Home Place

1937

Rachel Cazalet wachte immer früh auf, aber im Sommer, auf dem Land, erwachte sie zum Morgenkonzert der Vögel. In der danach einsetzenden Stille schenkte sie sich aus der Thermosflasche neben ihrem Bett eine Tasse Tee ein, aß einen Butterkeks und las ein weiteres Kapitel von Die Flamme, ein Roman, der ihrer Ansicht nach von allzu großer Intensität, aber gut geschrieben war. Wenn dann das hellgraue Licht in den Raum kroch (sie schlief bei offenen Vorhängen, um möglichst viel frische Luft zu bekommen) und der Schein ihrer Nachttischlampe fahlgelb, fast schmutzig wirkte, schaltete sie sie aus, stand auf, zog ihren wolligen Morgenrock und ihre formlosen Pantoffeln an (höchst seltsam, dass sie zu guter Letzt unweigerlich die Form von dicken Bohnen annahmen) und schlich die stillen breiten Korridore entlang und die drei Stufen zum Badezimmer hinab. Die Wände des nach Norden liegenden Raums waren mit dunkelgrün gestrichenen Pechkieferbrettern mit Nut und Feder bedeckt. Selbst im Sommer herrschte hier eine Eiseskälte. Insgesamt wirkte das Zimmer wie die Stallbox eines privilegierten Pferdes. Die Wanne mit ihren gusseisernen Löwenfüßen hatte einen grünspanfarbenen Fleck von dem Wasser, das aus den uralten Armaturen aus Messing und Porzellan mit ihren meist lecken Dichtungen tropfte. Rachel ließ sich ein Bad einlaufen, legte die Korkmatte an ihren Platz und verriegelte die Tür. Die Matte hatte sich aufgeworfen und kippelte, wenn man sich daraufstellte. Trotzdem, es sollte als Badezimmer der Kinder dienen, und die störten sich nicht an derlei Dingen. Die Duchy sagte, die Matte sei noch vollkommen in Ordnung. Die Duchy vertrat auch die Ansicht, dass man nicht zum Vergnügen badete: Das Wasser sollte lauwarm sein – »Viel besser für dich, mein Schatz« –, die Seife sollte eine Karbolseife von Lifebuoy sein, das Toilettenpapier ein pergamentenes von Izal, »Viel hygienischer, mein Schatz«. Mit achtunddreißig glaubte Rachel, unangemessen heiß baden und ein Stück transparenter Pears-Seife verwenden zu dürfen, das sie in ihrem Kulturbeutel aufbewahrte. Die volle Wucht der Gesundheits- und Hygienevorschriften mussten die Kinder ertragen. Wie wunderbar, dass sie alle kamen. Das bedeutete, dass es mehr als genug zu tun gab. Sie liebte ihre drei Brüder gleichermaßen, aber aus unterschiedlichen Gründen: Hugh, weil der Krieg ihn derart böse zugerichtet hatte und er das tapfer und klaglos ertrug, Edward, weil er so unglaublich gut aussah – wie der Brig in jüngeren Jahren, dachte sie –, und Rupert, weil er so wunderschön malen konnte, weil er nach Isobels Tod eine so tragische Zeit durchlebt hatte und weil er einen großartigen Vater abgab und sich Zoë gegenüber so liebevoll verhielt, die … sehr jung war, und vor allem, weil er sie, Rachel, so oft zum Lachen brachte. Aber natürlich liebte sie alle drei gleichermaßen, genauso wie sie – natürlich – keines der Kinder, die jetzt so rasend schnell heranwuchsen, bevorzugte. Am meisten hatte sie sie geliebt, als sie Babys waren, aber auch als Kinder waren sie nett und sagten oft die verrücktesten Sachen. Und mit ihren Schwägerinnen verstand sie sich ebenfalls gut, obwohl sie Zoë vielleicht noch nicht genügend kennengelernt hatte. Es musste schwer für sie sein, so spät hineinzuheiraten in eine große, eng verbundene Familie mit ganz eigenen Sitten und Gebräuchen und Scherzen, die man ihr erst erklären musste. Sie nahm sich vor, zu Zoë besonders nett zu sein – und auch zu Clary, die allmählich sehr pummelig wurde, die Arme, aber sie hatte wunderhübsche Augen.

Mittlerweile hatte sie ihren Strumpfhalter, ihr Unterhemd, ihren Unterrock, ihren Doublejersey-Schlüpfer, die kaffeebraunen Kammgarnstrümpfe mit dem Lochmuster und ihre braunen Halbschuhe angezogen, die Tonbridge immer polierte, bis sie glänzten wie ein schwarzbraunes Sahnebonbon. An diesem Tag entschied sie sich für das blaue Jerseykostüm (Blau war mit Abstand ihre Lieblingsfarbe) und dazu ihre neue Bluse aus Macclesfield-Seide – blau mit einem Streifen in dunklerem Blau. Sie bürstete sich das Haar aus und band es zu einem lockeren Knoten, den sie ohne Blick in den Spiegel im Nacken am Hinterkopf feststeckte. Sie legte die goldene Armbanduhr an, die der Brig ihr überreicht hatte, als sie einundzwanzig wurde, und steckte die Granatbrosche an, die S. ihr bald nach ihrer ersten Begegnung zum Geburtstag geschenkt hatte. Die trug sie jeden Tag – keinen anderen Schmuck. Widerstrebend sah sie schließlich kurz in den Spiegel. Sie hatte eine schöne Haut, und ihre Augen funkelten vor Intelligenz und Humor. Insgesamt war ihr ansprechendes, aber durchschnittliches Gesicht – ein wenig wie das eines bleichen Schimpansen, sagte sie bisweilen – unbefangen und frei von jeder Eitelkeit. Sie steckte ein kleines weißes Taschentuch in die Goldkette ihrer Armbanduhr, griff nach den Listen, die sie am Vortag zusammengestellt hatte, und ging zum Frühstück nach unten.

Ursprünglich war das Cottage gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts als kleines Farmhaus im typischen Sussex-Stil erbaut worden. Die untere Hälfte der Fassade bestand aus Fachwerk, der erste Stock war mit roséfarbenen überlappenden Holzschindeln verkleidet. Von diesem Bau waren lediglich zwei kleine Räume im Erdgeschoss erhalten, zwischen denen eine schmale, steile Treppe direkt gegenüber der Haustür zu den drei jeweils durch eine Abstellkammer verbundenen Schlafzimmern hinaufführte. Irgendwann einmal hatte es einem gewissen Mr. Home gehört und den schlichten Namen Home’s Place bekommen. Im neunzehnten Jahrhundert hatte man es zu einem Landsitz umgestaltet, hatte rechts und links jeweils einen großen Flügel angebaut, sodass das Anwesen aus drei Seiten eines Quadrats bestand, und dabei honiggelben Stein verwendet, große Schiebefenster eingesetzt und das Dach mit glattem blauem Schiefer gedeckt. Einer der Flügel beherbergte das Esszimmer, den Salon sowie einen dritten Raum, der unterschiedlich genutzt wurde – gegenwärtig diente er als Billardzimmer. Im anderen befanden sich die Küche, das Dienstboten-Esszimmer, die Spülküche, der Anrichteraum, Speise- und Vorratskammern sowie der Weinkeller. Im Obergeschoss hatte der Anbau Platz für acht weitere Schlafräume geschaffen. In viktorianischer Zeit hatte man die nördliche Seite des Quadrats mit einer Reihe kleiner, dunkler Zimmer geschlossen, die unten als Dienstbotenunterkünfte, Stiefelkammer, Waffenkammer, als Zimmer für den gewaltigen und lauten Boiler, für ein zusätzliches Badezimmer und ein WC genutzt wurden und oben für Kinderzimmer sowie das bereits erwähnte Bad. Das Ergebnis dieser Abfolge architektonischer Bemühungen war ein verschachteltes Durcheinander mit einer Halle als Mittelpunkt. Von dort führte eine Treppe zu einer offenen Galerie hinauf, von der die Schlafzimmer abgingen. Dieses Atrium, dessen Decke bis knapp unters Dach reichte, erhielt Licht durch zwei Glaskuppeln, die bei schlechtem Wetter undicht wurden, was das Aufstellen strategisch platzierter Eimer und Fressnäpfe erforderlich machte. Im Sommer war das Haus kalt, den Rest des Jahres eisig. Im Erdgeschoss wurde es mit Holz- und Kohlenfeuern beheizt, und einige Schlafräume verfügten über einen Kamin, doch die erachtete die Duchy als überflüssig, außer für Kranke. Es gab zwei Badezimmer, eines im ersten Stock für die Frauen und Kinder, eines im Erdgeschoss für die Männer (und einmal die Woche für das Personal). Die Bediensteten hatten ein eigenes WC, der restliche Haushalt teilte sich die zwei neben den Badezimmern. Heißes Wasser für die Schlafräume holten die Dienstmädchen jeden Morgen von ihrem Wasserhahn im ersten Stock und verteilten es in dampfenden Messingkannen in alle Räume.

