15
Schatten bewegen sich im Zelt zwischen den Bäumen, das erleuchtet ist wie ein Lampion, während die Polizei ihre makabre Arbeit vollendet. Jessie erschaudert, wenn sie daran denkt, wie oft sie mit Romy schon arglos an dem nun unter dem Zelt verborgenen Steinbrunnen vorbeigewandert ist, ohne zu ahnen, dass sie ein Grab streiften, aus dessen Tiefe der steigende Grundwasserpegel etwas Schreckliches an die Oberfläche spülen würde.
Jessie hat nicht lange in dieses Loch geschaut. Aber sie weiß, dass sie es für immer vor sich sehen wird, diesen grünlichen Knochen, der aus der Eisschicht ragte. Jetzt ist sie froh um die Polizeiabsperrung, da sie alles noch unwirklicher erscheinen lässt, wie eine Fernsehsendung, all die ernsten Gestalten in weißen Papieranzügen, die fotografierenden Polizisten in Zivilkleidung, die etwas in ihre Funkgeräte nuscheln und mit ihren schweren Schritten das unberührte Weiß in Schneematsch verwandeln.
Es ist Montagnachmittag und bitterkalt, als die ersten Reporter an der Tür klingeln. Auf Wills Rat hin sagt Jessie höflich nichts und bittet sie, sich direkt an die Polizei zu wenden. Aber sie zieht ihre Mutter und Lou ins Vertrauen und macht dann den Fehler, sich gegenüber einer geschwätzigen Londoner Freundin zu verplappern. Schon bald blinkt ihr Handy vor ankommenden Nachrichten. Leute, von denen sie seit Monaten nichts mehr gehört haben, gieren nach Klatsch und wundern sich über die Ironie des Schicksal, dass sie ja eigentlich in die Pampa gezogen sind, um einer Stadt mit hoher Kriminalitätsrate zu entfliehen.
Will fährt nicht nach London, möchte Jessie jetzt nicht im Stich lassen. Romy winkt der Polizei zu, versucht Spürhunde zu streicheln, und die bedrückte Stimmung, die ihrem Sturz in den Pool folgte, wird abgelöst von einem aufgeregten Durcheinander. Bella jedoch wird nur immer schweigsamer, schwerer zu erreichen, und wirkt in Gedanken vertieft, die sie mit niemandem teilen will. Jessie und Will beunruhigt diese Verschlossenheit. Alles beunruhigt sie. Nicht einmal der Schnee schmilzt.
Als Bella aus der Schule kommt und sich mit abweisender Gelassenheit ihren Weg zwischen den Reportern hindurchgebahnt hat, macht Jessie den Mädchen cremige heiße Schokolade mit Marshmallows und versucht, mit Zucker und warmer Milch Trost zu spenden. Bella beäugt die Leckerei argwöhnisch. Will und Jessie wuseln um sie herum, fühlen sich überfordert. Sie fragen sie, ob sie sich durch die Entdeckung bedroht fühle. Bella schüttelt den Kopf. Ob sie Angst habe? Natürlich nicht. Ob sie diese Woche nicht lieber im Wohnheim in der Schule schlafen möchte? Nein danke. Wirklich nicht. Danach meidet Bella die beiden mit ihren Fragen und ihrer Fürsorge und zieht sich gänzlich zurück – entwickelt sich geradezu zurück und baut mit Romy einen Bauernhof aus Lego. Draußen vor dem Fenster fällt immer noch Schnee.
Zu jeder anderen Zeit hätte so ein Anblick – die Schwestern spielen zusammen! – Jessie in einen Glückstaumel versetzt. Stattdessen plagen sie Schuldgefühle, dass die Mädchen erst durch Romys Beinahe-Ertrinken zusammengefunden haben, und nun das. Mandy wäre zu Recht entsetzt, nach allem, was Bella bereits durchgemacht hat, was sie verloren hat. Jessie muss an ihre erste Besichtigung denken, als sie an jenem Januarnachmittag in der Orangerie stand und sich einbildete, an diesem Ort könnten sie zu einer glücklichen Familie heranreifen wie eine Frucht. Damals war sie naiv. Jetzt nicht mehr. Sie weiß, was zu tun ist.
Als Will von einem Gespräch mit dem Inspektor im Garten zurückkehrt und ihr mit einem Schulterzucken mitteilt, dass es keine neuen Erkenntnisse gibt, zieht sie ihn neben die Küchenanrichte und flüstert, dass sie Applecote wieder zum Verkauf anbieten müssten. Zu ihrer Überraschung stimmt er nicht sofort zu. »Mal sehen«, sagt er, hält ihr Gesicht in seinen kalten Händen, und der schmelzende Schnee läuft von seinen Stiefeln auf den Küchenboden.
Jessie weiß, er klammert sich noch an die Hoffnung, dass die Knochen von irgendeinem Tier und keinesfalls von einem Menschen stammen könnten. Oder falls nicht, dann wenigstens von irgendeinem unglücklichen Landarbeiter, der vor Hunderten von Jahren lebte und dessen Tod durch die Zeit an Bedeutung verloren hat, irgendein archäologischer Fund.
Später an diesem Abend stapelt Jessie gerade Teller in den Geschirrschrank und versucht, ihre unruhigen Gedanken mit einfachen häuslichen Tätigkeiten zu besänftigen, als sie ein sanftes Klopfen an der Haustür hört.
»Hallo, Jessie.«
Und da steht sie, größer, als Jessie sie in Erinnerung hat, in einem langen, tiefschwarzen Mantel voller Schneeflocken auf dem Pelzkragen. Sie trägt roten Lippenstift. Jessie braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Es gibt so viel, was sie Margot fragen möchte, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt. »Entschuldigen Sie bitte. Es ist gerade der Wahnsinn hier. Ich …« Sie hält inne. »Sie haben gehört, was passiert ist?«
»Wissen Sie denn schon mehr?«, erkundigt sich Margot und schaut an Jessie vorbei ins Haus.
