10
Selbst Moppet ist verwirrt. Die Schweineknorpel als Vormittagsleckerbissen. Die Streicheleinheiten von Sybil. Die schleichende Auflösung der Applecote-Hausregeln wie etwas Starres, das sich in der spätsommerlichen Hitze verformt.
Das Einzige, was Sybils Stimmung zu trüben scheint – ihr Herumwuseln im Haus, das Öffnen der Vorhänge unterbricht –, ist die Erinnerung daran, dass wir in zweieinhalb Wochen wieder in die Schule müssen und Flora nach Paris gehen wird. Und das Einzige, was Sybil wirklich erstarren lässt, so dass ihr Fuß über der Stufe verharrt und ihre Hand an ihre Kehle springt, ist die Erwähnung meiner Mutter, wenn Dot sie fragt, ob es denn keine Briefe von Ma für sie gäbe. (Wir anderen haben es längst aufgegeben zu fragen.)
Ich bin mir inzwischen sicher, dass es Sybil gelungen ist, sich einzureden, dass es Ma nicht mehr gibt – genauso wie sie sich selbst glauben machen konnte, dass Audrey jederzeit an die Türe klopfen könnte – , und dass sie, Sybil, unsere neue Mutter ist und wir ihre Adoptivtöchter sind. Und weil eine Erwähnung von Ma sie so sehr aus dem Konzept zu bringen scheint und die Stimmung bedroht, die zur herrlichen Lockerung der Regeln geführt hat – und uns damit einen leichteren Zugang zu Harry und Tom beschert – , erwähnen wir Ma immer weniger, sogar wenn wir unter uns sind.
Oder vielleicht liegt es auch bloß daran, dass Ma uns damit, dass sie uns nicht schreibt, mehr verletzt, als jede von uns zugeben will. Doch ich weiß es nicht genau, da wir Schwestern nicht mehr ehrlich über unsere Gefühle reden. Früher haben wir sie uns wie Teigklumpen gegenseitig zugeschoben, damit wir sie in den Händen halten, sie kneten und gemeinsam erfahren konnten. Jetzt haben wir geheime Wünsche. Und Dot unternimmt lange einsame Spaziergänge mit Moppet.
Sybil befeuert diese Spannungen auf ihre ganz eigene subtile Weise. Dass sie stillschweigend Geschmack zu finden scheint an Mas leichtfertigem Erziehungsstil, beunruhigt mich. Als Pam in Sybils Hörweite darüber nachsinnt, Ma könnte mit einem arabischen Prinzen durchgebrannt sein und spaziert nun vermutlich in irgendeiner Medina herum, knabbert Datteln und hat ihre Töchter völlig vergessen, bin ich mir sicher, ein zufriedenes Lächeln über Sybils Lippen huschen zu sehen. Später an jenem Tag erscheint sie zum Essen mit einem Lippenstift in Mas unverwechselbarem Karmesinrot. Ich hätte ihn ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt und gerufen: »Du bist nicht Ma, meine wunderbare Naturgewalt von einer Mutter, die uns manchmal in den Wahnsinn treibt!« Doch sie sieht so hübsch aus, auf scheue Weise zufrieden mit sich selbst. Und sie entlässt uns mit einem Winken zu einem Bad am Fluss bei Sonnenuntergang. Also lasse ich es.
Ich glaube dennoch, dass sie nicht lange anhalten kann, Sybils Stimmung, diese Verwandlung. Dass sie wahrscheinlich bloß auf irgendwelche Pillen zurückzuführen ist wie die, die Ma nach Pas Tod eingenommen hat. Oder auf den Dubonnet. Dass sie bereits am nächsten Morgen, in dunkelgraues Flanell gehüllt, die Treppe heruntergeschlichen kommen und uns das lebensgefährliche Schwimmen im Fluss verbieten könnte.
Doch dann erscheint sie wieder in diesem zitronengelben Kleid am Frühstückstisch und schenkt mir einen vertrauensvollen Blick, lang wie ein Brief, der mich an sie bindet und in mir das Gefühl erweckt, dass es meine Heuchelei ist, die es ihr erlaubt, wieder etwas von ihrem alten Ich zurückzugewinnen.
Es verblüfft auch Perry. Er sieht Sybil blinzelnd an, als hätte er zwar die grundlegende Veränderung an seiner Frau bemerkt, hätte aber keine Ahnung, was genau es ist oder aus welchem Grund. Er muss zweimal hinsehen, wenn sie über den Rasen läuft, mit gelüpftem Blumenrock, unter dem ihre Waden zum Vorschein kommen, die dünn und blass sind wie die einer Schaufensterpuppe, weil sie jahrelang unter langen, schweren Kleidern verborgen waren. Und sie bewegt sich schwungvoll wie jemand, der sich auf den neuen Tag freut, statt mit dem schleppenden Schritt von jemandem, der bloß entschlossen ist, ihn durchzustehen.
Erstaunlicherweise wirkt auch Perry plötzlich weniger schuldig. Da er die Hand beim Gehen nicht mehr ins Kreuz gestützt hat, erscheint er aufrechter, sein Bauch weniger aufgebläht von Gasen und Geheimnissen. Ich frage mich, ob sich die Stimmung seiner Frau auf ihn überträgt, in einer Art ehelicher Osmose. Heute beim Mittagessen schlug er sogar vor, zaghaft, als traue er diesem fröhlichen Eindringling, der sich als seine Frau verkleidet hat, nicht ganz über den Weg, dass sie ihn an den Pool begleiten möge: Sybil warf den Kopf zurück und lachte, nicht unfreundlich. Sie sagte, sie sei jahrelang nicht mehr geschwommen und nun zu alt dafür, und außerdem müsse sie sich um die Blattläuse auf den Rosen kümmern. Nichtsdestotrotz hat er sie tatsächlich gefragt und sie tatsächlich gelacht, beides, als wir hier ankamen, noch vollkommen undenkbar.
Wir scherzen darüber, dass Sybil eine Affäre mit dem Gärtner Billy hat. Warum sonst das Lächeln, die Entspanntheit, der rote Lippenstift? Aber eines Nachmittags dreht Pam sich abrupt herum, und ihr harter blauer Blick sticht mir wie ein Finger an die Brust: »Was meinst du, Margot? Du bist doch Sybils Schoßhündchen. Woran erkennst du die Stimmung deines Frauchens?«
Ich kann meinen Schwestern nicht anvertrauen, wie Sybils Augen mir durchs Haus folgen. Meine angespannte Erwartung, ihre Schritte auf der Treppe zu hören, wie sich ihre Hände ballen, direkt vor meiner Zimmertür, unmittelbar bevor sie anklopft. Woher ich weiß, dass sie in mein Zimmer kommen und die Tür hinter sich zumachen wird, mich dann mit ihrem Lächeln einkreist, mich in sich aufsaugt und sich über den Aufenthaltsort meiner Schwestern erkundigt, bevor sie mir schließlich vorschlägt, dass wir es uns »eine Weile in Audreys Zimmer gemütlich machen«.