Das Frühstück fand in dem kleinen Wohnzimmer im Cottage-Teil des Anwesens statt. Die Duchy folgte bei der Nutzung von Salon und Speisezimmer viktorianischen Gepflogenheiten – Letzteres wurde nur zum Dinner verwendet und Ersterer nie, außer es kam Besuch. Jetzt saßen Rachels Eltern an einem Ausklapptisch, die Duchy brühte gerade Tee aus einem Kessel, den sie auf einem Spiritusbrenner erhitzte. William Cazalet saß vor einem Teller mit Eiern und Speck, die Morning Post vor sich gegen das Marmeladenglas gelehnt. Er trug Reitkleidung, zu der eine zitronengelbe Weste und eine breite, dunkle Seidenkrawatte mit einer Perlennadel gehörten. Zum Lesen benutzte er ein Monokel und kniff das andere Auge so fest zusammen, dass die buschige weiße Braue beinahe seine gerötete Wange berührte. Die Duchy war ganz ähnlich wie ihre Tochter gekleidet, nur hing bei ihr an einer Kette ein Kreuz aus Perlmutt und Saphiren über die Seidenbluse. Sie füllte die silberne Teekanne und nahm den Kuss ihrer Tochter entgegen. Ein Hauch von Veilchenduft stieg auf.

»Guten Morgen, mein Schatz. Ich fürchte, allen steht ein heißer Tag für die Fahrt bevor.«

Rachel gab ihrem Vater einen Kuss auf den Scheitel und setzte sich an ihren Platz, wo sie auf den ersten Blick sah, dass ein Brief von S. gekommen war.

»Klingelst du bitte nach mehr Toast?«

»Frechheit!«, knurrte William. Er sagte nicht, was eine Frechheit war, und weder seine Frau noch seine Tochter fragten nach; sie wussten, dass sie dann nur zu hören bekämen, darüber sollten sie sich nun wirklich nicht ihr hübsches Köpfchen zerbrechen. Er betrachtete seine Zeitung wie einen widerständigen Bekannten, bei dem er (zum Glück) immer das letzte Wort behalten konnte.

Rachel nahm ihre Tasse Tee, beschloss, sich die Lektüre ihres Briefs für später aufzuheben, und steckte ihn in die Tasche. Eileen, die in London ihr Hausmädchen war, kam mit dem Toast herein. »Eileen, können Sie Tonbridge sagen, dass er mich um zehn Uhr nach Battle fährt und dass ich Mrs. Cripps in einer halben Stunde sprechen möchte?«

»Sehr wohl, Ma’am.«

»Duchy, meine Liebe, soll nicht ich Battle für dich übernehmen?«

Die Duchy kratzte gerade etwas Butter auf ihren Toast und sah auf. »Nein, mein Schatz, danke. Ich möchte mit Crowhurst über sein Lamm sprechen. Außerdem muss ich zu Till’s: Ich brauche einen neuen Gartenkorb und eine Gartenschere. Ich überlasse dir die Schlafzimmer. Hast du einen Plan gemacht?«

Rachel griff nach ihrer Liste. »Ich dachte, Hugh und Sybil kommen ins blaue Zimmer, Edward und Villy ins Päonienzimmer, Zoë und Rupert ins indische Zimmer, Nanny und Lydia ins Kinderschlafzimmer, die beiden Jungen in das alte Kindertageszimmer, Louise und Polly ins rosa Zimmer und Ellen und Neville in das hintere Gästezimmer …«

Die Duchy überlegte einen Moment. »Und Clarissa?«, fragte sie dann.

»Ach, du meine Güte! Für sie müssen wir wohl ein Extrabett ins rosa Zimmer stellen.«

»Ich glaube, das wird ihr gefallen. Sie möchte doch sicher mit den älteren Mädchen zusammen schlafen. Will, soll ich mit Tonbridge wegen der Fahrt zum Bahnhof sprechen?«

»Ja, Kitty, Schatz, red mit ihm. Ich habe eine Besprechung mit Sampson.«

»Ich denke, wir werden heute zeitig zu Mittag essen, damit die Dienstmädchen abräumen und Tee in der Halle servieren können. Wäre dir das recht?«

»Was immer du meinst.« Er stand auf und stapfte davon, um seine Pfeife anzuzünden und seine Zeitung zu Ende zu lesen.

»Was wird er machen, wenn die ganzen Bauarbeiten hier fertig sind?«

Die Duchy blickte zu ihrer Tochter. »Er wird nie fertig«, antwortete sie nur. »Es wird immer etwas geben. Wenn du Zeit hast, könntest du vielleicht die Himbeeren pflücken, aber überanstreng dich nicht.«

»Du dich auch nicht.«

Aber angesichts der siebzehn Leute, die sie erwarteten, gab es wirklich eine Menge zu tun. Die Duchy verbrachte eine geschäftsmäßige halbe Stunde mit Mrs. Cripps. Sie saß auf dem Stuhl, der für sie von dem großen, blank gescheuerten Küchentisch herausgezogen worden war, die massige Mrs. Cripps lehnte sich mit verschränkten Armen an den Küchenherd. Während sie die Speisepläne für das kommende Wochenende besprachen, kam Billy, der Gärtnerjunge, mit zwei Körben voll Erbsen, dicken Bohnen und Römersalatköpfen herein. Er stellte sie auf den Boden der Spülküche und starrte dann wortlos Mrs. Cripps und die Duchy an.

»Entschuldigen Sie, Ma’am. Worauf wartest du noch, Billy?«

»Mr. McAlpine hat gesagt, ich soll die Körbe für die Kartoffeln zurückbringen.« Er flüsterte, weil seine Stimme quiekste, was ihm peinlich war. Außerdem starrte er in letzter Zeit immer die Damen an.

»Dottie!« Mrs. Cripps schrie, so dezent es ihr möglich war. In der Abwesenheit von Madam brüllte sie. »Dottie! Mädel, wo bleibst du?«

»Sie ist hinten.« Das bedeutete, sie war auf der Toilette, wie Mrs. Cripps genau wusste.

»Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte sie wieder und verschwand in der Spülküche.

Nachdem sie die Körbe geleert und Billy unwirsch zurückgegeben hatte mit dem Auftrag, außer Kartoffeln auch Tomaten mitzubringen, widmete sie sich wieder den zu planenden Mahlzeiten. Die Duchy begutachtete die Überreste des Suppenhuhns, von denen Mrs. Cripps meinte, sie reichten auch gestreckt nicht für Frikadellen zum Lunch, während Madam befand, mit einem zusätzlichen Ei und mehr Semmelbröseln könnten sie sehr wohl genügen. Sie fochten ihren gewohnten Kampf über das Käsesoufflé aus. Mrs. Cripps war zwar als einfache Köchin angestellt worden, hatte aber vor Kurzem die Kunst des Soufflés gemeistert, das sie nun zu jeder anspruchsvolleren Gelegenheit zubereiten wollte. Die Duchy hingegen missbilligte zerlassenen Käse am Abend. Zu guter Letzt einigten sie sich auf ein Schokoladensoufflé zum Dessert, denn abends würden sie im Esszimmer lediglich zu neunt sein. »Morgen zum Lunch sind wir elf, denn dann sitzen zwei der Kinder bei uns am Tisch, und das heißt acht in der Halle.«

Und zehn in der Küche, dachte Mrs. Cripps.

»Und der Lachs für heute Abend? Wie hält er sich bei diesem Wetter?« (William hatte von einem Freund im Club einen frischen Lachs geschenkt bekommen.)