Jessie schüttelt den Kopf. »Niemand sagt uns irgendwas. Obwohl die Polizei meinte, es sehe eher nach einem historischen Fund aus. Sie sind jetzt schon seit Stunden zugange. Tut mir leid, wo habe ich nur meine Manieren gelassen?«, sagt sie durcheinander. »Möchten Sie nicht reinkommen?«
Margot zögert, als ob das Überschreiten der Schwelle von Applecote sie Überwindung koste. »Danke.«
Jessie streicht sich mit dem Handrücken die Haare aus dem Gesicht, leicht überfordert von Margots Anblick in ihrer chaotischen rosa Küche. »Hier, ich nehme Ihnen den Mantel ab. Setzen Sie sich doch bitte.«
Bei Romys Kinderstuhl sieht Margot zweimal hin, und Jessie überkommt das beunruhigende Gefühl, dass sie ihn kennt. Dann nimmt der unerwartete Gast in der schmalen indigofarbenen Hose, dem blassblauen Kaschmirpullover, akzentuiert mit einer türkisfarbenen Halskette, nur knapp neben einem Cheeriokringel auf einem der mit Schaffell überzogenen Stühle Platz. Margot sitzt sehr ruhig da wie jemand, der um Kontrolle bemüht ist, verschränkt die Hände vor sich auf dem Holztisch. Sie hat blasse Hände und lange Finger. Zum ersten Mal fällt Jessie ihr goldener Ehering auf.
»Billy«, sagt Margot, die Jessies Blick auffängt. Sie lächelt unverfälscht und verbindlich. »Mein Mann Billy. Er hat Sie dazu überredet, einen Zitronenbaum zu kaufen, wenn ich mich recht erinnere?«
»Oh, oh … richtig. Ja, das hat er. Ich liebe meinen Zitronenbaum.« Zum ersten Mal bringt Jessie das Paar zusammen, den wettergegerbten Mann vom Lande mit den funkelnden Augen und die stilvolle Margot, die sich anhört, als könnte sie eine etwas unkonventionellere Cousine der Queen sein. Ein ungleiches Paar, aber sie kann sich vorstellen, dass es funktioniert.
»Er wird Ihnen noch einen ganzen Obstgarten voller Zitronenbäume verkaufen, wenn Sie nicht aufpassen«, fügt Margot trocken hinzu.
Jessie lacht. Und dann verstummt ihr Lachen, und sie hört ihre eigene Stimme, die die Luft in der Küche zerschneidet wie ein Messer. »Margot, woher wussten Sie von dem verstopften Abflussrohr und dem feuchten Fleck im oberen Badezimmer?«
Margot verschränkt ihre Hände noch fester. »Hinterher hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich das überhaupt erwähnt habe.« Sie schüttelt über sich selbst den Kopf. »Ich dumme Gans.«
»Also kennen Sie Applecote Manor gut?«, fragt Jessie, als keine weitere Erklärung geboten wird.
Margot nickt resigniert. »Wie mein eigenes Herz.«
Jessie starrt sie verblüfft an und fragt sich, ob die Frau vielleicht leicht verwirrt oder einfach nur exzentrisch ist. »Ich glaube, ich habe Sie ein paar Mal das Haus beobachten sehen«, sagt sie zögernd und fragt sich, wie weit sie sich vorwagen soll. »Einmal sind Sie schnell weggegangen, als ich Sie gerufen habe. Im Sommer. Sie waren hinter der Obstgartenmauer mit Ihren Hunden?«
Margot senkt den Kopf und schielt zerknirscht zu ihr hoch, eine schüchterne, kindliche Geste, die Jessie unter anderen Umständen ein Lächeln entlockt hätte. »Ich hielt mich eigentlich für recht diskret, Jessie, aber ich bin wohl doch eher vollkommen ungeschickt. Es tut mir leid.«
»Oh. Nun ja … Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?« Mit Tee verbindet sie immer eine gewisse Normalität. Irgendwo im Haus kann Jessie das Scheppern eines umfallenden Turms aus Buchstabenbauklötzen hören.
»Ja, sehr gerne. Was für ein Tag.«
Jessie stellt sich an den Herd, bereit, den Wasserkessel herunterzunehmen, bevor er zu pfeifen beginnt. Sie betrachtet Margot von der Seite, ihre unauffälligen, sanften Gesichtszüge, das energische Kinn, die dezenten Diamantstecker, die an ihren Ohrläppchen schimmern. Frauen wie Margot hat sie schon immer bewundert, besonders interessant, gerade weil sie keine großen Schönheiten sind, Frauen, die auf andere Weise die Aufmerksamkeit im Raum auf sich ziehen. Die Frage ist bloß, auf welche Weise? Und in welchem Raum?
Noch immer in Gedanken, füllt Jessie die braune Teekanne und wünschte sich, die Tassen wären nicht angeschlagen. »Wie trinken Sie …«
»Ohne Milch und Zucker, bitte.«
Jessie setzt sich neben Margot. Kein Parfüm, fällt ihr auf. Sie wirft einen verstohlenen Blick zu Margots Füßen auf den Fliesen, einfache schwarze Stiefel ohne Absatz, ähnlich wie Reitstiefel, die Abdrücke vom geschmolzenen Schnee sind eher groß. »Okay«, sagt sie schließlich, »mir ist durchaus klar, dass das jetzt albern klingen mag, aber waren das Ihre Fußabdrücke im Schuppen? Ich habe dort Fußabdrücke entdeckt, als wir letzten Sommer eingezogen sind. Und jemand schien in der Umkleidekabine am Pool gewesen zu sein. Ich habe mich immer gefragt …«
»Es tut mir leid. Das macht einen verrückt, wenn man sich ständig Gedanken macht, nicht?« Margot beugt sich hinunter und wühlt in ihrer großen Handtasche. Jessie sieht die Rücken zweier abgegriffener Bücher. Eine Haarbürste. Eine Hundeleine. »Hier. Den hätte ich Ihnen schon vor Monaten zurückgeben sollen.«
Der Schlüssel ist mit den Jahren stumpf geworden und hängt an einem emaillierten Schlüsselanhänger in Hundeform. »Ist der von uns?«, keucht Jessie.
Margot setzt sich aufrechter hin, was noch vor wenigen Augenblicken unmöglich erschienen wäre, so aufrecht saß sie ohnehin schon. Ihre Finger spielen mit den türkisen Perlen ihrer Halskette. »Ich schulde Ihnen eine Erklärung, Jessie.«
»Aber wirklich«, sagt Jessie aufgewühlt. »Ich bitte darum.«
»Meine Tante, Mrs. Sybil Wilde, hat Ihnen dieses Haus verkauft.«
»Ihre Tante?« Jessie ist verunsichert. Also war Audrey Margots Cousine.
