hat. Einen kurzen Moment lang posiert ein Kohlweißling auf Wills gebräunter Schulter und flattert erst wieder auf, als Will nach seiner Bierflasche greift. Jessie beobachtet, wie der Falter im Gestrüpp verschwindet, nimmt eine Walderdbeere aus der Schale, die sie in den Falten ihres roten Kleides zwischen den Knien hält, und wendet sich mit einem Lächeln an Will. »Mund auf.«
Will verzieht das Gesicht. »Mann, ist die sauer.«
»So wie eine Erdbeere eben schmecken sollte.«
Er lacht. »Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
Jessie schiebt sich selbst eine in den Mund. Sie mag ihre bittersüße kernige Konsistenz. Ihr gefällt auch, dass die Beeren in den Rissen des Verandapflasters gewachsen sind. Sie können hören, dass irgendwo im Haus mal wieder Wills Handy klingelt.
»Ach, ignorier es einfach.« Sie lächelt und lehnt den Kopf an seine Schulter. »Es ist Sonntag. Und offiziell haben wir noch Urlaub.«
»Im weitesten Sinne.«
Jessies Lippen streifen die Unterseite seines Kinns. »Das Beste an diesem besonderen Urlaub ist, dass wir schon zu Hause sind«, raunt sie. »Das heißt, er endet nie.«
Will blickt hoch in den Himmel. »Und wir bekommen mit Sicherheit keinen Sonnenbrand.«
Sekunden später setzt heftiger Regen ein. Sie springen kreischend auf. Jessie möchte nicht, dass Will die Glastür der Orangerie zumacht, und balgt sich lachend mit ihm. Sie möchte das Draußen nicht aussperren, noch nicht: das Geräusch des Regens, der von den Ästen tropft, der Geruch nach Äpfeln und dem Fluss. Will lenkt ein, wie sie es erwartet hat. Er stellt sich hinter sie, legt einen Arm um ihre Taille und zupft ihr mit der anderen die Kletten aus dem Haar, die sich darin verfangen haben.
Der nasseste Sommer seit zwanzig Jahren entspricht nicht ganz der hitzetrunkenen Augustidylle, die Jessie und Will sich ausgemalt hatten. Will musste sogar schon mit dem Holzhacken beginnen – und verletzte sich dabei letzte Woche mit der Axt am Daumen. (Sechs Stiche. »Daran erkennt man einen echten Waldarbeiter«, sagte er beeindruckt.) Die Zentralheizung erwies sich als launisch, also schürte Jessie, um das Haus warm zu kriegen – in den Wänden von Applecote scheinen Jahrhunderte von Wintern zu stecken – , schon einige qualmende Feuer an, die nicht recht ziehen wollten und den Rauch ins Haus husteten. Und ihre Spaziergänge hatten eher etwas Urgewaltiges statt etwas Ländlichidyllisches: »Gewitterwanderungen für Wahnsinnige«, nannte Bella sie, auch wenn Jessie den Verdacht hegt, dass sie ihr insgeheim gefielen.
Das Wetter hat alle vergrault, bis auf die entschlossensten Besucher: Jessies rüstige Mutter und Wills betagte Eltern; Lou und Matt (Lou hatte beim Betreten des Hauses die Hände vor den Mund geschlagen und kichernd gemurmelt: »Oh mein Gott, das ist nicht euer Ernst!«); eine Handvoll von Wills Freunden, die dann eine Nacht weniger blieben als geplant, was eine Erleichterung war, denn Jessie und Will verbrachten gefühlt die meiste Zeit damit, sich für ihren Wegzug aus London zu rechtfertigen.
Bisher hat es Jessie viel besser gefallen, wenn sie unter sich waren, sich in ihrem alten Haus im Flusstal einigelten wie die Familie aus Der Schweizerische Robinson, bloß etwas zerrütteter. Keiner von ihnen ist noch mal in London gewesen. Sie leben ein vollkommen anderes Leben, verschwommen, unwirklich, in dem die feuchtkalten Tage ineinander verlaufen: Sie und Will lieben sich vor dem offenen Feuer, lange nachdem die Mädchen im Bett sind; Romy stampft mit verfilzten Locken durch den zähen Matsch; Bella spaziert zum Steinkreis auf der Wiese hinunter, um für sich zu sein, wobei sie ihre riesigen silbernen Kopfhörer aufhat und zu Wills leiser Bestürzung die sommerlichen Kaftane ihrer Mutter trägt, herausgekramt aus den »Mandyboxen«, von denen Jessie allmählich fürchtet, dass sie bodenlos sind. Gelegentlich bemerkt Jessie eine Einheimische, die, eine Hundeleine um den Hals, durch ihr Tor späht, und mehr als nur einmal ist sie sich recht sicher, dass es sich dabei wieder um diese Frau vom Anfang handelt. Doch ehe sie dort ist, um guten Tag zu sagen, ist die Frau schon wieder im Sprühregen verschwunden und es ist, als wäre sie nie da gewesen.