»Es wird ihn kalt geben müssen, Ma’am. Um auf Nummer sicher zu gehen, will ich ihn heute Vormittag pochieren.«

»Sehr gut.«

»Und ich habe Gurken auf die Liste geschrieben, Ma’am. McAlpine sagt, dass unsere noch nicht so weit sind.«

»Wie lästig! Nun, Mrs. Cripps, ich will Sie nicht länger aufhalten, ich weiß, dass Sie viel zu tun haben. Ich bin mir sicher, dass alles zufriedenstellend sein wird.«

Damit ging sie und ließ Mrs. Cripps zurück, die nun vier Pfund Teig machen, den Lachs pochieren, zwei gewaltige Reisaufläufe zubereiten und in den Ofen schieben, einen Sandkuchen und eine Ladung Haferkekse zusammenrühren und das Hühnerfleisch für die Frikadellen ablösen und zerkleinern musste. Dottie, die auftauchte, sobald sie hörte, wie die Duchy verschwand, wurde ordentlich geschimpft und beauftragt, Erbsen zu palen, zehn Pfund Kartoffeln zu schrappen und das gewaltige Milchfass für die zehn Liter frischer Milch zu reinigen, die von der benachbarten Farm angeliefert würden. »Und spül es ja gut mit kochendem Wasser aus, sonst wird uns die Milch sauer.«

Oben bezogen die Dienstmädchen Bertha und Peggy die Betten – die beiden Himmelbetten für Mr. und Mrs. Hugh und Mr. und Mrs. Edward, das etwas schmalere Doppelbett für Mr. und Mrs. Rupert, die fünf kleinen Eisenbetten mit den dünnen, durchgelegenen Matratzen für die älteren Kinder, die Betten der Kindermädchen, das große Kinderbett für Neville und das Feldbett für Lydia. Im rosa Zimmer stieß Rachel zu ihnen mit der Information, für Miss Clarissa würde ein weiteres Feldbett benötigt. Dann verteilte sie die für jeden Raum erforderliche Anzahl Bade- und Handtücher und klärte die Frage, wie viele Nachttöpfe benötigt würden. »Ich denke, zwei pro Kinderzimmer und je einer für die anderen Zimmer. Haben wir genügend?«, fragte sie mit einem Lächeln.

»Nur, wenn wir den nehmen, der Madam nicht gefällt.«

»Den können Sie zu Mr. Rupert ins Zimmer stellen. Geben Sie ihn nicht den Kindern, Bertha.«

Im Kinderspielzimmer und im rosa Zimmer gab es einen Linoleumboden und karierte Vorhänge, genäht von der Duchy an verregneten Nachmittagen auf ihrer uralten Singer-Maschine. Die Möbel waren aus weiß gestrichenem Holz, Licht warf eine einzelne Birne mit weißem Glasschirm an der Decke. Die Zimmer waren für Kinder bestimmt. Die Räume für ihre Brüder und Schwägerinnen waren besser ausgestattet. Dort lagen Sisalteppiche, umgeben von fleckigem, poliertem Holz, und im Päonienzimmer ein türkischer Teppich auf dem gleichen Holzboden. Es gab Mahagonimöbel, Kommoden mit Flügelspiegeln, weiße Häkeldeckchen und marmorne Waschtische mit passenden Krügen und Schüsseln aus Porzellan. Im blauen Zimmer stand zudem eine Chaiselongue. Das hatte Rachel Hugh und Sybil zugedacht für den Fall, dass Sybil die Beine hochlegen wollte. Die Vorstellung eines neuen Kindes begeisterte sie über die Maßen. Sie liebte Babys abgöttisch, vor allem die Neugeborenen. Die rudernden Bewegungen ihrer Hände gefielen ihr so gut, die Art, wie sie wählerisch die kirschroten Lippen schürzten und versuchten, einen aus ihren schiefergrauen Augen anzusehen, um dann abweisend dreinzublicken. Sie waren allesamt kleine Schätzchen. Rachel war Ehrensekretärin einer Kinderherberge, wie sie genannt wurde; eine Einrichtung, die sich um kurzzeitig oder dauerhaft unerwünschte Kleinkinder bis zu fünf Jahren kümmerte. Wenn Eltern, meist Musiker oder Theaterleute, auf Tournee gingen, konnten sie ihre kleinen Kinder zu geringen Kosten dort unterbringen. Die Findelkinder, die einfach auftauchten, in Decken oder auch in Zeitungspapier gewickelt in einem Karton lagen, wurden kostenlos versorgt; die Herberge war eine gemeinnützige Einrichtung mit einer fest angestellten Kinderschwester und einer Vorsteherin. Junge Frauen erhielten dort eine Ausbildung zum Kindermädchen, wodurch die Kinderherberge stets über Mitarbeiterinnen verfügte und gleichzeitig seine bescheidenen Finanzmittel aufstockte. Rachel gefiel diese Arbeit sehr, sie hielt sie für sinnvoll und wollte nichts auf der Welt lieber machen. Und da sie nie eigene Kinder haben würde, war das für sie eine Möglichkeit, mit einem konstanten Nachschub von Babys versorgt zu werden, die alle nach Liebe und Aufmerksamkeit verlangten. Zu Rachels Arbeit gehörte auch, Adoptiveltern für die unerwünschten Kinder zu suchen, und es war schrecklich mitanzusehen, wie ihre Chancen mit zunehmendem Alter sanken. Manchmal war das sehr traurig.

Sie machte ihren Kontrollgang durch die Zimmer der Erwachsenen, überprüfte, ob in den Schubladen auch sauberes Schrankpapier lag, ob die mit Patchwork bezogenen Keksdosen auf den Nachttischen mit Butterkeksen gefüllt, die Flaschen Malvern Water voll und die Schränke mit einer vertretbaren Anzahl Kleiderbügel bestückt waren – lauter Dinge, von denen sie der Duchy bei ihrer Rückkehr aus Battle berichten konnte, dass sie erledigt seien, damit ihre Mutter sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen brauchte. Die Kekse waren weich, bröselig und wenig appetitlich geworden. Sie sammelte die Dosen ein und brachte sie nach unten zur Speisekammer, damit sie frisch aufgefüllt würden.

Mrs. Cripps balancierte auf der Handfläche ihrer Linken eine große Pastetenform, während sie mit einem schwarzen Messer den überstehenden Teigrand wegschnitt. Als Rachel ihr die Nachricht für Eileen übermittelte, meinte sie, sie werde die alten Kekse den Mädchen vormittags zur Teepause vorsetzen. In der Küche war es sehr heiß. Mrs. Cripps’ ungewöhnlicher Teint – ein grünliches Gelb – glänzte vor Schweiß, ihr glattes, fettiges schwarzes Haar entkam strähnenweise den übergroßen Haarklemmen, und so, wie sie über ihre lange, spitze Nase hinweg aus verengten Augen auf die Pastete blickte, erinnerte sie noch mehr als sonst an eine großmächtige Hexe. Auf dem Tisch lagen, frisch geknetet, kreisrunde Teigballen, doch die würstchenfarbenen Finger der Köchin waren jenseits der Knöchel nicht bemehlt – sie hatte das, was man eine leichte Hand nannte. Beim Anblick der Pastete fielen Rachel die Himbeeren ein, und sie bat um ein Behältnis.

»Der Obstkorb steht in der Speisekammer, Miss. Ich habe Dottie nach Petersilie in den Garten geschickt.« Damit wollte sie freundlich zu verstehen geben, dass sie keine Lust hatte, den Korb zu holen, aber sehr wohl wusste, dass Miss Rachel das eigentlich auch nicht tun sollte.

»Ich hole ihn«, erbot sich Rachel wie erwartet sofort.

In der Speisekammer war es kühl und recht dunkel, zwei schwarz verklebte Fliegenfallen hingen vor dem Fenster mit seinem feinmaschigen Zinkgitter herab. Auf der langen Marmorplatte standen Lebensmittel in allen erdenklichen Stadien der Zubereitung: die Reste eines Bratens unter einer Musselinhaube, Scheiben von Reisauflauf und Mandelsulz auf Küchentellern, eine Kristallschale Milch zum Stocken, alte, krakelierte, verfärbte Krüge voll Brühen und Soßen, gekochte Dörrpflaumen in einer Puddingschüssel und, an der kältesten Stelle direkt unter dem Fenster, der riesige silbrige Lachs, das Auge stumpf vom Pochieren, der wie ein gelandeter Zeppelin dalag. Der Obstkorb stand auf dem Schieferboden, das Auslegepapier auf seinem Boden war lilarot von Fruchtsaft.