Margot nickt fast schon ungeduldig und wartet darauf, dass Jessie gedanklich hinterherkommt. »Ich habe ihr beim Umzug geholfen. Nicht, dass sie ausziehen wollte! Meine Tante ist sehr alt und sehr stur. Sie hat es mit täglicher Hilfe gerade noch so geschafft, hier zu leben. Aber dann ist sie gestürzt. Also ging es am Ende ziemlich schnell. Ich fürchte, wir haben ein ganz schönes Chaos hinterlassen. Entschuldigen Sie bitte. Aber wir konnten nirgends etwas unterbringen. Mein Cottage ist schon bis unters Dach vollgestopft. Die Häuser meiner Schwestern ebenso. Und der Makler meinte: ›Lassen Sie einfach alles stehen und liegen. Jeder neue Besitzer wird das Haus sowieso vollständig entkernen, bevor er einzieht, alles wegwerfen oder einer Wohltätigkeitsorganisation spenden.‹ Also ließ ich …« Sie atmet tief durch. »Ich ließ alles, wie es war, Jessie.«
»Und wir behielten die Sachen.«
»Das sehe ich.« Margots Blick fällt wieder auf den Kinderstuhl, dann auf die Wände, vollgeklebt mit den flatternden Zeichnungen der Mädchen, die Testfarbdosen auf der Küchenanrichte, das Durcheinander von Romys Bastelutensilien. »Sie haben alles wieder zum Leben erweckt«, fügt sie hinzu, und Jessie kann nicht sagen, ob Margot dies für eine gute Sache hält oder nicht.
»Entschuldigen Sie, aber warum haben Sie mir das alles denn nicht schon an dem Abend gesagt, als Sie Bella hier ablieferten?«
Margot blickt hinunter auf den Schlüssel auf der Tischplatte und seufzt. »Die ehrliche Antwort ist, dass es mich aus dem Konzept bringt, eine neue Familie hier zu sehen. Ihre reizenden Töchter. Ich wollte dem Gespräch aus dem Weg gehen.« Sie blickt auf und lächelt freundlich. »Ich wollte Ihnen keine alten Geistergeschichten in Ihre jungen Köpfe setzen.«
Jessie holt tief Luft, endlich fängt alles an Sinn zu ergeben. »Moment. Sie hatten einen Schlüssel. Also könnte es durchaus sein, dass man Sie an einem Fenster gesehen hat, nachdem Mrs. Wilde bereits ausgezogen war.«
»Gut möglich.«
»Und Sie waren es auch, die Feuer im alten Kamin im Salon gemacht hat?«
»Oh, es war so schrecklich kalt. Das Haus tat mir leid. Ich kam immer wieder her, um nach dem Rechten zu sehen, und es fühlte sich so verlassen, abweisend und leer an. Genau das, was meine Tante all die Jahre tunlichst vermeiden wollte. Also habe ich Blumen mitgebracht, manchmal ein Feuer angezündet. Ich wollte den Geist des Hauses am Leben erhalten.« Ihre Stimme driftet ein wenig ab, und Jessie spürt, dass die Frau in Gedanken an einem Ort ist, zu dem sie ihr nicht folgen kann. Margot runzelt die Stirn, dann hellt sich ihr Gesicht wieder auf. »Kennen Sie das, diese leuchtenden Erinnerungen, Erinnerungen an die Jugend, die mit den Jahren immer stärker werden?«
Jessie nickt.
»Die Vorstellung, dass eine Erinnerung etwas ist, das vorbei ist, nur in der Vergangenheit existiert hat, ist völlig falsch, bloß ein weiterer Irrglaube der Erwachsenen, nicht wahr? Kinder wissen noch um die Gegenwärtigkeit des Vergangenen.« Jessie kommt der Gedanke, dass Bella Margots Worte vollends verstehen würde und dass Margot eine wunderbare Vertraute für sie abgeben würde. Fasziniert beugt sie sich vor. »Eine Erinnerung ist etwas Lebendiges«, fährt Margot fort. »Sie atmet neben einem, Jessie, sie sitzt einem auf der Schulter, spielt sich immer und immer wieder ab. Und dann …«
Polternde Schritte unterbrechen Margot: Bella, mit Romy auf der Hüfte, die mit einem hölzernen Puppenlöffel mit gelben Wollfadenhaaren daran wedelt, und ein zerzauster Will in Socken, einer alten Jeans und einem ausgebeulten blauen Pullover, der kürzlich von Motten befallen wurde, tauchen auf. Jessie fürchtet, dass sie alle wie ein Haufen Landeier aussehen. »Ist etwas passiert, Jessie?«, fragt Bella nachdrücklich. »Wissen wir schon, wer es ist?«
Jessie steht auf. »Bella, das ist Margot. Margot, die dich an dem Abend auf der Straße eingesammelt hat, erinnerst du dich?«
Bella, überrascht, wird rot. »Oh, tut mir leid. Ich dachte, Sie wären eine Kommissarin oder so. Hi.«
Margot lächelt. »Ich habe von deinem mutigen Handeln gehört, Bella. Die beste große Schwester, die man sich wünschen kann, würde ich sagen.«
Bella errötet noch mehr, kann ihre Freude nicht ganz verbergen.
»Und das ist mein Mann Will«, sagt Jessie, schüchtern und stolz zugleich, und fühlt sich wie ein Mädchen, das ihrer Mutter ihren neuen Freund vorstellt.
»Ich glaube, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet dafür, dass Sie Bella in dieser Nacht sicher zurückgebracht haben«, sagt Will herzlich.
»Hallo!«, mischt sich Romy mit einem Wedeln ihrer Löffelpuppe ein.
»Hallo, Fräulein Löffel«, sagt Margot zwinkernd. »Was für wunderschöne blonde Haare Sie haben.«
Bella drückt Romy Jessie schwungvoll in die Arme und macht es sich auf einem der Küchenstühle für ein Gespräch bequem. Sie richtet den Blick gierig auf Margot und fragt: »Es ist Audrey, stimmt’s?«
»Langsam, langsam, Bella …«, beschwichtigt Will sie.