Ich weiß nicht, wie ich Nein sagen soll, und ein Teil von mir will ihr auch gefallen, ein Teil von mir genießt es, und ein weiterer Teil von mir will Ma durch Sybil ersetzen, Ma dafür bestrafen, dass sie nicht hier ist, dass sie nicht schreibt und dies alles überhaupt zulässt. Es ist nicht so, als hätte ich nicht versucht, Sybil zu erklären, dass sie mich nicht mit Audrey verwechseln darf, aber die Worte kamen mir nicht besonders entschlossen über die Lippen, und sie warf mir daraufhin einen so verständnislosen und enttäuschten Blick zu. Sie erfreue sich bloß meiner Gesellschaft, sagte sie. Ich wusste, dass sie log. Sie wusste es wahrscheinlich auch. Aber ich war so erleichtert über diese einfache Erklärung, für diese ganze Sache, die so unangenehm und seltsam und unlenkbar war, dass ich sie akzeptierte. Doch je länger ich es laufen lasse, desto schuldiger fühle ich mich, desto mehr macht mir der Gedanke Angst, es noch einmal zur Sprache zu bringen oder mich meinen Schwestern anzuvertrauen, desto enger zieht sich der Knoten.
Ich versuche, mir das wahrscheinliche Szenario vorzustellen, wenn ich mich ihnen offenbarte: das Verstummen ihrer Gespräche, wenn ich einen Raum betrete (eine Sache, von der ich bereits seit ungefähr einer Woche einen Geschmack bekomme); Pams begeisterte Empörung; Floras gekränkte Enttäuschung; Dots Gefühl der Verlassenheit; und schlimmer als alles andere wäre das Wissen meiner Schwestern darum, dass ich absichtlich einen Teil von mir vor ihnen verborgen habe, über Wochen in Audreys Zimmer. Es wird meinen Ruf als seltsame Margot für immer zementieren, auch wenn die Version von mir, die in Audreys Haut schlüpft, vergänglich ist, bloß ein Experiment innerhalb von Audreys Zimmer. Sie darf weder ausbrechen noch Fußspuren hinterlassen.
Ich rieche Harry sofort an Flora.
Leichtsinnig verspätet, sitzt sie am Mittagstisch mit geschwollenen roten Lippen, gerötetem Dekolleté und Grashalmen an der Rückseite ihres Kleides. Sie strahlt weiches Licht aus wie eine Kerze, und sie lächelt auf eine Art, wie ich es noch nie an ihr gesehen habe, mild, entrückt. Perry erhebt sein Glas: »Mein Gott, ich dachte schon, es würde nie passieren.«
Und ich fühle mich so unglaublich dumm, so töricht verblendet, dass ich ganz fest auf meine Silbergabel beißen muss, um meine Tränen zu unterdrücken. Nach der Bootsfahrt, dem Eisvogel, der Hand auf meinem Arm habe ich mir törichterweise erlaubt, mir einzubilden, dass ich diejenige sein könnte, die Harry ein wenig mag. Aber natürlich bin ich es nicht. Ich bin es nie.
Pam ist vollkommen aus dem Häuschen: Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Tom ihr gehört, jetzt, da die lästige Ablenkung durch Flora beseitigt ist. Doch Tom ist in den Tagen nach dem ersten Kuss mürrischer und zurückhaltender als je zuvor, und er starrt Flora mit solch gequälter Sehnsucht nach, dass es schwerfällt, ihn nicht zu bemitleiden. Pam, die sich nicht geschlagen geben will, flirtet noch erbitterter. Sie wird ihn schon dazu bringen, sich in sie zu verlieben, das weiß ich. Sie wird nicht mit zwei so hoffnungslosen Fällen wie mir und Dot zurückbleiben: »Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass dieser Sommer verstreicht und ich meine Unschuld behalte.«
Bei Flora ist das wohl auch unwahrscheinlich. Die Romanze zwischen ihr und Harry entwickelt sich nach diesem Kuss rasend schnell und ansteigend wie Fieber. Wir werden alle mit reingezogen: die langen Bäder zu zweit im Fluss, mit Dot als Ausgucker am Ufer; die Rendezvous in der Scheune, bei denen das kleine Fenster anläuft; Pam, die währenddessen draußen patrouilliert und, sobald Harry sich davongeschlichen hat, in der Scheune herumschnüffelt und die Atmosphäre hinterher als »salzig, süß und ein wenig animalisch« beschreibt; Flora, die sich nach Anbruch der Dunkelheit und unter dem Deckmantel fadenscheiniger Alibis hinausschleicht – »frische Luft schnappen«, »die Beine vertreten« – , die von Sybil nicht in Frage gestellt werden, sofern sie von mir kommen. Dadurch werde ich zu meinem eigenen Kummer der logistische Vermittler dieser aufregenden abendlichen Treffen, und ich bin so erfolgreich darin, dass Flora sich mit der lässigen Anmut einer Sirene auf Applecote bewegt und mit den Händen durchs hohe Gras streift, als würden ihr mit jeder Berührung Lustschauer über den Arm jagen. Ich beobachte sie dabei, und es schmerzt mich. Ich möchte spüren, was sie spürt. Wenn ich an uns denke, ich eingeschlossen mit Sybil, Flora vereint mit Harry, stelle ich fest, dass sich unsere Leben entzweien.
Eines Nachmittags lädt Harry Flora nach Cornton Hall ein: Pam fehlen tatsächlich ganze dreieinhalb Stunden lang die Worte vor Eifersucht. Als Flora schließlich zerzaust und strahlend zurückkehrt, beschreibt sie atemlos den ausgestopften Grizzlybären, das über dem Kamin eingemeißelte Wappen, die Rüstung an der Wand, die weitläufigen, parkartigen Gärten. »Und sie fühlte, was es bedeutete, Herrin von Pemberley zu sein«, spottete Pam.