Sobald sie die Haustür öffnete und in den ehemaligen Cottage-Garten trat, überfielen sie die Hitze, das Summen der Bienen und das Brummen des Rasenmähers und der Duft des Geißblatts, des Lavendels und der namenlosen altmodischen Kletterrose mit der cremehellen Pfirsichfarbe, die sich üppig um das Vordach rankte. Im Steingarten der Duchy, ihrem neuesten Stolz, blühten flammengleich Blumen in kleinen Polstern und Kissen. Rachel wandte sich nach rechts und folgte dem Pfad ums Haus. Im Westen zog sich eine steile Böschung hin und endete im Tennisplatz, den McAlpine gerade mähte. Er trug seinen Strohhut mit dem schwarzen Band, eine Hose, deren runde Beine an Regenrohre erinnerten, und trotz der Hitze sein Jackett. Das tat er nur, weil er sich in Sichtweite des Hauses aufhielt, im Gemüsegarten zog er es aus. Sobald er sie sah, hielt er mit dem Mähen inne für den Fall, dass sie ihm etwas zu sagen hatte. »Herrlicher Tag«, rief sie ihm zu, und er tippte sich in Erwiderung an die Stirn. Herrlich für manche, dachte er. Rasen mochte er, aber ein Tennisplatz war innerhalb kürzester Zeit verschandelt, so, wie alle darauf herumrannten. Und Billy konnte er den Mäher nicht überlassen – der Junge erstarrte, sobald er das Gerät auch nur sah –, aber gleichzeitig dachte er besorgt an seinen Lauch und ärgerte sich über die Zeit, die er hier hin- und hermarschieren und Rasenschnitt in seine Schubkarre füllen musste. Gegen Miss Rachel aber hatte er nichts einzuwenden, es störte ihn auch nicht, wenn sie seine Himbeeren pflückte, was sie ihrem Korb nach eindeutig vorhatte. Sie ließ den Obstkäfig nie offen stehen, im Gegensatz zu manch anderen, die er kannte. Sie war eine nette, unkomplizierte Dame, wenn auch zu dünn. Sie hätte heiraten sollen, andererseits war sie vielleicht nicht der Typ dafür. Er sah zur Sonne. Fast Zeit, um sich bei Mrs. Cripps eine gute Tasse Tee zu holen. Die hatte ganz schön Haare auf den Zähnen, das durfte man nie vergessen, aber sie verstand sich auf eine anständige Tasse Tee …

Billy hockte auf dem Pfad zwischen den großen Blumenrabatten und beschnitt unbeholfen die Rasenkanten. Er öffnete die Gartenschere zu weit und ließ sie dann unnötig gewaltsam wieder zusammenschnappen. Jede Stelle musste er mehrmals beschneiden, damit sie ordentlich wurde, andernfalls würde Mr. McAlpine ihm den Marsch blasen. Manchmal erwischte er eine Sode und riss sie aus Versehen mit der Schere heraus, und dann musste er sie zurückstopfen und hoffen, dass es nicht auffallen würde. Mittlerweile hatte er eine Blase bekommen – an seiner rechten Hand war die Haut an einer Stelle völlig aufgescheuert, und hin und wieder leckte er den salzigen Dreck fort.

Er hatte vorgeschlagen, den Rasen zu mähen, aber das war aussichtslos seit dem Tag, als ihm das Ding kaputtgegangen war. Dabei hatte er gar nichts falsch gemacht, der Mäher musste einfach mal gewartet werden, aber er sollte schuld daran sein. Manchmal war die Arbeit schlimmer als die Schule, dabei hatte er geglaubt, nach der Schulzeit würde der Ärger ein Ende haben. Einmal im Monat fuhr er nach Hause, und dann verwöhnte Mum ihn, aber seine Schwestern arbeiteten alle in Stellung, seine Brüder waren viel älter, und Dad wiederholte nur ständig, wie glücklich er sich schätzen müsse, sein Handwerk bei Mr. McAlpine zu lernen. Nach ein paar Stunden wusste er nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte, ihm fehlten seine Freunde, die alle an unterschiedlichen Orten arbeiteten. Früher hatte er immer alles mit der Gruppe unternommen: In der Schule waren sie eine ganze Bande gewesen, die fischen ging oder im Spätsommer für Geld Hopfen pflückte. Hier kannte er niemanden, mit dem er etwas unternehmen konnte. Es gab zwar Dottie, aber sie war ein Mädel, und deswegen wusste er nie, wo er bei ihr stand, und sie behandelte ihn wie einen Jungen, wo er doch Männerarbeit verrichtete – oder fast –, und auf jeden Fall verdiente er sich seinen Lebensunterhalt, genau wie sie. Manchmal überlegte er sich, ob er nicht Seemann oder Busfahrer werden sollte – der Bus wäre besser, weil Damen mit dem Bus fuhren. Nein, er würde nicht fahren, er würde Schaffner werden, dann könnte er ihre Beine sehen …

»Schwer bei der Arbeit, Billy, wie ich sehe.«

»Ja, Ma’am.« Er lutschte an der Blase, was ihr nicht entging.

»Das sieht ja hässlich aus. Komm nach deinem Abendessen zu mir, dann verarzte ich dich mit einem Pflaster.« Als er nicht nur verlegen, sondern auch ängstlich dreinblickte, fügte sie hinzu: »Ellen kann dir sagen, wo ich bin«, und ging weiter. Die war wirklich in Ordnung, dachte er, obwohl sie ganz dünne Beine mit Knubbelknien hatte, aber schließlich war sie so alt wie seine Mum. Eine richtig klasse Dame.

***

William Cazalet verbrachte den Vormittag auf die Art, die ihm am meisten behagte: Er saß mit der Zeitung in seinem dunklen Arbeitszimmer, das vor schweren Möbeln überquoll (er nahm nicht die geringste Rücksicht darauf, dass der Raum im ehemaligen Cottage die zweite Wohnstube gewesen war) und vertrieb sich die Zeit mit der Sorge, dass das Land vor die Hunde ging. Dieser Bursche Chamberlain schien ihm auch keinen besseren Eindruck zu machen als sein Vorgänger Baldwin. Außerdem verstanden sich offenbar die Deutschen als Einzige auf eine anständige Organisation. Schade, dass George VI. keinen Sohn hatte, aber um das jetzt noch zu beheben, war es wohl mittlerweile zu spät. Und sollte es in Palästina tatsächlich einen Staat geben, dann bezweifelte er, dass genügend Juden dorthin auswandern würden, damit es sich geschäftlich für ihn bemerkbar machte – die Juden waren im Holzhandel seine Hauptkonkurrenten und verstanden sich verdammt gut darauf, auch wenn keiner von ihnen es mit dem Hartholzlager der Cazalets aufnehmen konnte, weder was Qualität noch was Vielfalt betraf. Auf seinem ausladenden Schreibtisch lagen zahlreiche Furniermuster: Lebbekbaum, Narrabaum, Pyinkado, Ebenholz, Walnuss, Ahorn, Lorbeer und Rosenholz. Er hatte die Muster nicht zu Verkaufszwecken mitgenommen, es gefiel ihm einfach, sie um sich zu haben. Oft ließ er sich aus den ersten Schnittstücken vom Furnier eines ganz besonderen Baums, der viele Jahre gelagert hatte, ein Kästchen zimmern. In seinem Arbeitszimmer gab es rund ein Dutzend davon, und noch mehr in London. Abgesehen davon war der Raum mit einem leuchtend rot-blauen türkischen Teppich ausgestattet, einer Büchervitrine, die fast bis unter die Decke reichte, mehreren Schaukästen mit gewaltigen ausgestopften Fischen – es bereitete ihm ungeheures Vergnügen zu erzählen, wie genau er sie gefangen hatte, und zu dem Zweck lud er regelmäßig neue Gäste ein –, und auf dem Fenstersims standen große Töpfe roter Geranien, die unentwegt üppig blühten und dem Raum etwas von seiner Düsterkeit nahmen. An den Wänden hingen in Dreierreihen übereinander Drucke: von der Jagd, von Indien, von Schlachten – nichts als Rauch und scharlachrote Jacken und das Weiße in den Augen sich aufbäumender Pferde. Auf den Stühlen stapelten sich gelesene Zeitungen. Schwere Karaffen halb voll mit Whisky und Port standen mitsamt den entsprechenden Gläsern auf einem Intarsientisch. Eine hinduistische Gottheit – das Geschenk eines Radschas während seiner Zeit in Indien – thronte auf einem Schrank mit flachen Schubladen, in denen er seine Käfersammlung aufbewahrte. Auf seinem Schreibtisch lagen Pläne für den Umbau eines Teils der Stallungen: Im Erdgeschoss sollten zwei Garagen entstehen und darüber eine Wohnung für Tonbridge und seine Familie – die Frau und den kleinen Jungen. So weit fortgeschritten die Arbeiten auch waren, ihm fielen immer wieder neue Verbesserungen ein, und deswegen hatte er Sampson, den Baumeister, einbestellt, den er auf der Baustelle treffen wollte. Eine der vier Uhren schlug die halbe Stunde. Der Brig nahm seine Tweedmütze vom Haken an der Tür und ging langsam zu den Stallungen hinunter. Auf dem Weg überlegte er sich, dass der alte Knabe, den er im Zug kennengelernt hatte … wie hieß er gleich? Irgendetwas mit C, dachte er, aber das würde er herausfinden, sobald sie zum Dinner kamen. Natürlich hatte er Mrs. Sowieso ebenfalls eingeladen. Allerdings konnte er sich nicht entsinnen, ob er Kitty von den beiden Gästen erzählt hatte, und das bedeutete vermutlich, dass er es ihr nicht gesagt hatte. Er musste einen Port raussuchen, der Taylor Jahrgang ’23 wäre genau das Richtige.