»Ah. Okay. Du weißt Bescheid.« Margot wendet sich an Jessie. »Die Spatzen pfeifen Audreys Namen hier im Tal bereits von den Bäumen. Aber ich war mir nicht sicher, ob Ihnen irgendjemand von ihr erzählt hat. Es dauert hier mindestens drei Generationen, bis man als Einheimischer gilt.«
Will grinst. »Aha.«
»Ich dachte, man sollte Sie vorbereiten. Und dass es in meiner Verantwortung steht, Ihnen von Audrey zu erzählen, angesichts meiner Beziehung zum Haus«, fügt sie entschuldigend hinzu.
Will steht auf, reibt sich die Hände. »Okay, Mädels, Bella, Romy, schauen wir doch mal, was im Fernsehen läuft, ja? Lassen wir Jessie und Margot ein bisschen in Ruhe.«
In Wills Arme gekuschelt, klopft Romy ihrem Vater mit dem Holzlöffel gegen die stoppelige Wange. Will bedeutet Bella mit einem Kopfnicken mitzukommen.
»Ich gehe ganz bestimmt nirgends hin, Dad«, sagt Bella, ohne den Blick von Margot zu wenden.
Jessie drückt Wills Hand. »Ist schon gut. Lass Bella hier.«
»Erzählen Sie uns alles«, bettelt Bella, kippt eine Packung Löffelbiskuits auf einen gelben Teller und schiebt ihn abwesend in die Mitte des Tisches.
»Oh. Darf ich? Woher wusstest du, dass ich eine Schwäche für Löffelbiskuits habe, Bella? Meine Güte, die hab ich ja schon seit Jahren nicht mehr gegessen.« Margot nimmt einen Bissen und schließt die Augen, entzückt von dem unmodernen Keksen, die Jessie bloß im Dorfladen gekauft hatte, weil es sonst wenig anderes gab.
Jessie und Bella schauen erwartungsvoll.
»Ich hätte es mir eigentlich denken können«, sagt sie, und ihre lebhaften blauen Augen verdunkeln sich. »Aber meine Mutter erzählte mir, dass die Polizei, nachdem Audrey verschwunden war, eine Lampe an einem Seil in den Brunnenschacht hinuntergelassen hat. Ich nahm es so hin, auch wenn diese unglückselige Bande meine Cousine wahrscheinlich nicht einmal dann gefunden hätte, wenn sie mitten auf dem Rasen gelegen hätte. Oder vielleicht war sie einfach nur ganz weit unten. Ich weiß es nicht.«
Jessie erschaudert. Sie sieht den Knochen wieder vor sich.
»Nachdem mein Onkel Perry in den Siebzigerjahren verstorben war«, fährt Margot mit zitternder Stimme fort, »machte ich mir Sorgen um Tante Sybil, die nun allein dort herumwanderte, also habe ich die Abdeckung auf den Brunnen montieren lassen. Ich hätte nie gedacht …« Margot schüttelt den Kopf, sichtlich gequält. »Ich will gar nicht darüber nachdenken.«
»Schon gut, Margot«, sagt Jessie und berührt sie sanft am Arm. »Wir wollen Sie mit unseren Fragen auch nicht aufregen, oder Bella?«
»Nein«, erwidert Bella wenig überzeugend und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf ihren Oberschenkel.
»Es gab da dieses Spiel, zu dem Audrey immer versucht hat, mich zu überreden.« Margot zuckt zusammen. »Häschen, hüpf über den Brunnen.«
»Himmel«, murmelt Jessie, in ihre Teetasse prustend.
»Audrey war vollkommen unerschrocken. Niemand sonst hat sich getraut, nicht mal ich. Sie war ständig auf der Suche nach jemandem, der das Spiel mitspielt.« Margot nestelt an dem türkisen Perlenstrang um ihren Hals.
Jessie greift nach ihrem eigenen goldenen Kettenanhänger.
»Wissen Sie, Jessie«, sagt Margot, und Jessie nickt, obwohl sie überhaupt nichts weiß, »rückblickend war dieses Spiel das fehlende Puzzlestück, das Eckchen, das man nie findet, mit dem das Ganze jedoch erst Sinn ergibt. Aber damals, im Sommer 59, hörte ich bloß das Wort ›Wasser‹ und verband alle Punkte zu einem falschen Bild.«
Jessie registriert das Zittern auf der Oberfläche des Tees, als Margot ihre Tasse hebt. »Und er hat mir nicht widersprochen. Er ließ mich in dem Glauben.«
»Was war denn das falsche Bild? Und wer ist er?«, erkundigt sich Bella eifrig und beugt sich so weit nach vorne, dass sie schon fast auf Margots Schoß sitzt.
»Ich werde seinen Namen nicht nennen, Bella. Er … war der Einzige, der die Wahrheit kannte. Belassen wir es dabei.« Margot scheint einen Moment darüber nachzudenken und runzelt die Stirn. »Er hat nicht die Wahrheit gesagt«, fügt sie mit einem unverkennbar wütenden Fauchen hinzu. »Damals war ich mir sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat, aber, verflixt noch mal, das hat er nicht. Er erzählte mir, sie hätten ein Spiel gespielt. Ich nahm an, es handelte sich ums Angeln oder etwas Ähnliches. Aber es war …«
»Häschen, hüpf über den Brunnen!«, platzt Bella heraus.
»Ja, ganz richtig«, erwidert Margot. »Du hast recht, Bella. Ich denke, es muss Audreys dummes Spiel gewesen sein. Und natürlich hätte es ihren Verbleib verraten, wenn er dieses kleine Detail erwähnt hätte, nicht wahr?«
Bella nickt. »Also hat er Audrey hineingeschubst?«
Margot zuckt zusammen. Jessie ist sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie sich das alles anhören sollten. Schließlich handelt es sich hier offenbar um eine Angelegenheit der Polizei. Falls irgendetwas davon wahr ist.
»Nein, ich glaube nicht, dass er das tat, jedenfalls nicht absichtlich«, sagt Margot nach einer Weile nachdenklich und abwesend, als ob sie mit sich selbst im Gespräch wäre. »Er erzählte mir, dass er Audrey küssen wollte. Also muss er sie irgendwie gepackt haben und …« Sie atmet tief durch. »… und sie stürzte hinein. So viel steht fest.«
»Und er hat sie nicht gerettet?« Bella springt empört von ihrem Stuhl auf. Jessie berührt sie am Arm. Bella setzt sich wieder hin.