Das Schlimmste an allem ist, dass ich noch immer von Harry träume. Und die Träume sind so lebendig, intensiver denn je, dass ich in zerwühlten Laken aufwache und mir nur schwer vorstellen kann, dass er sie nicht auch träumt. Ich weiß, dass es falsch ist. Ich habe auch versucht, Harry zu entzaubern, mir vorgestellt, wie er mit fettigem Haar eine verrußte Londoner Straße entlangschlendert, vorbei an alten Trümmerfeldern und schmutzigen pickenden Tauben. Aber es ist, als existiere Harry nur in den Hügeln der Cotswolds, inmitten von Flüssen und Wiesen, in diesem drückenden Sommer, ohne Hemd, sommersprossig, aus Wünschen und Träumen erschaffen. In der Stadt würde er sich im Nieselregen auflösen.
Meine Matratze senkt sich. Eine Hand streichelt das Haar aus meiner Stirn und verströmt den schwachen Duft von Pond’s Cold Creme. Mein Kopf ist noch benebelt vom Schlaf, und ich bin mir sicher, dass Ma neben mir sitzt, dass ich mich wieder unter dem breigrauen Himmel von Chelsea befinde, wo ich mir das Zimmer mit Dot teile und meine älteren Schwestern nebenan plaudern hören kann, wo Betty die Eingangstreppe schrubbt, U-Bahn-Züge grollen und mich ein Glücksgefühl durchströmt wie der erste Schluck Tee am Morgen. »Ma?«
»Ich bin hier«, flüstert eine Stimme.
Meine Augen schnellen auf.
Sybils Gesicht, darunter eine bauschige, cremefarbene Bluse mit einem spitzendeckenartigen Kragen, schwebt nur wenige Zentimeter über meinem. »Guten Morgen, mein Liebes. Ist schon gut. Du bist im richtigen Bett, im genau richtigen Bett.«
Und in diesem Moment spüre ich es, das federnde Weidenflechtkopfteil, das sich an meine Schultern drückt, das luxuriöse Nachgeben des Daunenkissens. Als ich dort benommen liege und blinzelnd zu Sybil aufblicke, schleicht sich mir die vergangene Nacht wieder in den Sinn, wie ich in den frühen Morgenstunden mit einem Ruck erwachte, den Kopf voller Gedanken an Harry, sich mein Körper nicht wie mein eigener anfühlte und meine Schenkel zuckten wie die Flanken eines Pferdes. Mit ungeschickten Fingern knipste ich die Nachttischlampe an. Da war eine Motte, eine große Motte, ihre Flügel golddurchwirkt, die Farbe von Harrys Augen. Aus Angst vor dieser verräterischen Sehnsucht, vor dem Schmerz, der irgendwo in meiner Bauchgegend pulsierte, einem Teil meines Körpers, für den ich keinen Namen habe, den ich nicht verstehe, stolperte ich den Flur hinunter, versuchte der verwirrenden Empfindung zu entkommen und suchte in Audreys Zimmer nach dem Frieden meiner Kindheit.
Wie hatte ich nur so dumm sein können, in ihrem Bett einzuschlafen?
»Wir sind beide solche Frühaufsteher, nicht wahr? Schwirren herum, während alle Welt schläft«, flüstert Sybil. Ihre Augen glänzen seltsam, sprühend vor Liebe. Durch die langen ockerfarbenen Vorhänge fällt ein Strahl Morgenlicht, das Sybils Haar rotbraun erscheinen lässt, so dass es ein wenig so aussieht wie damals, als sie noch jünger war. Es scheint, als habe sich die Zeit umgekehrt, als fließe sie langsam rückwärts, so dass ich irgendwie in ihr feststecke und das Schlimme, das geschah, noch nicht passiert ist, dass es noch bevorsteht, aber nicht Audrey, sondern mir.
Sybil streicht mir eine Haarlocke aus dem Gesicht. »Ich lasse dir ein Bad ein, und dann kannst du in dein blaues Lieblingskleid schlüpfen, das deine Augen so schön hervorhebt, hm?«
Ich ziehe das Laken schützend bis über meine Brust. Das geht zu weit. Es ist falsch, einfach alles. »Nein, ich …«
»Aber zuerst bringe ich dir ein wenig Toast herauf«, sagt Sybil rasch und umgeht so geschickt meinen Protest. »Himbeermarmelade. Du liebst doch Molls Himbeermarmelade. Das war immer deine Lieblingssorte.«
»Ich muss zurück in mein Zimmer.« Ich schwinge einen Fuß aus dem Bett. »Meine Schwestern werden kommen und mich suchen«, füge ich hinzu, obwohl ich weiß, dass sie das nicht tun werden. Wir gehen jetzt immer getrennt zum Frühstück hinunter, nicht mehr in der Gruppe wie früher.
»Deine Cousinen schlafen alle noch tief und fest. Das ist nur Moll, die du da hörst.« Sie lächelt.
Nichts an Sybils Gesichtsausdruck deutet darauf hin, dass sie bemerkt hat, dass sie meine Schwestern gerade meine Cousinen genannt hat oder irgendetwas falsch daran findet. Ich mache den Mund auf, um sie zu korrigieren, doch sie redet einfach weiter, ein leises, mütterliches Murmeln, wie das Geräusch eines Baches, der über kleine Felsen sprudelt. »Lass mich das Kissen aufschütteln. Da. Leg dich wieder hin. Gut so. Ich mache kurz das Fenster auf. Etwas frische Luft. Riechst du die Rosen? Gleich nach Tagesanbruch duften sie am besten.«
Ich kann sie riechen, ihre unheimliche Süße.
Sie zögert, weil sie mein Unbehagen registriert, ist unsicher, ob sie mich verlassen soll. »Du bleibst doch hier, oder?«
Ich nicke gehorsam: In diesem Moment liegt etwas in der Vehemenz von Sybils Illusion, das in mir die Frage aufwirft, wozu sie fähig sein könnte, wenn ich mich weigere mitzuspielen. Sie geht zur Tür und blickt zweimal über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass ich mich nicht bewegt habe. Die Tür schließt sich mit einem Klacken. Ich warte kurz, vielleicht fünf Minuten, um sicherzugehen, dass sie weg ist, doch als ich mich hochrappeln will, geht die Zimmertür auch schon wieder auf.
Mein Herz springt mir fast aus der Brust: Es ist Moll, die mit dem Wäschekorb auf der Hüfte hereingeschlurft kommt. Sie sieht mich nicht sofort, doch ich halte ganz still wie ein Mädchen, das an Tarnkappen glaubt.
Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. Holt geräuschvoll Luft.
»Ich … ich muss schlafgewandelt sein oder so«, platze ich heraus.