Die zwei Stallgebäude standen im rechten Winkel zueinander. Links waren die Stallungen für seine Pferde, rechts die halb umgebauten ehemaligen Stallboxen. Wren striegelte gerade die Fuchsstute Marigold; William hörte das regelmäßig zischende, beruhigende Geräusch, noch ehe er die Tür erreichte. Von Sampson war nichts zu sehen. Als er näher kam, gerieten die Pferde im Stroh in Bewegung. William liebte seine Pferde, jeden Morgen, den Gott gab, ritt er aus, und in London hielt er Whistler, einen großen Grauschimmel mit einer Schulterhöhe von 170 Zentimetern, in einem Tattersall. Jetzt stand Whistler hier im Stall. William runzelte die Stirn.

»Wren! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie ihn rauslassen sollen. Er hat Urlaub.«

»Erst muss ich das Pony einfangen. Das erwische ich nie, wenn ich vorher den anderen rauslasse.«

Fred Wren war ein kleiner Mann, drahtig und zäh, und sah aus, als wäre seine ganze Gestalt zusammengequetscht worden. Als ehemaliger Stalljunge war er Jockey geworden, hinkte aber seit einem bösen Sturz. Fast zwanzig Jahre arbeitete er mittlerweile bei William. Einmal in der Woche betrank er sich, und alle fragten sich, wie er dann die Leiter in den Heuschober, seine Schlafstatt, hinauf bewältigte. Man wusste von dieser Gewohnheit, tolerierte sie aber, weil er in jeder anderen Hinsicht ein herausragender Pferdeknecht war.

»Mrs. Edward kommt, stimmt das?«

»Heute. Alle kommen.«

»Das habe ich gehört. Der Schwarzbraune für Mrs. Edward, das wäre der Richtige. Sie macht ’ne gute Figur im Sattel, das muss man ihr lassen. Das kann man nicht von vielen behaupten.«

»Da haben Sie recht, Wren.« Er tätschelte Marigold und wandte sich zum Gehen.

»Eine Sache noch, Sir. Können Sie den Handwerkern sagen, dass sie ihren Zement wegwaschen sollen? Die verstopfen mir die Rohre.«

»Das mache ich.«

Und sagen Sie ihnen, dass sie abends ihre Leitern wegräumen und meinen Hof nicht wie einen Saustall hinterlassen sollen. Holzspäne, Eimer und mit meinem Wasser aasen sie herum – die Nase voll hab ich von denen, den frechen Kerlen. Gestrichen voll. Als Wren das dachte, sah er seinem entschwindenden Arbeitgeber nach. Aber der alte Mann kannte kein Halten. Als Nächstes würde er die Stallungen abreißen, das würde ihn gar nicht wundern. Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm ganz anders. In seiner Anfangszeit hatten Automobile und derlei noch gar nicht existiert. Mittlerweile gab es zwei davon, scheußliche stinkende Dinger. Wenn Mr. Cazalet auf die Idee kam, noch mehr davon zu sammeln, wo würde er sie dann hinstellen? Nicht in meine Stallungen, dachte Wren beklommen. Er war viel älter, als alle glaubten, das vermutete er zumindest, und er konnte die modernen Zeiten nicht leiden.

Wrens Klagen wegen der Abflussrohre brachten William ins Grübeln. Die neuen Gebäude brauchten ihre eigene Wasserversorgung. Vielleicht sollte er noch einen Brunnen graben. Dann könnten sich der Garten und die Stallungen das Wasser teilen – dann brauchte der Garten nicht mehr das Wasser des Hauses mitzunutzen, und … ja! Gleich nach dem Lunch würde er eine Weile mit der Wünschelrute rausgehen. Er würde auch mit Sampson darüber sprechen, aber der verstand nichts von Brunnen – er würde eher verdursten, als dass er Wasser fand. Beschwingt von der Aussicht auf ein weiteres Projekt, stapfte William zu den Garagen.

***

Tonbridge öffnete Madam den Schlag, und dankbar stieg die Duchy in den Fond des alten Daimler. Nach der Hitze der High Street kam es ihr im Wageninneren recht kühl vor, ein leichter Geruch nach Gebetsbüchern hing in der Luft. Der Kofferraum war voll mit der großen Lebensmittelbestellung, neben ihr auf dem Sitz lagen ihr neuer Gartenkorb und die Gartenschere von Till’s, und auf dem Beifahrersitz stand eine Kiste Malvern Water.

»Jetzt müssen wir nur noch beim Fleischer meine Bestellung abholen, Tonbridge.«

»Sehr wohl, Ma’am.«

Sie lockerte eine Nadel, die sich durch den Hut in ihre Kopfhaut bohrte. Jetzt war es zu spät, um Rosen zu schneiden, das konnte sie erst am Abend wieder machen. Nach dem Lunch würde sie kurz ruhen und dann in den Garten hinausgehen. Bei solchem Wetter tat es ihr leid um jede Minute, die sie nicht im Freien verbringen konnte.

Der Fleischer brachte das Lammfleisch eingepackt zu ihr heraus. Er hatte sich eingehend entschuldigt, dass die letzte Bestellung nicht zur Zufriedenheit ausgefallen war. Als der Wagen wieder anfuhr, lüftete er zum Gruß den Strohhut.

Tonbridge besorgte die falschen Bonbons. »Ich wollte gemischte Früchte, nicht nur Stachelbeere. Sie werden sie wohl zurückbringen müssen.«

Langsam ging Tonbridge wieder in den Laden. Er kaufte ungern Süßigkeiten und mochte es gar nicht, sie umtauschen zu müssen. Mit ihm sprach die Inhaberin immer sehr scharf und erinnerte ihn an Ethyl. Aber natürlich tat er, was man ihm auftrug. Das gehörte zu seiner Arbeit.

Er fuhr die Duchy mit trübsinnigen dreißig Stundenkilometern nach Hause – ein Tempo, das er sich eigentlich für Mrs. Edward und Mrs. Hugh während einer Schwangerschaft vorbehielt. Die Duchy bemerkte es gar nicht. Autofahren war Sache der Männer, sollten sie doch so schnell oder langsam fahren, wie sie wollten. Sie selbst hatte nur einmal einen kleinen Pferdewagen gelenkt, allerdings war sie da noch wesentlich jünger gewesen. Aber sie merkte, dass ihn die Sache mit den Süßigkeiten verstimmt hatte, und so sagte sie, als er ihr zu Hause beim Aussteigen half: »Sicher werden Sie sehr erleichtert sein, wenn die Garagen fertig sind und Sie eine schöne Wohnung für Ihre Familie haben.«

Er sah sie an, der Ausdruck in seinen kummervollen braunen Augen mit dem blutunterlaufenen unteren Lid blieb unverändert. »Ja, Ma’am, das glaube ich auch«, sagte er und schloss die Tür. Während er den Wagen zum Ausladen vor den hinteren Eingang fuhr, sinnierte er bedrückt, dass ihm demnächst seine einzige Möglichkeit, Ethyl zu entkommen, genommen wurde. Dann würde sie hier sein, ständig nörgeln und sich über die Stille auf dem Land beklagen, ihr Bengel würde die ganze Zeit heulen und greinen, und sein, Tonbridges, Leben würde genauso schlimm sein wie in den Monaten, wenn die Familie in der Stadt lebte. Irgendeinen Ausweg musste es geben, bloß konnte er ihn nicht sehen.

***

Eileen hinkte den ganzen Vormittag der Zeit hinterher. Anfangs war alles nach Plan gelaufen, sie hatte ihre Hausarbeit – die Wohnräume – vor dem Frühstück erledigt. Aber beim Abwaschen des Frühstücksgeschirrs stellte sie fest, dass das gesamte Porzellan für die Mahlzeiten der Kinder seit Weihnachten nicht angerührt worden war. Das bedeutete, dass alles gespült werden musste, und natürlich konnte Mrs. Cripps nicht auf Dottie verzichten, und Peggy und Bertha mussten oben die Schlafräume herrichten. Eileen wollte sich ja nichts herausnehmen, aber sie fand, Mrs. Cripps hätte früher mit den Mädchen darüber sprechen und ihnen auftragen können, das zu erledigen. Noch hatte sie nicht alles geschafft, aber es sollte im Esszimmer einen frühen Lunch geben, was bedeutete, dass sie erst kurz vor zwei Uhr freie Bahn in der Küche hatten. Sie stand im Anrichteraum und formte mit Wasserperlen benetzte Butterkugeln, die sie für den Lunch und das Dinner in Glasschälchen füllte.