»Dad!«, ertönt Bellas Ruf über das Trommeln des Regens hinweg aus dem Haus. »Telefon!«
Als sie hören, dass sie sich nähert, rücken Will und Jessie instinktiv auseinander. Jessie steht auf, um die Glastür zu schließen. Sie sieht, dass der Regen dunkle Flecken auf ihrem Kleid hinterlassen hat wie Blutstropfen.
Bella taucht auf, gefolgt von Romy, die aus unerfindlichen Gründen nur eine Unterhose und eine Badekappe trägt und mit einer Handvoll schmutziger Federn über ihrem Kopf herumwedelt. Bella sagt etwas in Wills Telefon: »Ich geb dich jetzt weiter, Jackson.« Will sieht Bella fragend an. »Er sagt, es sei dringend«, erwidert Bella schulterzuckend und schiebt Romys Hand mit den Federn ein wenig zu grob zur Seite.
Will holt Luft und hält sich das Handy ans Ohr. »Jackson, alter Junge, was gibt es?« Er hält inne, runzelt die Stirn. »Tut mir leid, zu … Was? Warte mal kurz …«
»Was ist los?«, flüstert Jessie, die sich wundert, warum Wills Geschäftspartner an einem Sonntag anruft und warum Wills Gesichtsausdruck plötzlich so ernst ist. Doch Will hört sie nicht. Er entfernt sich bereits.
Jessie holt tief Luft und stürzt sich an der tiefsten Stelle kopfüber in den Fluss. Nach dem heftigen Regen vom Vortag ist die Strömung überraschend stark, tunnelartig trüb, bräunlich schwarz wie das Innere von Markknochen. Als sie wieder auftaucht, klebt ihr das Haar wie eine Kappe am Kopf, es hat das dunkle, satte Kupferrot der Rohrleitungen von Applecote angenommen, und ihr Gesicht leuchtet von der überraschend mineralischen Kälte des Flusses. Obwohl sie eine gute Schwimmerin ist, kann sie sich plötzlich vorstellen, wie diese Kälte die Muskeln erstarren, die Schwimmzüge schwächer werden lässt. Wenn Will an ihrer Seite schwimmt, empfindet sie das nie so. Er fehlt ihr – er ist gestern zu einer Krisensitzung mit Jackson aufgebrochen und hat die Nacht in einem Hotel in London verbracht. Sie vermisst den Sommer schon jetzt.
Sie kann spüren, dass etwas vorbei ist. Und sie weiß nicht, was als Nächstes kommt.
Niemand hätte die Bombe, die Jackson platzen ließ, vorhersehen können: Seine Schwester in Australien hat Krebs. Jackson möchte bei ihr sein. Als ungebundener Single habe er sowieso schon öfter mit dem Gedanken gespielt, nach Australien auszuwandern, was Will vollkommen neu ist. Es sei ein Weckruf, sagt Jackson. Will habe sein Leben geändert, die Arbeit zurückgeschraubt, warum also nicht auch er? Bloß könne er von Brisbane aus keine Firma mit Sitz in Europa leiten. Es tue ihm leid, Will im Stich zu lassen, aber er wolle seinen Anteil verkaufen.
Er hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt dafür aussuchen können. Sosehr Will es ihm auch nachempfinden kann, es fühlt sich wie eine Scheidung an – als alte Freunde aus Studienzeiten starteten Jackson und Will die Firma vor Jahren vom Küchentisch aus – und Jacksons Entscheidung stellt ihn vor das Problem, entweder eine riesige Geldsumme aufzubringen oder Jacksons Anteile an einen Außenstehenden zu verkaufen und damit die Kontrolle über die Hälfte der Firma zu verlieren, was er auf keinen Fall möchte. Falls er seine eigenen Anteile vergrößern würde, müsste er wieder viel öfter in London sein und könnte nicht, wie eigentlich geplant, den Fuß vom Gas nehmen, sondern müsste das Pedal bis zum Anschlag durchtreten. Aber wie um alles in der Welt soll er das von hier aus machen?
Jessie schiebt den Gedanken beiseite – sie werden es schon irgendwie schaffen – , schwimmt auf der Stelle und winkt den Mädchen am Ufer zu.