Ich kann die Gedanken in Molls Kopf rasen sehen, ihr verwirrter Blick fällt auf meine nackten Füße und wandert dann langsam hoch zu meinem verknitterten Baumwollnachthemd, meinen fest verschränkten Armen und meinen brennenden Wangen. Zu meiner Überraschung stellt sie den Wäschekorb – gefüllt mit sauberen, gefalteten Laken – einfach beim Bett ab und geht beherzten Schrittes zum Fenster.
Mit dem Rücken zu mir beäugt sie prüfend die vorbeiziehenden Wolkenfetzten, und der Gürtel ihres Arbeitskittels strafft und lockert sich beim Atmen. »Mrs. Wilde hat dich hier gefunden, oder?«
»Ja«, gebe ich verlegen zu und frage mich, ob sie soeben meiner Tante begegnet ist, die auf dem Weg in die Küche war, um Toast zu machen. Ich versuche mein Nachthemd glattzustreichen und wünsche mir nichts sehnlicher, als ordentlich gekleidet zu sein, denn ich erinnere mich an Ma, die uns immer eingetrichtert hat, dass man mit allem davonkommen könne, wenn man nur ordentlich gekleidet sei.
»Sie denkt sich nichts Böses dabei, Margot.« Moll dreht sich zu mir um, ihr rundes Gesicht wirkt verhärmt.
»Ich … ich weiß nicht, was du meinst.« Ich schiele hinüber zur Tür, besorgt darüber, dass Sybil jeden Moment zurückkommen könnte und ich dann noch ewig hier festsitzen würde und dieses Theater mitspielen müsste.
Moll lächelt freundlich. »Ich habe deine Haare in der Haarbürste gefunden, Spätzchen.«
»Oh.« Ich schließe die Augen.
»Nicht so milchblond wie Floras, aber heller als die von Pam und der kleinen dunklen Dot. Ganz ähnlich wie Audreys Haare. Aber lockiger und kürzer …« Sie nimmt ein Kissen vom Bett, schält es aus seinem Bezug und sieht mich etwas schärfer an. »Und jemand hat in ihren Kleidern rumgewühlt.«
»Ich … das war dumm von mir, Moll.«
Moll zieht das Laken vom Bett. »Ich verrate nichts.«
»Tante Sybil …«, setze ich an und verstumme dann, unsicher, wie viel Moll sich bereits zusammengereimt hat.
»Das habe ich mir schon gedacht, Margot.« Das Laken hängt schlaff in ihren Händen. »Ich habe gesehen, wie sie dich ansieht. Aber deine Tante hält an ihrem Glauben fest, weißt du, sie glaubt blind, das ist alles. So wie ich an den lieben Herrgott glaube, glaubt sie an Audrey. Und, naja, manchmal verstrickt sie sich zu sehr darin, das ist alles. Dann verliert sie sich ein wenig.«
Ich starre auf meine Zehennägel, der rote Lack wirkt plötzlich unpassend, und mich überkommen Schuldgefühle. Denn habe ich Sybil nicht noch ermutigt? Ist es nicht das, was wir beide in diesem Raum tun, uns selbst verlieren und der Realität entfliehen?
»Du bist ein nettes Mädchen, Margot«, sagt Moll, als könne sie meine Gedanken lesen, und zieht das Laken ab, so dass die blauen Steppnähte der Matratze zum Vorschein kommen. »Das sehe ich daran, wie du dich um die kleine Dot kümmerst.«
Meine Schuldgefühle werden immer größer. In den letzten Wochen habe ich mich nicht besonders um Dot gekümmert. Diesen Sommer habe ich sie zum Erwachsenwerden sich selbst überlassen. Und wie Dot nun einmal ist, hat sie sich nicht darüber beklagt, sondern einfach Zuflucht gesucht bei Moppet, ihren Büchern und ihrer eigenen Fantasie.
»Deine Tante hat dunkle Zeiten gesehen, Margot, dunkler, als du es dir jemals vorstellen kannst.« Moll breitet ein frisches Laken über die Matratze und hebt sie dann an einer Ecke an. »Aber ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr so gelöst gesehen. Was auch immer hier in diesem Raum vor sich geht, geht mich nichts an. Ich weiß nur, dass du und deine Schwestern diesem Haus wieder Leben eingehaucht habt.« Sie legt den Kopf schief und beäugt mich traurig. »Ich ertrage den Gedanken gar nicht, dass ihr am Ende des Sommers weiterzieht wie Schwalben.«
Ich lächle sie an. »Ich bin auch froh, dass du noch auf Applecote bist, Moll. Du bist nicht gegangen wie der Koch. Oder die alten Gärtner.«
Sie zuckt mit den Schultern, streicht das Laken glatt. »Arnold, mein Liebster, wurde abgeschossen wie dieser arme Kerl auf der Wiese da draußen. Ein Kriegsvermisster. Auch er wurde nie gefunden. Ich kenne den Kummer der Wildes auch ein wenig.«
»Dann bist du es, die Sträußchen im Absturzkrater hinterlässt!«
Sie wird rot. »Ich weiß, es ist töricht. Aber irgendjemand liebte auch diesen Piloten, Margot. Wenn es mein Arnold wäre …« Sie verstummt, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Um Moll einen Moment zu geben, schaue ich aus dem Fenster, die Hände an der Scheibe, und denke an den Piloten, unseren deutschen James Dean, daran, dass auch er zu Hause eine Moll hatte, die ihn für immer vermissen und nie der Mensch werden wird, der sie gewesen wäre, wenn er am Leben geblieben wäre. So wie ich ohne Pa nie wieder Wirbelwind Margot sein werde. Und Sybil nie wieder Sybil ohne Audrey. Und ich frage mich, ob wir nur als Kinder wir selbst sind, bevor das Leben anfängt, aus dem Ruder zu laufen.
»Total verwöhnt war sie. Kleine Madame habe ich sie genannt. Aber ich hätte alles für Audrey getan«, sagt Moll unvermittelt, als wären ihre Gedanken meinen gefolgt. »Und das wusste sie, Gott hab sie selig.«
Schlagartig kommt mir in den Sinn, dass sich alle Antworten hinter dem schwarzen Loch von Molls fehlendem Zahn verstecken könnten. »Was ist mit Audrey geschehen, Moll?«
»Ich weiß nur …«, Moll zögert, »… dass Mrs. Wilde dieses große, alte Haus niemals verlassen wird. Nicht, solange Audrey jeden Tag an die Tür klopfen könnte. Und falls man eines Tages ihren kleinen zerstörten Körper findet, wird es ihr das Mutterherz brechen. Mrs. Wilde lebt für die Hoffnung, weißt du, Margot? Und hier oben«, sie tippt sich an die Schläfe, »ist Audrey für sie genauso lebendig wie du und ich.«
»Aber es ist jetzt schon fünf Jahre her. Die meisten Leute glauben …« Ich will sagen, »dass sie tot ist«, bringe es aber nicht fertig.