Die Tür stand offen, und sie hörte, wie Mrs. Cripps Dottie anschrie, die im Gang mit dem Küchenabwasch hin- und herschlurfte. Aus der Küche trieb der Duft von frisch gebackenem Kuchen und Haferkeksen herüber, was Eileen daran erinnerte, dass sie am Verhungern war: Zum Frühstück hatte sie nie viel Appetit, und vormittags hatte es dann nur einen kleinen Rosinenfladen gegeben. In London setzte Mrs. Norfolk ihnen gegen elf Uhr immer etwas Richtiges vor – Lachs aus der Dose oder ein schönes Stück Cheddar –, allerdings musste sie auch nicht für so viele Menschen kochen, wie es von Mrs. Cripps verlangt wurde. Zu Weihnachten und in den Sommerferien begleitete Eileen die Familie immer nach Sussex. Zu Ostern hatte sie ihre zwei Wochen Urlaub, dann fuhr Lillian, das Dienstmädchen in Chester Terrace, mit nach Home Place. Eileen war seit sieben Jahren bei der Familie und mochte sie alle gern, aber Miss Rachel verehrte sie – sie war eine der reizendsten Damen, die sie je kennengelernt hatte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, weshalb Miss Rachel nicht geheiratet hatte. Aber vermutlich hatte sie im Krieg eine große Enttäuschung erlebt, wie so viele andere auch. Trotzdem, der ganze Sommer würde richtig viel Arbeit bedeuten, da wollte sie sich nichts vormachen. Allerdings freute sie sich, wenn die Kinder ihren Spaß hatten, und Mrs. Hugh würde bald zum dritten Mal Nachwuchs bekommen. Zu Weihnachten würde es dann wieder ein Baby geben. So, jetzt waren die Butterkugeln fertig. Als sie das kleine Tablett mit den Schälchen in die Speisekammer stellen wollte, stieß sie beinahe mit Dottie zusammen – das Mädchen schaute nie, wo es hinging. Das arme Ding hatte einen Sommerschnupfen und auf der Lippe ein scheußliches Fieberbläschen, trotz der Heilsalbe, die Eileen ihr freundlicherweise geliehen hatte. Sie trug ein großes Tablett, voll beladen mit dem Küchengeschirr, um in der Halle aufzudecken.

»Dottie, du solltest das Tablett nicht so schwer beladen. Das könnte in einem Unglück enden.«

Doch so freundlich man sie auch ansprach, sie sah immer verschreckt aus. Eileen vermutete, dass sie Heimweh hatte, denn sie erinnerte sich genau, wie es ihr selbst in ihrer ersten Stellung ergangen war: Jeden Abend hatte sie sich die Augen ausgeweint und die Nachmittage damit verbracht, Briefe nach Hause zu schreiben, aber Mum hatte nie geantwortet. An die Zeit dachte sie nicht gerne zurück. Trotzdem, da müssen wir alle durch, dachte sie. Letzten Endes ist es so am besten. Sie ging in die Küche, um auf die Uhr zu sehen. Halb eins – sie musste voranmachen.

Mrs. Cripps wirbelte in der Küche umher, rührte hier etwas um, schob da etwas in den Ofen und riss dort etwas heraus. Die Hälfte des Küchentischs verschwand unter Schüsseln, Töpfen, Backutensilien, dem Fleischwolf und leeren Krügen, die alle abgewaschen werden mussten.

»Wo ist das Mädel? Dottie! Dottie!« Große Schweißflecken färbten ihre Achseln dunkel, ihre Knöchel quollen über die Riemen ihrer schwarzen Schuhe. Sie nahm den Holzlöffel aus einem Simmertopf, fuhr mit dem Zeigefinger flach darüber, kostete und griff nach dem Salz. »Kannst du sie für mich suchen gehen, Eileen? Das alles hier muss weggeräumt werden, und der Herd muss gut durchgerüttelt werden – ich habe keine Ahnung, was sie heutzutage unter den Koks mischen, wirklich nicht. Sag ihr, sie soll sich beeilen, wenn sie weiß, was das heißt.«

Dottie legte gerade in aller Seelenruhe eine Gabel, dann ein Messer und schließlich einen Löffel rund um den Tisch. Zwischen jeder Bewegung hielt sie inne, schniefte und starrte verträumt vor sich hin.

»Mrs. Cripps braucht dich. Ich decke den Tisch fertig.« Dottie warf ihr einen gehetzten Blick zu, fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und huschte davon.

Eileen hörte die Mädchen mit Mr. Tonbridge scherzen, während er die Einkäufe aus Battle ablieferte. Sollten doch die beiden den Tisch decken, dann konnte sie Mr. Tonbridge helfen. Sie wusste, wo alles hingehörte, was man weder von Peggy noch von Bertha behaupten konnte. Aber kaum hatte sie die Butter, die Sahne und das Fleisch in der Speisekammer verstaut und das Malvern Water in ihrem Anrichteraum abgestellt, hieß es, dass Mrs. Cripps anrichtete. Also hastete sie durch die Küche und die Halle ins Esszimmer, um die Spiritusbrenner unter der Wärmeplatte auf dem Sideboard anzuzünden, zurück in die Halle, wo sie den Gong zum Lunch schlug, und in die Küche, wo sich auf dem großen Holztablett bereits Schüsseln und Teller stapelten. Sie schaffte es gerade noch, es durch die Halle zu tragen und die Teller und Schüsseln zu verteilen, ehe die Familie zum Essen hereinkam.

***

Vier Stunden später waren mehr oder weniger alle eingetroffen: Die Erwachsenen tranken Tee im Garten, die Kinder mit Nanny und Ellen in der Halle. Sie waren in drei Autos gekommen. Edward lud die Koffer aus, und Louise trug ihren – ausgesprochen schweren – in die Halle. Tante Rach begleitete alle, um ihnen ihre Zimmer zu zeigen. Sie wollte Louise mit dem Koffer helfen, was diese aber nicht zuließ. Jeder wusste doch, dass Tante Rach einen schlimmen Rücken hatte, was immer das heißen mochte. Entzückt stellte sie fest, dass sie im rosa Zimmer schlief, und belegte sofort das Bett am Fenster, schließlich war sie die Erste. Sie sah das zweite Feldbett und schloss daraus, dass Clary sich das Zimmer mit ihr und Polly teilen würde. Das war dumm, weil Clary zwar (wie Polly) zwölf sein mochte, aber viel jünger wirkte. Außerdem konnte man keinen richtigen Spaß mit ihr haben. Und sie mussten nett zu ihr sein, weil sie keine Mutter mehr hatte. Trotzdem, es war himmlisch, hier zu sein. Sie packte ihren Koffer so weit aus, um ihre Jodhpurhose herauszuholen, damit sie sofort nach dem Tee ausreiten konnte. Eigentlich sollte sie gleich alles auspacken, sonst würden sie ihr das auftragen, wenn sie in etwas ganz anderes vertieft war, und das würde sie dann unterbrechen müssen. Sie hängte die drei Baumwollkleider auf, die sie auf Mummys Anweisung hin eingepackt hatte, alles andere stopfte sie in eine Schublade; außer ihre Bücher, die baute sie sorgsam auf dem Tisch neben ihrem Bett auf. Große Erwartungen, weil Miss Milliment ihnen das als Ferienlektüre aufgegeben hatte, Verstand und Gefühl, weil sie das seit mindestens einem Jahr nicht mehr gelesen hatte, und ein komisches altes Buch mit dem Titel Die weite, weite Welt, weil Miss Milliment gesagt hatte, als junges Mädchen habe sie mit einer Freundin immer gewettet, dass die Heldin weinen würde, gleichgültig, auf welcher Seite sie das Buch aufschlugen. Und natürlich ihren Shakespeare. Sie hörte ein Auto vorfahren und betete, es möge Polly sein. Sie brauchte jemanden zum Reden: Teddy war abweisend – ihre Fragen zum Internat hatte er nur vage beantwortet, und auf der Fahrt wollte er nicht einmal Autonummern mit ihr spielen. Mach, dass es Polly ist. Bitte, lieber Gott, mach, dass es Polly ist.