»Nein, das hat er nicht. Nicht jeder ist so mutig wie du, Bella«, sagt Margot mit einem leisen Lächeln.
Bella setzt sich etwas aufrechter hin.
»Obwohl er in Wahrheit dort unten nicht an sie herangekommen wäre, um sie herauszuziehen, das ist mir auch klar. Für die arme Audrey war es bereits zu spät. Bloß für ihn noch nicht.«
»Aber warum hat er nicht verraten, wo sie war?«, fragt Jessie verwundert.
»Schuldgefühle. Verleugnung. Unreife. Angst vor seinem Vater. Ich rate nur, Jessie. Und vielleicht ist all das noch viel zu nett gedacht. Aber ich weiß, dass die Zeit so ihre eigene Art und Weise hat, die dunklen Geheimnisse der Jugend zu verdichten und sie beständiger und robuster zu machen«, sagt Margot mit einer Schärfe, die in Jessie die Frage weckt, welche Jugendgeheimnisse Margot wohl bewahrt. »Und er war davon überzeugt, dass man ihn des Mordes verdächtigt hätte, wenn er zugegeben hätte, dass er Kenntnis über Audreys Schicksal hat. Und vielleicht wäre das auch der Fall gewesen.«
»Für mich hört sich das an, als wäre er ein totaler Arsch gewesen.« Bella lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück.
Margot lacht und nickt. Aber ihre Augen sind feucht. Sie versucht, die Tränen zurückzuhalten. »Verzeih mir. Es ist bloß ein ziemlicher Schock. All die Jahre geglaubt zu haben, dass Audrey im Fluss ertrunken ist und … und …«
Bella reißt ein Stück Küchenrolle ab und reicht es Margot.
»Danke.« Margot wischt sich über die Augen. »Es sind nicht die Toten, die leiden. Es sind die Lebenden, weißt du.« Sie schüttelt den Kopf. »All diese Lebensbahnen, die verändert wurden. Belastet.«
Bella nickt, als leuchte ihr das, was Margot sagt, vollkommen ein. Doch Jessie fühlt sich in Margots Geschichte verloren, der namenlose »Er«, all die Geheimnisse, Lügen und sich wandelnden Wahrheiten der Fünfzigerjahre. Alles, was sie wirklich nachvollziehen kann, ist das urtümliche Grauen eines tiefen Brunnenschachtes, die Trauer einer Mutter. Ihr Hals fühlt sich wie zugeschnürt an. Ein Kind ist niemals bloß eine Anhäufung historischer Knochen: Ein Kind ist immer menschlich, es wird geliebt, vermisst, und sein Verlust ist unbegreiflich. Es ist unendlich traurig.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass niemand sie an diesem Tag gesehen hat«, sagt Margot nach einer Weile wieder mit kräftiger, fast wütender Stimme. »Irgendjemand muss sie gesehen haben. Dieses verdammte Tal, Jessie, es ändert sich nicht. Jeder beschützt zunächst das Seine. So war das von jeher, und so wird es immer sein.«
»Sie meinen, es gab Zeugen?« Bella schluckt.
»Oh ja. Ja, das glaube ich. Einen Fischer. Und einen Mann mit Hut bei der Brücke, der sich nie gemeldet hat. Meine Tante hat immer gehofft, er würde es eines Tages tun. Aber das hat er natürlich nicht.«
Jessie nimmt Margot am Arm, worauf diese erschrocken zusammenzuckt. »Ich weiß, wer das gewesen sein könnte!«
Margot und Bella starren Jessie an, als sei sie verrückt geworden.
»Jessie …« Bella lacht betreten, schämt sich für ihre Stiefmutter.
»Joe!«, ruft Jessie und denkt dabei an das Foto, das er am ersten Tag aus seiner Brieftasche gezogen hat.
»Joe?«, wiederholt Margot verständnislos.
»Joe Peat. Er hat ein paar Arbeiten hier am Haus für uns übernommen. Und er zeigte mir ein Foto von seinem Vater, Sid oder so, und der trug stets einen Hut. Er arbeitete in den Fünfzigern auf Cornton Hall.«
Jessie kann beinahe sehen, wie es in Margots Hirn arbeitet. »Loyal gegenüber Cornton«, murmelt sie atemlos. »Ja, das wäre er.«
»Wissen Sie was? Ich glaube, Joe sagte etwas davon, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist, was erklären würde, warum er nie mit der Wahrheit herausgerückt ist. Soll ich Joe anrufen? Ihn herbitten?«
»Nein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute noch mehr vertragen kann, Jessie. Und ich habe Ihre Küche jetzt lange genug belagert.«
»Bitte gehen Sie nicht. Noch nicht. Sie haben uns noch nicht erzählt, wie Audrey war«, sagt Bella enttäuscht. »Ich würde so gerne wissen, wie sie war.« Margot scheint von der Frage wirklich berührt zu sein.
Sie setzt sich langsam wieder hin. »Nun, Bella, Audrey war …«, sie sucht nach dem richtigen Wort, »… Audrey war sehr lustig. Du hättest sie gemocht.«
Bella nickt ermutigend.
Margot lächelt, und ihr Gesichtsausdruck verändert sich, sie strahlt, wirkt wie beseelt, als sie zu erzählen beginnt, Audrey heraufbeschwört, als hätte sie sie erst gestern zuletzt gesehen, und sie holt sie aus der fernen Vergangenheit in die Küche, längst vergangene Sommer erstehen in der Winterluft, das gewitzte, herrische Mädchen mit dem schaukelnden Zopf, den leuchtend blauen Augen und den schicken Kleidern, die wie Margot aussah, nur viel hübscher, die es hasste, ein Einzelkind zu sein, sich nach Schwestern sehnte, sich Spiele ausdachte, Abenteuer, und mit den Händen voller Luftballons über die Wiese rannte, wild entschlossen abzuheben und davonzufliegen. Margot holt kurz tief Luft und setzt schon zum nächsten Schwall von Anekdoten an, als Will hereinkommt und die um den Tisch versammelten Frauen verwirrt anschaut, die die Köpfe zusammenstecken wie alte Freundinnen. »Ich frage besser nicht, ob ich störe.«
»Nein, nein, ganz und gar nicht.« Margot steht auf. »Ich fürchte, ich habe Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen. Eigentlich wollte ich nur fünf Minuten bleiben.«
»Nein, nein. Ich habe da noch etwas für Sie!«, ruft Bella aufgeregt. »Jetzt weiß ich endlich, was es ist. Haben Sie Schwestern?«
»Drei.« Margot grinst. »Stell dir das mal vor.«
»Eine Dot?«
Margot nickt verblüfft.