»Dass es dein Onkel war?« Moll schlägt auf ein Kissen. »Tja, natürlich dachten sie das, nachdem er von diesen Clowns verhaftet wurde.«
»Verhaftet?«
»Das wusstest du nicht?«, fragt Moll und drückt sich das Kissen an die Brust. »Aber alle wussten es.«
Ich muss an den Tag unserer Abreise aus London denken, wie sich Ma den Handrücken gegen die Stirn presste, das kurze Schweigen, nachdem sie den Namen meines Onkels ausgesprochen hatte. »Meine Mutter hat uns das nie erzählt.«
»Tja, vermutlich dachte sie, es wäre so das Beste«, sagt Moll eilig zurückrudernd. »Was hab ich da nur wieder angerichtet? Ich und meine große Klappe. Das liegt nur an deinen Fragen, Margot«, fügt sie gereizt hinzu. »Du stellst zu viele Fragen. So warst du schon als Kind, wie eine Hummel im Zimmer.«
»Also, was ist geschehen?«
»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen«, sagt sie bestimmt.
»Ach, Moll. Niemand erzählt uns jemals alles über irgendwas. Unsere Familiengeschichte besteht aus Schichten von Auslassungen«, sage ich, plötzlich den Tränen nah. »Weißt du, es ist wie mit dem Fluss, nahe der Themsemündung, das Grundwasser kommt herausgespritzt, wenn man in den Boden sticht. Unsere Familie ist genauso, was Geheimnisse betrifft.«
»Alle Familien sind so, Spätzchen.« Moll lächelt mich mitfühlend an. »Nun, sie hat ein gutes Herz, deine Mutter. Das fand ich schon immer. Sie hat es nicht leicht, aber sie tut ihr Bestes für euch Mädchen.«
»Moll, bitte. Ich kann nicht mehr mit meinem Onkel in einem Zimmer sein, wenn du nicht redest.«
Moll lässt sich seitlich aufs Bett plumpsen. »Die Polizei hat deinen Onkel verhaftet, weil sie eben irgendjemanden festnehmen mussten. Das ist meine Meinung, Margot. Sie konnten das arme Würmchen nicht im Fluss finden. Sie konnten den seltsamen Mann mit dem Hut nicht finden. Die vornehmen Familien hier, die Gores und ihresgleichen, vor allem die Gores von Cornton, wollten, dass die Sache so schnell wie möglich vom Tisch ist, deshalb übten sie ganz oben Druck aus, wie sie es immer tun. Und die Polizei musste den Eindruck vermitteln, dass sie etwas erreicht hatte.« Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen glänzen vor Tränen. »Schrecklich für Mrs. Wilde. Aber sie hielt zu ihrem Mann. Sie wusste, dass er nichts damit zu tun hatte.«
»Hatte er nicht?«, frage ich und denke an Perrys dicke Finger.
»Nein, natürlich nicht, Margot!« Moll wirkt schockiert, dass ich so etwas auch nur denken kann. »Sie konnten ihm nichts anhängen, es gab nur Klatsch und Gerüchte, und er musste wieder freigelassen werden. Auch wenn er in den Augen vieler immer schuldig sein wird, aber so ist das hier im Tal.« Sie steht seufzend auf und blickt zur Tür. »Und das sind Mrs. Wildes Schritte auf der Treppe, wenn ich mich nicht irre.«
Ohne nachzudenken, beuge ich mich zu ihr vor und küsse ihre warme, papierartige Wange. »Danke, Moll.«
Verblüfft berührt Moll mit den Fingerspitzen ihre Wange, als ob sie seit Jahren von niemandem mehr geküsst worden wäre. Dann schiebt sie mich nervös und lächelnd von sich. »Jetzt scher dich aber weg!«
Der Sommer ist fast vorbei. Plötzlich sind einige der Äpfel im Obstgarten reif. Ein Abend überrascht mit stechender Kälte und erfordert das Novum einer Strickjacke. Flora prahlt mit einem Knutschfleck auf der linken Brust, direkt über der Brustwarze. »Der Heiratsantrag ist nur noch eine Frage der Zeit«, befindet Pam, nachdem sie ihn eingehend geprüft hat. »Aber er sollte sich mal besser ranhalten.«
In gut einer Woche ist es so weit – »dieser Tag«, wie ihn Sybil mit geschlossenen Augen nennt –, und wir müssen unsere Koffer packen und zum ersten Mal ohne Flora nach Squirrels zurückkehren, während Flora nach Paris gehen wird, um dort wie ein Edelstein geschliffen zu werden.
Plötzlich steht so viel auf dem Spiel – Flora, Harry, Tom, die Möglichkeit, jemals herauszufinden, was mit Audrey passiert ist, sogar Billys schüchternes Hallo und Sybil, die mir die Haare bürstet, all die kleinen Dinge, an die ich mich gewöhnt habe und die ich vermissen werde.
Aber am härtesten trifft uns der Verlust unserer eingeschworenen Schwesterngemeinschaft, des Stammes der Wildlinge, der wir zu Beginn des Sommers waren. Wir vier bilden keine Einheit mehr, sondern treiben auseinander, werden in verschiedene Richtungen zerstreut. Ich versuche, die Lücke zwischen mir und meinen Schwestern zu schließen, besonders zu Pam und Flora, aber es gelingt mir nicht.
Dot macht lange Spaziergänge mit Moppet und Perrys Fernglas, verzaubert von Schwalben und Mauerseglern, die ihre Bahnen am blauen Himmel ziehen. Flora ist mit Harry beschäftigt – so sehr, dass sie, als ich ihr von Perrys einstiger Verhaftung erzähle, statt entsetzt »Neeiiin!« zu kreischen, kaum mit der Schulter zuckt. Aber sie ist jetzt weniger liebestrunken, ernster, versunkener, unerreichbar: die Liebe tiefer, echter, nehme ich an. Pam ist enttäuscht von Tom, der immer noch keine Anstalten macht, seinem romantischen Schicksal zu erliegen. Und ich bin meinen älteren Schwestern nur insofern nützlich, als ich Sybil bezirzen kann, ihnen mehr Freiheit zu geben. Sie kennen den Preis dafür nicht. Ich fürchte, wenn sie es wüssten, würden sie mich komplett ausstoßen.