In einen Kapuzenpulli gehüllt, beobachtet Bella sie aufmerksam, sogar beschützend und ignoriert dabei ihren verwundbaren kleinen Schützling, der, in seinem Hummelbadeanzug und mit einem scheppernden roten Eimerchen bewaffnet, den Kieselstrand des Flusses entlangstapft. Als Romy schließlich sogar ins Wasser watet, scheinbar ohne die Kälte an ihren Beinchen wahrzunehmen oder das plötzliche Abfallen des Flussbettes zu erahnen, tut Bella nichts, um sie aufzuhalten.
Jessie schwimmt schnell zurück und zerrt Romy wieder das Ufer hinauf. »Worauf hast du denn gewartet, Bella?«, fragt sie mit schärferer Stimme als beabsichtigt, noch immer gereizt wegen letzter Nacht. Als sie in den frühen Morgenstunden Geräusche aus Romys Schlafzimmer hörte, ging sie dem nach und bekam den Schreck ihres Lebens: Im Dunkeln stand eine Gestalt reglos an Romys Gitterbett. Es war Bella, mit ausdruckslosem Gesicht, schlafwandelnd. Erschüttert führte Jessie sie wieder nach oben. Doch am Morgen konnte Bella sich an nichts davon erinnern, was die Sache irgendwie noch schlimmer machte.
»War doch alles okay.« Bella zuckt mit den Schultern und reicht Jessie ein Handtuch. Plötzlich setzt ein feiner Sprühregen ein. Bella blickt genervt hoch. »Da oben kann doch nicht ernsthaft noch Wasser übrig sein.« Sie entfaltet ihre langen Reiherbeine, steht auf und vergräbt die Hände in die Taschen ihrer kurzen abgeschnittenen Jeans. »Ich geh dann mal. Ich muss in meinem Zimmer noch Bilder aufhängen.«
»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Die perfekte Beschäftigung für einen verregneten Nachmittag. Dann wird sich das Zimmer auch endlich wie dein eigenes anfühlen, Bella, da bin ich sicher. Warte noch auf uns.« Doch als Jessie Romy aus ihrem Badeanzug geschält hat, ist die Wiese schon leer, nur die Steine stehen dort weiter im Kreis wie kleine alte Männer in grauen Mänteln. Ihr ist nicht gerade wohl dabei, dass die Verantwortung für die beiden Mädchen – jetzt, wo Will in London ist – plötzlich allein bei ihr liegt.
Die Einsamkeit, die Jessie die letzten zwei Wochen so genossen hat, fühlt sich nun fast bedrohlich an. Den ganzen August über war es fast unwirklich still gewesen – »Als wäre man zwei Jahrhunderte zurückversetzt«, wie Bella es treffend beschrieb – , und auch das hat Jessie gefallen, die leeren Straßen, mit Ausnahme von vereinzelten Reisebussen voll irritierter Touristen, die hin und wieder vor Cornton Hall hielten, dem herrschaftlichen Anwesen am Dorfrand, obwohl es gerade von einem Baugerüst und einem grünen Netz umhüllt ist, das sich im Wind bauscht wie ein Segel. Manchmal fühlt es sich an, als wären alle von hier verschwunden, außer ihnen.
»Hund«, verkündet Romy strahlend.
Jessie hebt den Blick von der Schwimmtasche, und sofort überfällt das Gefühl sie, dass irgendetwas nicht stimmt. Zwei schwarze Hunde stürmen das Flussufer entlang, als wären sie von ihrem Besitzer gerufen worden, einer schemenhaften Figur, die, versteckt unter einem riesigen Regenschirm, schnellen Schrittes davonmarschiert. Ist das wieder diese Frau? Hat sie sie heimlich beim Schwimmen beobachtet? Die Vorstellung bereitet Jessie ein ungutes Gefühl. Schnell stopft sie die Handtücher in die Tasche.
Sie ist erleichtert, als das Wiesengatter hinter ihnen zuschnappt. Noch erleichterter, als Romy ruft: »Bell-Bell!« und aufgeregt zu den Bäumen zeigt, wo Bella, an eine riesige Buche gelehnt, steht und etwas in ihrer Hand aufmerksam inspiziert. »Oh, Romy, warte!«, ruft Jessie ungehalten und jagt hinter ihrer kleinen Tochter her, die mit jedem Tag flinker wird.