»Bleiben Sie hier, und rühren Sie sich nicht von der Stelle«, ruft Bella, schon im Hinauseilen. Sie lauschen dem Poltern die Treppe hinauf und wieder herunter.
»Bitte schön. Joe hat sie unter der Fensterbank in der Orangerie gefunden.« Sie überreicht Margot den Stapel Briefe. »Von Ma«, fügt Bella hinzu, als Margot nichts sagt und ganz blass im Gesicht wird, ihr Mund sich vor Erstaunen öffnet, während sie Seiten umblättert und die verwischten Wörter überfliegt. Sie überprüft das Datum auf einem der Umschläge. Dann wendet sie sich an Bella. »Danke, ich danke dir sehr. Du ahnst ja nicht, wie sehr wir uns nach diesen Briefen sehnten. Das ist verrückt.« Sie schüttelt den Kopf und ringt um Fassung. »Wir haben Ma nie geglaubt, dass sie uns geschrieben hat. Unter der Fensterbank? Die ganze Zeit? Meine Tante schuldet mir wirklich eine Erklärung.«
»Ich hoffe, wir haben damit niemanden in Schwierigkeiten gebracht«, sagt Jessie und wechselt einen besorgten Blick mit Will.
»Schwierigkeiten? Mein Gott, Tante Sybil hat uns nichts als Schwierigkeiten gemacht«, sagt Margot mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zuneigung. Sie blickt wieder hinunter auf die Briefe, offenbar überwältigt, und dann wieder hoch zu Jessie. »Ich gehe jetzt raus zur Polizei.«
»Zur Polizei?«, wiederholt Will verblüfft.
»Ich möchte kurz mit denen reden, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich möchte ihnen sagen, was ich weiß.«
»Ja … klar.« Will lächelt ergeben. »Ich zeige Ihnen den Weg.«
»Nicht nötig. Ich kenne mich hier sehr gut aus«, sagt Margot und zwinkert Jessie zu.
Zwanzig Minuten später schlüpft Margot durch das Seitentor aus dem Garten. Jessie hört das Knattern eines Autos und rennt zum Flurfenster. Sie sieht, wie einzelne Fragmente – ein Torpfosten, eine verschneite Hecke, die vereiste Fahrbahn – von den Scheinwerfern des Wagens beleuchtet werden und dann wieder in der Dunkelheit verschwinden wie Margot selbst.
Zwei Tage später ruft die Polizei Will an, um zu bestätigen, dass es sich bei den menschlichen Überresten um die des vermissten Mädchens, Audrey Wilde, handele; Verwandte seien benachrichtigt; morgen früh finde eine Pressekonferenz statt. Jessie und Will sagen Bella nichts und machen es sich vor dem Kaminfeuer bequem, halten sich fest in den Armen und besprechen mit gedämpfter Stimme, wie sie den Mädchen am nächsten Morgen die Nachricht überbringen sollen. Sie sind in Sorge, was das in Bella auslösen könnte. Jessie schläft schlecht – ein Albtraum über einen dunklen Schacht, eine Stirnlampe, deren Lichtkegel von nassen, glitschigen Wänden abprallt, kein Ausweg – und wacht früh auf. Da sie sichergehen will, dass sie mit Bella gesprochen haben, bevor Schulkameradinnen anfangen, ihr den neusten Klatsch zu texten, und bevor Romy aufwacht, macht sie ihr eine Tasse Tee, rüttelt Will wach, und sie eilen nervös nach oben.
Bella ist bereits wach. In Mandys prächtigem grauen Seidenmorgenmantel sitzt sie im Schlittenbett, das Bett, das glücklicherweise niemand Margot gegenüber erwähnt hat, für den Fall, dass es sich dabei um Audreys handelt. Trotz der frühen Morgenstunde sieht Bella ausgeruht aus, geradezu strahlend, und das Haar fällt ihr lockig über eine Schulter. Als sie ihre ernsten Mienen sieht, verdreht sie die Augen. »Ich werd schon nicht durchdrehen.«
Will setzt sich vorsichtig auf die Bettkante. Jessie reicht Bella den Tee und setzt sich mit etwas Abstand dazu, den Blick gesenkt. »Ich fürchte, wir haben sehr traurige Nachrichten, Bella«, sagt Will sanft. Ein winterlicher Sonnenstrahl fällt durch das Bullaugenfenster herein und malt lila Flecken an die Wand. »Die Polizei hat bestätigt, dass die Überreste von Audrey stammen.«
Bella atmet erleichtert aus. »Gott sei Dank. Sie wollte bestimmt gefunden werden.«
»So kann man das auch sehen, schätze ich«, sagt Will zögernd und sieht Jessie verwirrt an.
»Jetzt kann Audrey eine Beerdigung bekommen. Und ihre Mutter kann endlich von ihr Abschied nehmen«, sagt Jessie und bereut dann sofort, dass sie das Thema Mütter und Abschiednehmen auf den Tisch gebracht hat. Sie rechnet damit, dass Bella über ihren plumpen Kommentar herfallen wird, wie sie es normalerweise tun würde.
Doch Bella nickt bloß und murmelt: »Ja.«
Obwohl der Austausch minimal ist, undurchsichtig für jeden, der sie nicht kennt, vielleicht sogar für Will, misst Jessie ihm Bedeutung bei. Sie entspannt sich ein wenig und verlagert ihr Gewicht von den Zehenspitzen auf die Matratze.
»Es ist okay, traurig zu sein, Bella«, sagt Will sanft.
»Dad«, stöhnt Bella.