Ich lasse Dot lesen und Pam und Flora wegen irgendwelcher Haarklammern herumzanken – in Wahrheit geht es um Pams Angst, Tom könnte in Flora verliebt sein, die keinerlei Anstalten macht, ihn davon abzubringen – und sitze, das Kinn auf den Knien, in der Abendsonne am Rande der Wildnis. Ich fühle mich meinen Schwestern ferner denn je.
Ein Schatten kühlt meinen Rücken. Ich wappne mich innerlich, rechne damit, dass es wieder Sybil ist, die ein späteres Treffen vorschlagen will, doch als ich aufblicke, schaue ich in die Tunnel zweier Nasenlöcher.
Perry trägt seine schreckliche gestrickte Badehose, ein zerknittertes weißes, bis zur Taille aufgeknöpftes Hemd und hat sich ein Seidentaschentuch um den Kopf geknotet. »Darf ich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, landet er neben mir in einer Wolke aus Schweiß und Luft. In diesem Moment wird mir klar, warum Ma uns nichts von seiner Verhaftung erzählt hat – wie einfach ist es doch, aus großen, schwer atmenden Männern, die sich zu dicht neben einen setzen und nach Wild und Salz riechen, Ungeheuer zu machen.
»Geschwister sind eine Plage, was?«, meint Perry.
Ich zucke bloß mit den Schultern, weil ich ihn nicht ermutigen will, und frage mich, worauf er wohl hinauswill.
»Ich habe Clarence über viele Jahre gehasst, Margot. Er machte mich schrecklich wütend.«
Clarence. Pas Name erschallt wie eine Glocke. Es ist ein Schock, ihn zu hören. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, zupfe ich einen Grashalm aus und fange an, daran herumzukauen.
»Er sah gut aus, dein Vater«, fährt Perry barsch fort. »Und er war sogar noch intelligenter. Er heiratete eine Frau, die so verdammt hübsch war, dass die Männer schier ausflippten, und scherte sich nicht darum, was unsere Eltern davon hielten, was es für den Ruf der Familie bedeutete. Und dann besaß er auch noch die Frechheit, gleich vier Töchter zu bekommen, während Sybil und ich lediglich eine zustande brachten, und wir haben es sehr wohl …« Er wedelt mit der Hand durch die Luft wie mit einem Schläger. »Oh und dann noch die Orden. Wie mein Bruder es liebte, mir seine verdammten Kriegsorden unter die Nase zu halten. Seinen Heldendaumen. Er hat Deutsche erschossen. Ich Fasane. Und dann, nach allem, was er geschafft hat«, Perry lacht gekünstelt, »hat er sich auch noch auf die dümmste Art überhaupt um die Ecke bringen lassen und damit meiner Mutter das Herz gebrochen.« Ein verächtliches Tss vibriert auf seinen Lippen. »Ich hatte immer gedacht, dass mich mein kleiner Bruder um Jahrzehnte überleben wird und dann nach Applecote Manor zieht, noch bevor meine Leiche richtig kalt ist.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und auch nicht mehr, wer mein Onkel ist, bloß, dass er nicht mehr der alte Herumtreiber mit dem lüsternen Blick ist, sondern ein großer, einsamer Mann.
»Weißt du, nachdem es passiert ist«, sagt er sanft, »der schreckliche Unfall auf den Bahngleisen, fehlte es mir plötzlich, jemanden zu haben, über den ich mich ab und zu aufregen konnte.« Er lehnt sich zurück auf seine Ellenbogen und neigt das Gesicht zum Himmel. »Und jetzt vermisse ich ihn jeden Tag. Wenn ich mich im Garten umschaue, dann sehe ich uns beide so deutlich – wirklich, ich kann uns jetzt sehen, zwei Jungs in Kniehosen, mit Angeln über der Schulter, einer für das Schlachtfeld bestimmt, einer für die Jagd und das Anwesen … und ich denke …« Er hält inne, schluckt schwer. »Was würde ich dafür geben, noch einen einfachen Sommertag wie diesen erleben zu dürfen, Margot, ich und mein lästiger kleiner Musterknabenbruder, wir haben alles noch vor uns, keine Verantwortung, nichts zu verlieren, alles ist nur ein Spiel, und wir denken an nichts anderes als an Forellen.« Er steht wankend auf, wobei er sich mit seiner riesigen, fleischigen Hand auf meiner Schulter abstützt. Ich warte, bis er sicher weg ist, dann fange ich an zu weinen.
Noch eine Woche. Wir versuchen, uns ein Geschenk für unseren Onkel und unsere Tante einfallen zu lassen als Dankeschön für ihre Gastfreundschaft. Für mich ist es komplizierter als das: ein Abschiedsgruß, ein »Es tut mir leid, dass ich dich für einen Mörder gehalten habe«, ein »Ihr werdet mir fehlen« und »Auf Nimmerwiedersehen« in einem. Aber es ist schwierig, da wir kein Geld haben und uns auf nichts einigen können. Der Tagesausflug ist Dots Idee, abgefeuert mit unerwartetem Dot’schen Scharfsinn. Ist Sybil nicht durch ihre eigene Angst an dieses Haus gefesselt? Perry durch die Ängste seiner Frau? Was wäre, wenn wir Sybil durch sie hindurchlotsen, sie zurück in die Außenwelt führen könnten, bevor wir gehen? Wäre das nicht das perfekte Abschiedsgeschenk?
»Das funktioniert niemals«, sagt Flora.
Pam, die unbedingt etwas entgegensetzen will, meint: »Margot kann es schaffen.«
Flora wettet mit mir um den gläsernen Briefbeschwerer auf ihrem Schreibtisch, dass ich es nicht schaffe, unsere Tante aus dem Haus und in die nächste Stadt zu locken.
Ich sage Dot, dass ich ihn für sie gewinnen werde.
»Ich bin bei dir, Tante, an deiner Seite. So wie Audrey früher«, sage ich gewissenlos zu Sybil, während sie mir am selben Abend die Haare kämmt. Sie schüttelt fassungslos den Kopf, als ob ich ihr vorschlagen würde, mit Geschirrhandtüchern als Flügel vom Dorfkirchturm zu springen. Doch als ich es am nächsten Tag erneut erwähne, zögert sie, und die Bürste verharrt reglos in meinem Haar, als würde sie sich plötzlich an etwas schrecklich Wichtiges erinnern, und ich weiß, ich habe die Wette gewonnen.