***

Polly war froh, als sie ankamen. Beim Autofahren wurde ihr immer schlecht, obwohl sie sich nie übergeben musste. Zweimal hielten sie ihretwegen an, einmal auf einem Hügel vor Sevenoaks und einmal jenseits von Lamberhurst. Jedes Mal war sie ins Freie gestolpert und hatte gewürgt, aber nichts war gekommen. Außerdem hatte sie sich auf der Fahrt mit Simon gestritten, wegen Pompey. Simon sagte, Katzen würden es nicht merken, wenn Leute wegfuhren – was eine dreiste Lüge war. Pompey hatte ihr beim Packen zugesehen und versucht, in ihren Koffer zu klettern. Vor anderen Menschen verbarg er eben seine Gefühle. Er hatte ihr den Abschied sogar erleichtern wollen und sich in die Küche verzogen – weiter konnte er sich gar nicht von ihr entfernen. Mummy hatte sie immer wieder gefragt, ob sie sich auf Home Place freue, und das tat sie ja auch, aber jeder wusste doch, dass man zwei Dinge gleichzeitig empfinden konnte – und wahrscheinlich noch mehr als zwei. Sie vertraute nicht darauf, dass Inge nett zu ihm sein würde, obwohl sie ihr zur Bestechung einen Tiegel Wonder Cream geschenkt hatte. Aber Daddy hatte gesagt, dass er am Montag wieder zu Hause sein würde, und sie wusste, auf ihn war Verlass. Aber dann würde Daddy ihr fehlen. Es hatte eben alles zwei Seiten. Vor lauter Weinen in London und dann der Übelkeit während der Fahrt hatte sie jetzt Kopfweh. Auch egal. Gleich nach dem Tee würden sie und Louise zu ihrem Lieblingsbaum gehen – einem alten Apfelbaum, den sie in eine Art Haus verwandelten, wobei die Zweige verschiedene Zimmer waren. Das war ihr und Louises Baum, den scheußlichen Simon würden sie nicht rauflassen. Man hatte ihm aufgetragen, Pollys Koffer in ihr Zimmer zu tragen, doch sobald sie außer Sichtweite der Erwachsenen waren, hatte er ihn fallen lassen. »Trag ihn doch selbst«, hatte er gesagt. »Flegel!« Sie begann, den Koffer die Stufen hinaufzuwuchten. »Mistkerl!«, schob sie hinterher. Das waren die neuesten Schimpfwörter, die ihr einfielen – die hatte Dad neulich über einen Busfahrer gesagt und jetzt auf der Fahrt über einen Mann in einem Sportwagen. Oje! Mit Pompey und Simon sah alles nicht so rosig aus. Aber da stand die liebe Louise oben an der Treppe und kam heruntergeschossen, um ihr mit dem Koffer zu helfen. Allerdings trug sie ihre Reitkleidung, was bedeutete, dass sie nach dem Tee nicht zum Baum gehen würden. Es hatte wirklich alles zwei Seiten im Leben.

***

Zoës und Ruperts Fahrt war schrecklich. Zoë hatte vorgeschlagen, Clary solle mit Ellen und Neville im Zug fahren, aber nach Clarys Riesentamtam hatte Rupert nachgegeben und gesagt, sie solle lieber mit ihnen mitkommen. In ihrem Auto, einem kleinen Morris, gab es nicht genügend Platz für die ganze Familie, und selbst Clary allein wurde auf dem Rücksitz von den Gepäckstücken regelrecht eingeklemmt. Bald sagte sie, ihr sei schlecht, sie wolle vorne sitzen. Darauf meinte Zoë, Clary hätte nicht im Auto mitfahren sollen, wenn ihr schlecht würde, und sie könne nicht vorne sitzen. Also übergab Clary sich – das hatte Zoë jetzt davon. Sie mussten anhalten, und Dad bemühte sich, alles wegzuputzen, aber es roch grauenhaft, und alle waren wütend auf sie. Dann hatten sie eine Reifenpanne, und Dad musste das Rad wechseln, Zoë saß rauchend daneben und sagte kein Wort. Clary stieg aus und entschuldigte sich bei Dad, der ganz lieb zu ihr war und meinte, sie könne ja nichts dafür. Als das passierte, waren sie noch im schrecklichen London. Dad musste den Kofferraum ausladen, um an sein Werkzeug zu kommen, und Clary wollte ihm helfen, aber er erklärte, das sei eher nichts für sie. Dabei klang er ganz geduldig, was bedeutete, dass er schrecklich unglücklich war, es aber nicht laut sagen durfte. Das hörte zumindest sie, Clary, seiner Stimme an, und er musste ja auch unglücklich sein. Schließlich war ihm das Allerschlimmste passiert, was einem überhaupt passieren konnte, und er musste einfach weiterleben und tun, als wäre es nicht passiert. Also versuchte sie natürlich, genauso tapfer zu sein wie er, weil sie wusste, dass es für ihn noch viel schlimmer war. Sie konnte ihn lieb haben, so viel sie wollte, das würde es nie wettmachen.

Den Rest der Fahrt sprach keiner ein Wort, also sang sie zu seiner Unterhaltung: »Early One Morning« und »The Nine Days of Christmas« und eine Ähre von Mozart, so hieß das, aber sie kannte nur die ersten drei Wörter, und danach musste sie la la la singen. Aber die Melodie war schön, eine seiner liebsten, und dann »Raggle Taggle Gypsies O«. Als sie »Ten Green Bottles« anstimmen wollte, bat Zoë sie, eine Weile still zu sein, also blieb ihr natürlich nichts anderes übrig. Aber Dad dankte ihr für ihr schönes Singen, also hatte sie Zoë eins ausgewischt. Das war immerhin etwas. Die ganze restliche Fahrt musste sie eigentlich auf die Toilette, aber sie wollte Dad nicht bitten, noch mal anzuhalten.

***

Lydia und Neville hatten auf der Zugfahrt viel Spaß. Neville liebte Züge über alles, was durchaus vernünftig war, schließlich wollte er später einmal Lokführer werden. Lydia fand ihn sehr nett. Sie spielten Drei gewinnt, was allerdings bald langweilig wurde, weil beide gleich stark waren und deswegen keiner gewann. Neville wollte in das Gepäckfach über den Sitzen klettern – er sagte, er kenne einen Jungen, der immer so reise –, doch das ließen Nan und Ellen nicht zu. Aber er und Lydia durften im Gang stehen, was richtig abenteuerlich war, wenn sie durch Tunnel fuhren und im dunklen Rauch rote Funken sahen und ein wunderbar aufregender Geruch in der Luft lag. »Das Einzige ist«, sagte Lydia nach einigem Überlegen, als sie ins Abteil zurückgerufen wurden, »wenn du Lokführer bist, wo ist dann dein Zuhause? Denn egal, wo es ist, du fährst doch ständig woandershin, oder?«

»Ich nehme ein Zelt mit. Das baue ich dann in Schottland auf oder in Cornwall – oder in Wales oder Island. Wo auch immer«, schloss er großspurig.

»Du kannst mit dem Zug gar nicht nach Island fahren. Züge fahren nicht übers Meer.«

»Tun sie sehr wohl. Dad und Zoë fahren mit dem Zug nach Paris. Sie steigen in der Victoria Station ein, essen zu Abend und gehen ins Bett, und wenn sie aufwachen, sind sie in Frankreich. Also fahren Züge doch übers Meer. Damit du’s weißt.«

Lydia schwieg. Sie wollte keinen Streit, also beschloss sie, nicht zu streiten. »Du wirst bestimmt ein richtig guter Lokführer.«

»Ich nehme dich auch umsonst mit, sooft du magst. Ich fahre mit dreihundert Kilometern die Stunde.«

Jetzt schwindelte er schon wieder. Nichts, wirklich nichts fuhr mit dreihundert Kilometern die Stunde.

»Worauf freust du dich am meisten, wenn wir ankommen?« Das fragte sie aus Höflichkeit, eigentlich interessierte es sie gar nicht.

»Auf mein Fahrrad. Und Erdbeeren. Und den Eisverkäufer.«

»Neville, die Erdbeerzeit ist vorbei. Jetzt gibt es Himbeeren.«

»Das ist mir egal. Ich esse alle Beeren, Erd- und Him- und Brombeeren. Und am allerliebsten mag ich die Brummbär-Beeren. Brummbär-Beeren, Brummbär-Beeren, Brummbär-Beeren!« Da sagte Ellen, er geriete außer Rand und Band, und wurde zur Vernunft gebracht, indem er seine Zunge herausstrecken musste und seine untere Gesichtshälfte mit einem Taschentuch und seiner Spucke abgewischt wurde. Angeekelt sah Lydia zu, aber gerade als sie dachte, sie sei besser dran, machte Nan bei ihr das Gleiche.