»Wir müssen uns eingestehen, dass … Applecotes Fassade Risse bekommen hat … dass dies hier nicht der ungetrübte Neuanfang ist, den wir uns erhofft haben«, sagt Jessie. »Und wir wollen, dass du wesentlich mehr Mitspracherecht hast, wenn es darum geht, wo wir als Nächstes hingehen.«
Bella setzt sich kerzengerade hin. »Als Nächstes? Was meint ihr mit: als Nächstes?«
»Wir werden Applecote wieder verkaufen.« Jessie wartet darauf, dass Bella lächelt oder wenigstens triumphiert. Schließlich ist es das, was Bella immer wollte. »Weißt du noch, was du gesagt hast, als wir dieses Zimmer hier zum ersten Mal betraten? ›Selbst wenn wir hier einziehen, wird uns dieses Haus nie gehören.‹ Tja, du hattest recht, Bella. Du hattest in vielen Dingen recht. Um es mit Margots Worten zu sagen, ich wurde eines Besseren belehrt.«
»Wir«, sagt Will lächelnd zu Jessie. »Wir wurden eines Besseren belehrt.«
»Wovon redet ihr beide da bitte?« Bella wirkt erst entsetzt und fängt dann zu lachen an, als könne sie sie nicht ernst nehmen. »Ihr wollt umziehen, weil im Garten eine Leiche aus grauer Vorzeit gefunden wurde? Meine Güte! Wovor wollt ihr mich denn beschützen? Vor dem Tod? Hallo? Da kommt ihr aber ein bisschen spät.« Sie schüttelt den Kopf über ihre Unreife und lächelt sie beide mit müder Zuneigung an. »Ich gehe nirgendwo hin. Ihr könnt ja wegziehen, aber ohne mich.«
Das Tor von Applecote Manor wird zu einem stetig wachsenden Schrein: Blumen von betagten Dorfbewohnern und alten Schulfreunden von Audrey; Teddybären von Dorfkindern, die zwar den Tod nicht begreifen, aber den Schrecken des Allein- und Verlorenseins verstehen; ein üppiger Blumenkranz von Joe Peat und seiner Familie. Zwischen all dem Zellophanpapier und den Bändern finden sich Ausschnitte des Fotos, das überall in den Zeitungen abgedruckt war, ein körniges Schwarz-Weiß-Foto von Audrey. Jessie studiert Audreys Gesicht, erkennt Spuren von Margot in ihren lebhaften, strahlenden Augen und ihren hochgezogenen Mundwinkeln.
Allerdings fällt es jetzt auch schwer, nicht alles durch das Prisma von Audrey zu sehen. Sogar Bellas Zimmer fühlt sich anders an, luftiger, irgendwie reingewaschen, und der Flur im Obergeschoss wirkt weniger eng und düster, als ob das Haus nicht einsacken, sondern sich öffnen würde.
Offensichtlich ist diese veränderte Atmosphäre auf Bellas Aufbruchsstimmung zurückzuführen und nicht auf irgendeine Art Erlösung Audreys. Aber Jessie spürt, dass die beiden Dinge tief miteinander verbunden sind: So wie ein seismisches Beben tief in der Erde auch leichte Verschiebungen an der Oberfläche bewirken kann, hat die Entdeckung von Audrey auch für Bella die Dinge verändert. Jessie hat keine Ahnung, wie Bella, indem sie unterschiedliche Dinge miteinander verband, das schreckliche Schicksal eines anderen Mädchens in einen Katalysator ihres eigenen Wandels umfunktioniert hat. Aber sie hat es geschafft. Bella ist natürlich immer noch Bella, kompliziert, widersprüchlich, stur. Aber die hohe Wand, die sie umgibt, bricht auf, bildet kleine Risse, durch die Jessie hindurchspähen und Bella zum ersten Mal sehen kann, wie sie wirklich ist.
Die Erklärung, glaubt Will, sei einfacher. Bella rettete Romy das Leben, eine heroische Tat, die ihr klarmachte, dass sie nicht nur ihre kleine Schwester liebt, sondern dass sie auch eine wichtige Rolle in dieser Familie, ihrer Familie, spielt.
Eines Morgens kommt Bella mit den beiden leeren Mandy-Kisten nach unten und fragt, ob sie sie zum Recycling rausbringen soll. Die Blumensträuße am Tor beginnen zu welken. Die Nachrichten wenden sich neuen Ereignissen zu, ohne jede Erwähnung des geheimnisvollen »Er«, der in Margots Bericht so schuldig geklungen hatte. Jessie kommt zu dem Schluss, dass es am besten ist, die Sache der Polizei zu überlassen. Sie sammelt die Plüschtiere für wohltätige Zwecke ein (nur drei wurden von Romy still und heimlich »adoptiert«) und leitet die Nachrichten und Mitteilungen weiter an Margot in die Gärtnerei. Sie rechnet weiterhin damit, hofft darauf, dass Margot wieder vor der Tür stehen wird. Aber Margot lässt sich nicht blicken. Und Jessie will sie nicht stören oder sich aufdrängen, indem sie im Café auftaucht, in der Annahme, Margot habe sicher bereits alle Hände voll zu tun mit der Polizei und mit Audreys armer Mutter.
Der Alltag kehrt zurück. Die Überschwemmungen ebben ab. Die Tage werden länger. Will bricht mit einer stillen Zuversicht nach London auf, die Jessie zwar nicht klar benennen kann, aber es ist, als wäre er eine Last losgeworden. Sie schreibt dies Bella zu, die ihrem Vater beweist, dass sie kein Mädchen ist, das sich von Schicksalsschlägen entmutigen lässt, was Jessie als weiteren Beleg dafür sieht, dass sie wohl nach ihrer Mutter kommt, einer Frau, die Jessie nicht mehr gar so sehr verdrängen will. Ihre frühere Eifersucht erscheint ihr immer absurder – sie lebt, Mandy nicht, sie ist Wills Frau und auch die Mutter eines seiner Kinder –, und die Neugier, die sie so lange Zeit unterdrückt hat, treibt nun ungehinderter an die Oberfläche. Jessie fängt an, Bella Fragen zu stellen. Welche Filme liebte Mandy? Welche Bücher hat sie Bella vorgelesen, als Bella in Romys Alter war? Hat Mandy Bella in die Spielgruppe geschickt? Anfangs werden Jessies Fragen mit einem verwirrten Schulterzucken oder einsilbigem Nuscheln beantwortet, aber jedes Mal offenbart Bella ein wenig mehr. Und es ist auch Bella, durch die Jessie Mandy langsam kennenlernt – genau wie deren Tochter, die ihre Mutter noch immer so sehr vermisst – und durch die sie Mandy Stück für Stück Platz einräumen kann, damit sie weiterhin einen Platz in der Familie hat. Eines Tages ertappt sich Jessie sogar dabei, wie sie sich im Kopf mit Mandy unterhält wie zwei Nachbarinnen, die über den Gartenzaun hinweg den neusten Klatsch austauschen. Mandy zeigt ihr, dass sie aus ganzem Herzen lieben soll, was ihr teuer ist. Ach ja, und Bella würde es lieben, einen Hund zu haben.