»Ich schätze, es ist jetzt oder nie, und ich brauche wirklich einen neuen Hut«, sagt sie noch einmal ängstlich am Mittwochmorgen. Sie sieht gut aus, ihre Wangen weniger eingefallen, und die geplatzten Äderchen sind mit Pan Stik abgedeckt. Sie isst Toastbrot, dick mit Butter bestrichen, und zwei Eier, fast als würde es ihr schmecken. Perry beobachtet sie anerkennend, während er selbst nur eine kümmerliche Schale gesalzenen Porridge hinunterschlingt. Und mir fällt auf, dass die beiden wirklich ein System sind, sie ihren Appetit umverteilen, dass die Ehe, die bereits am Ende schien, an den Wurzeln tatsächlich noch lebendig sein könnte.
Im Hausflur liegen Sybils Nerven blank, und sie knetet nervös ihre beste Krokodillederhandtasche. Wir haken uns zu beiden Seiten bei ihr unter und führen sie die Auffahrt hinunter. Wir plaudern und tun so, als sei alles normal, als sei dies nicht ihr erster Ausflug seit Jahren und als zitterten ihre Hände nicht.
Als wir aus dem Bus aussteigen, gerät Sybil nur einmal ins Straucheln, als plötzlich ein blondes Mädchen, das mit einem Stecken einen Reifen vor sich hertreibt, vor uns auftaucht. Und falls sie das aufgeregte Flüstern der Einheimischen bemerkt, das Gaffen und Starren, sagt sie nichts dazu, sondern hält den Kopf hoch erhoben, tapferer, als ich dachte.
Nachdem wir Tee getrunken und Kuchen gegessen haben – »Der beste Victoria-Biskuitkuchen, den ich je gegessen habe«, schwärmt Sybil, obwohl er nicht annähernd so gut ist wie der von Moll – , gehen wir zum Hutmacher und bestehen darauf, dass sie den pompösesten Hut im ganzen Laden kauft, einen, der mit bunten Seidenblumen übersät ist wie ein Karnevalswagen. Sybil protestiert zwar, aber sie ist vollkommen fasziniert von ihrem eigenen Spiegelbild, als erkenne sie unter diesem fröhlichen Hut eine andere Frau, jemanden, der sie wieder sein könnte.
Zuerst denke ich, dass da ein Mädchen an meiner Zimmertür hängt. Und die Idee, dass Sybil in meinem Zimmer war und es dort aufgehängt hat, während ich schlief, gefällt mir überhaupt nicht. Aber ich kann trotzdem nicht widerstehen. Zu meiner Überraschung geht der oberste Knopf diesmal zu. Mir wird klar, dass Sybil es hat ändern lassen.
Oh, es ist wunderschön. Ich hatte vergessen, wie hübsch und leicht und doch voluminös es ist, wie der kühle Petticoat raschelnd meine Beine umspielt.
»Margot?« Flora steht mit großen violetten Augen im Türrahmen, ein Kissenabdruck quer über der Wange. Ich erstarre, doch das Kleid schwingt weiter, als führe es schon ein Eigenleben. »Wo um alles in der Welt hast du das denn her?«
»Sybil hat es mir gegeben«, erkläre ich verlegen.
»Mensch, hast du ein Glück.« Sie betrachtet es mit zusammengekniffenen Augen, den Kopf zur Seite geneigt. »Habe ich das nicht schon mal irgendwo gesehen?«
Mein Herz bleibt stehen. Falls Flora darin eine Kopie von Audreys Kleid erkennen sollte, wäre ich gezwungen, ihr alles zu erklären. Flora runzelt nachdenklich die Stirn. Ich wappne mich. Alles dreht sich.
»Ach, das muss wohl in einem Modemagazin oder so gewesen sein. Egal, Pam wird es dir mit der Nagelschere vom Körper schneiden. Du siehst darin aus wie ein Filmstar, Margot.« Sie lacht. »Ich kann gar nicht recht glauben, dass du das bist.«
Ich atme lange aus, ohne dass mir zuvor bewusst gewesen wäre, dass ich den Atem angehalten hatte, und das Oberteil des Kleides lockert sich.
»Ach, bevor ich’s vergesse, hier ist das gute Stück, klar und ehrlich von dir gewonnen.« Flora stellt den Briefbeschwerer auf die Kommode. »Auch wenn es eigentlich nicht an mir ist, ihn zu verschenken, weil er mir nicht wirklich gehört.«
»Oder an mir, ihn Dot weiterzuschenken.«
»Es geht ja nur ums Prinzip. Ich kaufe dir was Schönes in Paris, versprochen. Hier.« Flora zupft mir den Bubikragen des Kleides mit denselben leichten, heißen Fingern zurecht, die auch Harrys sommersprossigen Rücken gestreichelt und sich in sein sandiges Haar vergraben haben. Es ist das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass Flora mich berührt. Es fühlt sich schön an.
»Wir feiern morgen eine Party«, sagt sie umgänglich. »Bei den Steinen. Nur wir sechs. Ein Lebewohl an den Sommer.« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Wenn es nach Harry geht, wird es eine wilde Party.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sybil da auch ein Wörtchen mitzureden hat.«
Flora grinst und bauscht die Falten des Kleides mit den Fingern. »Sybil wird morgen Abend nicht hier sein.«
Ich fange wieder an, das Kleid raschelnd meine Waden umspielen zu lassen, schaue nach unten und betrachte es bewundernd. »Sie hat es gerade mal bis zum Hutmacher geschafft, Flora.«
»Ich habe einen Plan.« Flora sieht aus wie Ma, wenn sie mal wieder eine ihrer verrückten Ideen hat, und plötzlich fehlt mir Ma geradezu körperlich, als würde sich in mir etwas krümmen. »Ein Sommernachtstraum«, sagt Flora verschmitzt. »Es wird gerade in der Stadt aufgeführt, hat Harry mir gesagt. Sybil wird es lieben. Und Perry wird keine Einwände haben. Um die Ecke ist ein Hotel, ziemlich nobel, mit Portier und allem.« Sie beugt sich zu meinem Ohr. »Vielleicht kommt Perry zu seiner ersten Nummer seit Jahren.«
Das Wort »Nummer« ist ein Schock, es klingt so flapsig, so schamlos, so überhaupt nicht nach Flora, dass ich mich frage, wie weit Flora und Harry schon gegangen sind. Erst vor ein paar Tagen gestand Flora Pam – die es mir natürlich prompt weitererzählte – , dass sie im Gartenhäuschen schon »alles, bis auf das« gemacht haben. (»Selbstverständlich eine heftige Übertreibung«, sagte Pam verächtlich. »Wie soll das denn gehen? Da drin gibt es ja nicht mal ein Bett.«)
»Du bist die Einzige, die Sybil überzeugen kann, Margot.« Flora klimpert mit ihren langen Wimpern. Plötzlich verspüre ich den nicht gerade schwesterlichen Drang, sie ihr alle einzeln herauszureißen wie die Beine einer Spinne. »Bitte versuch es, Margot. Ich brauch ein Fest, bevor ich nach Paris abreise.«
Ich bin mir nicht sicher, ob das Floras Code dafür ist, noch einmal »alles außer das« zu machen, oder für einen Heiratsantrag. Vielleicht beides. Ich will es auch gar nicht wissen. Der Gedanke, dass sie und Harry im Sonnenuntergang bei den Steinen herumknutschen, ist schon quälend genug.