Beide Mädchen haben eine Leidenschaft für die Überbleibsel aus der Vergangenheit, die der Boden von Applecote immer wieder ausspuckt: alte Teetassen, Tellerscherben, verrostete Gartenkrallen, Schillingmünzen, kleine kaputte Dinge, die Bella zusammensetzt zu einer Art Charakterstudie des Hauses: »Wenn es hier schon sonst nichts zu tun gibt«, rechtfertigt sie sich für den Fall, dass Jessie denken könnte, sie hätte Spaß daran.
Auch im Inneren des Hauses hat Bella unter dem Waschbecken ihres kleinen Badezimmers Gekritzel entdeckt, von dem sich nur ein paar Buchstaben entziffern lassen, wie etwa ein großes schwungvolles A. Letzte Woche fielen alte Zeitungen aus einem Hohlraum im Küchenschrank, vergilbt und bröckelig wie eingetrocknete Knetmasse. Die Schlagzeile auf dem Titel lautete »Affenhitze!« und bezog sich auf eine Hitzewelle im Jahre 1959. »Das beweist, dass das Haus wenigstens Sinn für Ironie hat«, sagte Bella und trug die papierene Beute hinauf in ihr Zimmer.
Und dann sind da noch die Kindersachen, die Will auf dem Speicher gefunden hat: ein praktischer Hochstuhl, ein Puppenwagen und Holzbausteine mit pastellfarbenen Buchstaben an den verblichenen, mit Papier beklebten Seiten.
Jessie kann sich die Vorbesitzerin Mrs. Wilde nun lebhaft vorstellen: eine unbeugsame, fröhliche Frau vom Lande, die, umgeben von verschmitzten hübschen Töchtern, vorm offenen Kamin mit dem Fuß eine Wiege schaukelt. Sie malt sich aus, wie sie in der Küche Teig knetet und die Betten in den oberen Zimmern mit frisch gestärkten Laken bezieht. Schon immer hatte Jessie die Angewohnheit, sich Lebensgeschichten auszumalen, insbesondere von älteren Damen. (Einer ihrer »Spleens«, wie Will es liebevoll nennt.) Wenn sie in London alte Damen an der Bushaltestelle sah, machte ihre Fantasie aus ihnen Überlebende des Blitzkriegs, Geheimcodeknacker, einst glamouröse Frauen in Nerzmänteln, nun unsichtbar in ihren fleckigen beigen Steppjacken. Aus diesem Grunde stand sie in der U-Bahn oder dem Bus auch immer auf, bot ihnen lächelnd ihren Platz an und plauderte mit ihnen ein wenig übers Wetter. Dabei hat Will sie schon einmal darauf hingewiesen, dass sie gereizt reagiere, wenn ihre eigene Mutter sich irgendwie ältlich benehme, wenn sie beispielsweise frage, was eine App sei, oder ihre Lesebrille verlege. Aber bei Müttern ist das eben etwas anderes. Jeder reagiert gereizt auf die eigene Mutter. Außer Bella, für die ihre Mutter immer perfekt sein wird.
Später an diesem Nachmittag, als das Hämmern aus Bellas Zimmer schließlich verstummt ist, klopft Jessie mit einem Stapel der soeben gelieferten Schuluniformen von Squirrels unterm Arm an ihre Zimmertür. Keine Reaktion. Nicht zum ersten Mal fällt Jessie auf, dass Bellas Zimmertüre ein seltsames Kraftfeld umgibt und dass sogar der Flur eine eigenartige Atmosphäre hat, etwas Drückendes, wenn man ihn entlanggeht.
»Knopf«, nuschelt Romy und versucht, durchs Schlüsselloch zu spähen, als könne sie so den Knopf sehen, den Bella zuvor in der Wildnis gefunden hat. Ein komisches kleines Ding aus verblasstem rosa Plastik, das vielleicht einmal rot gewesen ist, herzförmig.
Sie klopft erneut an. Nichts. In dem Glauben, dass Bella vermutlich Kopfhörer aufhat, schiebt Jessie mit dem Knie behutsam die Tür auf. »Hast du geschafft, deine Bilder …« Sie zuckt zusammen.
Bella ist nirgends zu sehen. Aber Mandy, Mandy ist überall. Dutzende von Fotos, die Jessie noch nie zuvor gesehen hat: Mandy schwanger, das blühende Leben, Will, der ihren Bauch küsst; Mandy und Will, die eine kleine niedliche Bella über einen Haufen bunter Herbstblätter schwenken; Mandy am Strand in einem ihrer unverkennbaren Kaftane, lachend; Bella, den Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter. Eine Galerie privater Momente, aus denen Jessie für immer ausgeschlossen sein wird.