»Wenn nicht jetzt, wann dann?«, sagt Jessie zu Will. »Bella hat es sich verdient nach all dem Aufruhr der letzten Wochen.« Noch am selben Abend ruft sie den örtlichen Golden-Retriever-Züchter an. Sie haben Glück. Aus einem Wurf ist noch eine Hündin übrig, kleiner als ihre Geschwister, mit hellem Fell und bärenartigen Pfoten, zur Abholung bereit. Bella nennt sie Marilyn und überschüttet sie mit Liebe. Marilyn macht in jede Ecke, zerkaut ihre Schuhe und buddelt im Garten die sorgfältig gepflanzten Tulpenzwiebeln wieder aus. Eines Nachmittags knabbert sie Flump den Elefantenrüssel ab. Romy schluchzt. Bella näht ihn sorgfältig mit grauem Baumwollgarn wieder an, das sie extra dafür aus dem Handarbeitsschrank in der Schule stibitzt hat. Jessie verzeiht Marilyn sowieso alles.
Joe Peat arbeitet hart und schwitzt immer stärker unter seiner Mütze, während die Temperaturen langsam steigen. Bis Ende März wird das Schwimmbecken aufgefüllt und der Brunnen sicher gemacht. Die Statuen der steinernen Göttinnen, die einst die Ecken des Pools bewachten, treten nun wie Waldnymphen hinter Büscheln von Osterglocken hervor. Eines Samstagnachmittags kommt Lou unangekündigt zu Besuch, frisch getrennt, die Wimperntusche um die Augen verschmiert, und sagt, sie müsse ihre Wunden lecken. Bella sagt: »Marilyn kann super Wunden lecken«, und Jessie spannt ihre Freundin mit ein, als sie die neue Humusschicht ausbringt, auf der rechteckigen Fläche, wo sich zuvor der Pool befunden hatte und wo nun Wildblumen und Gräser wuchern.
Lou zieht Jessie zur Seite und flüstert: »Warum lächelt Bella so viel? Was zum Teufel ist passiert?«
Und Jessie antwortet: »Bella ist am Leben.«
Ein unerwartet warmer Frühlingsanfang macht dem Winter den Garaus. Ihre Mutter kommt zu Besuch und warnt Jessie, dass ein Unglück selten allein komme, dass sie keine Minute unachtsam sein dürfe, und überlegt anschließend, ob sie nicht noch ein paar Stecklinge aus dem Garten mitnehmen und ein paar Tage länger bleiben solle. Jessie meldet Romy für zwei Vormittage pro Woche in der Spielgruppe im Gemeindesaal an. In diesen Stunden sitzt sie, Marilyn zu ihren Füßen, in ihrem Atelier und zeichnet ein Selbstporträt, die Frau, die sie jetzt ist: klüger, älter, nachlässiger, was ihr Aussehen betrifft, und, ja, glücklicher. Als Bella aus der Schule kommt, stimmt die ihr zu, dass es schrecklich, aber zumindest ein Anfang ist, und klebt es an die Küchenwand neben Romys Fingerfarbengemälde und das Porträt von Audrey.
Eines Nachmittags zieht Bella Jessie auf der Eingangstreppe beiseite und warnt sie zischend davor, sich so zu verhalten, »als hätte ich noch nie jemanden mit nach Hause gebracht«, oder »dumme Fragen« zu stellen. Liv, ebenfalls eine Tagesschülerin, ist eine großmäulige Blondine mit drei Brüdern, deren Eltern ihr das Leben gerade komplett ruiniert haben, indem sie von Camden nach Cornton Hall gezogen sind, das unheimliche, große Haus am Rande des ödesten Dorfes der Welt. In den folgenden Tagen verbringen sie und Bella Stunden in Bellas Zimmer, hören Musik, kreischen vor Lachen (das schlagartig verstummt, wenn Jessie hereinkommt), hängen bei den Steinen auf der Wiese herum und hinterlassen eine dürftig versteckte Spur von Zigarettenkippen im Gras.
Will überrascht sie alle, indem er bereits an einem Mittwoch statt am Freitag nach Hause kommt. Er grinst unablässig, und Jessie fürchtet schon, dass er im Zug getrunken hat. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, spricht zu schnell und erklärt ihr, dass er ein Angebot für die gesamten Firma, nicht bloß Jacksons Anteil, angenommen und die letzten paar Wochen einen einigermaßen angemessenen Preis dafür ausgehandelt habe. Nein, sie würden nicht steinreich sein, leider, aber gut genug aufgestellt, damit sie beide sich hier etwas aufbauen und mehr Babys bekommen könnten. »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, neckt er sie. Und Jessie küsst ihn. »Moment«, sagt er und löst sich von ihr. »Ich habe noch etwas für dich.« Er drückt ihr etwas Kleines und Hartes in die Hand und schließt ihre Finger darüber.
Sie öffnet ihre Hand: eine goldene Anhängerfigur, die genau zu der an ihrer Halskette passt, die Will ihr nach Romys Geburt gekauft hat. »Das kann ich nicht annehmen«, flüstert sie und schlägt die Hand vor den Mund. »Bella wird mich daran aufhängen.«
»Bella hat sie selbst ausgesucht«, sagt Will. Er stellt sich hinter sie, hebt ihr Haar an und fädelt den Anhänger an die Kette um ihren Hals. Zuerst ist es ungewohnt, zwei Figuren, die in der Einbuchtung ihres Schlüsselbeines baumeln. Doch dann fühlt es sich genau richtig an. Sie hat zwei Töchter, nicht eine. Als sie den Anhänger berührt, ist das Gold bereits durch ihre Haut angewärmt.