»Was ist denn los? Du machst mal wieder dein Seltsame-Margot-Gesicht.«
»Nenn mich nicht so«, blaffe ich sie an. »Ich will nicht mehr seltsam genannt werden, okay?«
Sie hebt beschwichtigend die Hände. »Schon gut, okay.«
»Und ich komme nicht auf die Party.«
Flora macht ein langes Gesicht. »Aber … aber du könntest dein schönes Kleid anziehen. Du wirst die Ballkönigin sein. Und es ist das letzte Wochenende des Sommers. Dann war’s das, Margot.«
Ich setze mich auf die Bettkante und schiebe das Kleid zwischen meinen Knien zusammen. Der irritierende Geruch von gebratenem Speck dringt unter meiner Zimmertür hindurch. »Ich kann nicht«, murmle ich, ohne erklären zu können, warum.
»Aber ich brauche dich dort.«
»Du brauchst niemanden, Flora. Du kommst schon klar. Dir fällt doch alles in den Schoß. Das war schon immer so.«
Sie sieht verletzt aus. »Glaubst du das wirklich?«
Stille macht sich breit. Ein Efeublatt streift das Fenster. Und dann muss ich daran denken, wie Perry gesagt hat, dass er alles dafür gäbe, noch einen Sommertag mit seinem Bruder zu verbringen, und etwas in mir wird milder.
Flora lässt sich neben mir nieder und drückt ihr Bein gegen meins. »Ich brauche auch deinen Rat wegen Harry.«
»Harry?« Meine Stimme klingt schrill, gepresst. »Da kannst du ja gleich Moppet fragen. Ich weiß nichts von der Liebe.«
»Na ja, du machst dir viele Gedanken, und du bist tiefsinniger als ich und Pam, was nicht viel heißt, ich weiß.« Sie beäugt mich neugierig. Ich hoffe, mein Gesicht verrät nicht zu viel. »Und Harry respektiert dich.«
Ich schließe für einen Moment die Augen, gerate innerlich ins Taumeln. Ich will nicht respektiert werden – der Dorfpfarrer wird respektiert! Ich will gepackt, geküsst und lebendig verschlungen werden wie Flora. Aber dennoch frage ich: »Welchen Rat brauchst du?« Ich kann nicht anders.
Flora knabbert an ihrer Unterlippe. Sie rutscht unruhig auf dem Bett hin und her. »Ich … ich wünschte mir einfach nur, Perry hätte mir nicht gesagt, dass Harry so ein guter Fang ist, das ist alles«, stottert sie. »Damit ich auf die Authentizität meiner Gefühle vertrauen könnte.«
»Authentizität?«, wiederhole ich erstaunt.
»Ich weiß, für deine dumme Schwester ist das ein großes Wort.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sage ich, auch wenn wir beide wissen, dass, was ich meinte, schon in diese Richtung ging.
»Ich will bloß nicht das Leben führen, das Ma sich für sich selbst gewünscht hätte, das ist alles, Margot«, sagt sie mit überraschender Heftigkeit. »Der reiche Ehemann, das große Anwesen …«
So habe ich Flora noch nie zuvor reden gehört. »Echt? Was willst du dann?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich will. Vielleicht ist es die Hitze.« Flora schiebt sich eine Locke aus dem Gesicht. »Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, wie sich Kälte anfühlt, du? Oder Regen. Ich habe das Gefühl, als wäre es schon immer Sommer gewesen. Mein Gehirn arbeitet nicht mehr. Und es wird von diesen … diesen verdammten Fragen heimgesucht.«
»Ach herrje.«
Sie lacht. Einen Moment schweigen wir, betrachten uns gegenseitig. »Tom hat mich gefragt, was ich mit meinem Leben anfangen will.«
»Tom?«
»Er ist anders, als es scheint, weißt du, Margot, nicht so abweisend und einsilbig. So ist er wirklich nicht, nicht, wenn er einmal aufgetaut ist. Dann ist er eigentlich ganz großartig.«
Mir fällt auf, dass Flora über Harry nie so gesprochen hat. Ihr Lächeln war nie so offen, so unkontrolliert.
»Keiner hat mir je diese Frage gestellt«, sagt sie. »Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, sie selbst zu stellen.«
»Und was war deine Antwort?« Die Zuneigung, die mich plötzlich für Flora überkommt, ist verwirrend, da sie meine Sehnsucht nach Harry noch illoyaler macht. »Auf Toms Frage?«
Sie bedeckt ihren Mund mit den Händen, lacht. »Amerika! Es platzte einfach aus mir heraus. Ich sagte: ›Nach Amerika gehen‹, und wusste gar nicht genau, warum. Bloß irgendwohin, wo ich genauso sein könnte, wie ich will, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie das ist.« Sie schüttelt den Kopf, verblüfft über diese merkwürdige, unerklärliche Neuordnung ihrer selbst. »Das ist vollkommen verrückt, ganz klar.«
Ich versuche, mir vorzustellen, wie sich Floras Hand von der glänzenden Reling eines Schiffes löst und Cornton Hall zum Abschied zuwinkt. Aber es gelingt mir nicht. Floras Schicksal schien immer so festgelegt, eine Geschichte, die auf ein unausweichliches Ende zuläuft.
»Versprich mir, dass du kommen wirst.«
»Nach Amerika?«
»Zur Party bei den Steinen, Dummerchen.« Sie ergreift meine Hände, zieht mich vom Bett hoch und lässt ihren Blick noch einmal bewundernd über mein Kleid schweifen. »Sieh dich nur an. Ich sag dir, Margot, wenn du in diesem Kleid zu der Party kommst, dann ist alles möglich.«