Jessie hat gewusst, dass es solche Momente gegeben haben muss – auch wenn sie und Will selten darüber sprechen – , aber sie tatsächlich vor sich zu sehen, dokumentiert an den Wänden von Applecote, am Tag nach Wills Abreise, erschüttert sie zutiefst.
Romy erforscht die faszinierende, verbotene Zone, die das Zimmer ihrer großen Schwester darstellt, während Jessie sich in einer Art Trance bewegt und die Fotos auf den dunklen Wänden betrachtet – Bella hat auf einem Schlammgrau bestanden, dem gleichen Farbton wie in ihrem Londoner Haus –, und Jessie und Bella haben erst letzte Woche gemeinsam gestrichen, um das Zimmer heimeliger zu machen. Hat Bella das etwa schon damals geplant, als sie Seite an Seite arbeiteten und dabei Radio hörten? Hat sie nur darauf gewartet, dass Will außer Haus ist? Jessie kann nicht umhin, sich betrogen zu fühlen.
Aber das Schlimmste von allem – und Bella muss das gewusst haben – , ist, wie verdammt umwerfend Mandy und Will zusammen aussehen. Mandys Züge sind das genaue Gegenteil von Jessies »Mädchen von nebenan«-Gesicht: fein geschnitten, androgyn, mit klarem, intelligentem Blick unter einem tiefschwarzen Hepburn-Schnitt, eine dieser strengen Frisuren, für die sich nur Frauen entscheiden, die von ihren Wangenknochen überzeugt sind. Im Gegensatz zu Jessies chaotischem Zusammenprall aus Modephasen und Farben ist Mandys Stil tadellos und besteht aus einer zurückhaltenden Palette aus Beige, Navy und Schwarz mit einem Schuss Rot. Sie strahlt Selbstdisziplin aus; eine Frau, die Wichtigeres im Kopf hat als die Frage, welche Stiefeletten sie morgens anziehen soll, immerhin eine Menschenrechtsanwältin. Jessie starrt sie an, und plötzlich ist sie sich peinlich bewusst, dass sie selbst ein zerknittertes Jerseykleid anhat, dass ihre Haut nach Flusswasser riecht und sie noch immer die zerrupfte Feder trägt, die Romy ihr vorhin in den nachlässig hochgesteckten roten Haarwust gespießt hat.
Das ist bloß Bellas Art, sich an ihre Mutter zu erinnern, nichts anderes, sagt sie sich. Es geht nicht um mich. Sie muss jetzt einfach die Tür hinter sich zumachen, nach unten gehen und Bella ruhig und gefasst entgegentreten, als ob nichts wäre. Aber sie tut es nicht. Etwas Mächtiges hält Jessie in diesem Raum fest, paralysiert von der Frau, der sie zu entkommen gehofft hatte.
Es sieht so aus, als ob sich Mandy selbst hier gerade erst ausgezogen hätte – ein eleganter schwarzer Filzhut liegt auf einem Stuhl neben dem Bett, hinter der Tür raschelt der Seidenmorgenmantel, und ein indigofarbener Kaftan liegt wie beiläufig auf das schlittenartige Bett geworfen da. Es ist der gleiche, den Mandy auf dem Strandfoto trägt, stellt Jessie erschüttert fest.
Und plötzlich scheint der Raum über eine Strömung zu verfügen, einen Sog, etwas, das sie dazu bringt, die Schuluniformen wegzulegen und den Kaftan in die Hand zu nehmen. Sie spürt seine schönen Stickereien zwischen ihren Fingern, und dann, wohl wissend, dass sie es nicht tun sollte, dass sie damit eine Linie übertritt, hält sie ihn sich an, lässt ihn an ihren Beinen hinunterrascheln, und sein glänzender Saum fällt bis auf den Boden. Sie drückt die kühle Baumwolle an ihre Brust, ihr Herz schlägt schneller.
»Hübsche Mami.«
Jessie zuckt zusammen. Romy sitzt auf dem Bett, den herzförmigen Knopf in den Fingern, und wirkt ein wenig verdutzt über diese ungewohnte neue Version ihrer Mutter.
Sie ist entsetzt über sich selbst. Was, wenn Bella hereinkommt? Was würde Will denken? Jessie wirft den Kaftan zurück aufs Bett. Aufgelöst windet sie Romy den Knopf aus der geschlossenen Faust und verlässt mit ihr zusammen eilig dieses seltsame kleine Dachzimmer, in dem sie einen Moment lang das Gefühl hatte, sich völlig zu verlieren.