»Schreckliche Schmierer hast du da draußen auf dem Gang bekommen, das habe ich dir doch gleich gesagt.« Aber das musste bedeuten, dass sie gleich da sein würden, und das konnte sie kaum erwarten.

***

In der Familie Cazalet küsste man sich. Als der erste Schwung eintraf (Edward und Villy), küsste er die Duchy und Rachel (die Kinder küssten die Duchy und umarmten Tante Rachel). Der zweite Schwung (Sybil und Hugh) tat bei der Ankunft das Gleiche, und dann küssten sich die Brüder und die Schwägerinnen: »Wie geht es dir nur, meine Liebe?« Als Rupert und Zoë ankamen, küsste er jedermann, während Zoë das Gesicht ihrer Schwäger mit einem leichten Abdruck ihres knallroten Lippenstifts versah und ihren Schwägerinnen die cremige Wange darbot. Die Duchy saß in einem geraden Deckstuhl auf dem Rasen unter Araukarie und kochte im Silberkessel Wasser für einen starken indischen Tee. Während die Ankömmlinge ihr einen Kuss gaben, bilanzierte sie bei jedem kurz den Gesundheitszustand: Villy kam ihr sehr dünn vor, Edward war wie immer das blühende Leben, Louise schoss zu schnell in die Höhe, Teddy hatte fast schon das schwierige Alter erreicht. Sybil wirkte abgespannt, und Hugh hatte wohl gerade wieder einmal seine Kopfschmerzen überstanden. Polly wuchs zu einem hübschen Kind heran, also sollte man nie ihr Aussehen kommentieren, Simon war viel zu blass – ein bisschen Seeluft würde ihm guttun. Rupert wirkte geradezu ausgezehrt, und Zoë … aber da ließ sie ihre Vorstellungskraft im Stich. Grundehrlich, wie sie war, musste sie sich eingestehen, dass sie Zoë nicht … mochte und nicht über ihr Erscheinungsbild hinauskam, das ihrer Ansicht nach ein wenig zu auffällig war und ihr etwas von einer Schauspielerin gab. Nicht, dass die Duchy etwas gegen Schauspielerinnen im Allgemeinen einzuwenden hätte, keineswegs, man erwartete nur einfach nicht, eine in der Familie zu haben. Niemand bemerkte diese raschen Betrachtungen außer Rachel, die kurz Zoës Wildseidenkostüm mit dem weißen Häkelpullover und der langen Korallenkette bewunderte. Clary war nicht zum Küssen gekommen, sondern direkt ins Haus gelaufen.

»Sie hat sich im Auto übergeben«, erklärte Zoë ausdruckslos.

»Mittlerweile ist sie wieder ganz auf dem Damm«, sagte Rupert scharf.

Rachel stand auf. »Ich schaue nach ihr.«

»Mach das, meine Liebe. Wahrscheinlich sollte sie keine Himbeeren mit Sahne bekommen, das wäre zu üppig.«

Rachel tat, als hätte sie die Bemerkung ihrer Mutter nicht gehört. Sie entdeckte Clary, als sie gerade die Toilette im Erdgeschoss verließ.

»Ist alles in Ordnung?«

»Wieso?«

»Zoë sagt, du hättest dich auf der Fahrt übergeben. Ich dachte, vielleicht …«

»Das ist doch Ewigkeiten her. In welchem Zimmer bin ich?«

»Im rosa Zimmer. Mit Polly und Louise.«

»Ach. Gut.« Ihr Koffer stand im Durchgang vor der Toilette. Sie hob ihn auf. »Habe ich vor dem Tee noch Zeit, meine Sachen auszupacken?«

»Ich denke schon. Außerdem, wenn dir nicht nach Tee ist, musst du dich nicht an den Tisch setzen.«

»Mir fehlt wirklich nichts, Tante Rachel – ehrlich nicht.«

»Schön. Ich wollte nur noch mal fragen. Manchmal geht es Leuten schrecklich, wenn sie sich übergeben haben.«

Clary trat zögernd einen Schritt auf sie zu, stellte den Koffer ab und umarmte sie kurz, aber heftig. »Ich bin zäh wie Schuhleder.« Ein Anflug von Zweifel huschte über ihr Gesicht. »Das sagt Dad zumindest.« Sie nahm wieder ihren Koffer. »Danke, dass du nach mir gesehen hast«, schloss sie förmlich.

Rachel sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufstapfte. Sie war traurig. Ihr Rücken schmerzte, und das erinnerte sie daran, ein Kissen für Sybil mitzunehmen.

Als sie zur Teegesellschaft zurückkehrte, berichtete Zoë gerade Villy vom Männer-Einzel, das sie in Wimbledon gesehen hatte, Sybil erzählte der Duchy von dem Kindermädchen, das sie gefunden hatte, Hugh und Edward unterhielten sich über Geschäftliches, und Rupert saß etwas abseits auf dem Rasen, hatte die Hände um die Knie gelegt und beobachtete die Szene. Alle außer Sybil rauchten. »Schütte deinen Tee weg, mein Schatz«, unterbrach die Duchy sie. »Er ist bestimmt kalt. Ich schenke dir frischen ein.«

Rachel zeigte Sybil das Kissen, und dankbar hievte sie sich hoch, damit es ihr in den Rücken gesteckt würde.

Zoë, die die Szene verfolgte, warf Sybil verstohlen einen zweiten Blick zu und fragte sich, wie, in aller Welt, man sich derart unförmig in der Öffentlichkeit zeigen konnte. Sie könnte doch wenigstens etwas Weites tragen, aber nicht das entsetzliche grüne Kleid, das über dem Bauch spannte. Guter Gott! Hoffentlich würde sie nie schwanger werden.

Rachel nahm eine Abdullah aus der Schachtel, die auf dem Teetisch lag, und sah sich nach Feuer um. Villy wedelte mit ihrem kleinen Chagrin-Feuerzeug, und Rachel ging zu ihr.

»Der Tennisplatz ist spielbereit«, sagte sie, doch ehe jemand darauf eingehen konnte, hörten sie den Wagen vorfahren. Türen knallten, und Sekunden später liefen Lydia und Neville durch die weiße Pforte. »Wir sind über hundert gefahren.«

»Tatsächlich?«, sagte die Duchy und gab ihm einen Kuss. Überdreht, dachte sie. Das endet in Tränen.

»Ich hab mit Tonbridge gewettet, dass er nicht schnell fahren kann, also ist er gerast!«

»Er ist so gefahren, wie er sowieso gefahren wäre«, sagte Lydia herablassend und beugte sich zu ihrer Großmutter. »Neville ist ziemlich jung für sein Alter«, flüsterte sie vernehmlich.

»Ich bin nicht so jung für mein Alter wie du!«, brauste Neville auf. »Außerdem, wie kann man für sein Alter jung sein? Man kann doch gar nicht sein Alter sein, wenn man zu jung dafür ist!«

»Das genügt, Neville«, sagte Rupert, der sich die Hand vor den Mund hielt. »Gib deinen Tanten einen Kuss, dann gibt’s Tee.«

»Ich küsse die, die am nächsten ist.« Er pflanzte einen Schmatzer auf Sybils Wange.

»Und die anderen auch«, trug Rupert ihm auf.

Neville seufzte theatralisch, gehorchte aber. Lydia hatte beinahe alle bereits geküsst und endete bei Villy, auf die sie sich stürzte.

»Tonbridges Nacken ist ganz rot. Und wenn man im Auto über ihn redet, wird er dunkelrot.«

»Du sollst nicht über ihn sprechen, sondern mit ihm, oder überhaupt nicht.«

»Ich war’s ja nicht, das hat Neville gemacht. Mir ist es bloß aufgefallen.«

»Wir möchten kein Petzen hören«, sagte die Duchy. »Und jetzt lauft schön zu Ellen und Nanny.« Mit einem unglücklichen Blick gingen die beiden davon.

»Ach, sind sie nicht hinreißend? Und zum Schreien komisch?« Rachel drückte ihre Zigarette aus.

»Also – wie sieht’s mit einer Partie Tennis aus?« Sie fragte sich, ob Villy sich darüber ärgerte, dass ihre Schwiegermutter Lydia getadelt hatte, und wusste, dass Villy für ihr Leben gern Tennis spielte.

»Ich bin dafür zu haben«, sagte Edward sofort.

»Hugh, spiel doch. Ich sehe dir auch zu.« Sybil wünschte sich nichts sehnlicher, als sich in ihrem kühlen Zimmer etwas auszuruhen, aber sie wollte nicht, dass Hugh auf sein Tennisspiel verzichtete.

»Wenn ich gebraucht werde, stehe ich jederzeit bereit.« Aber eigentlich stand ihm nicht der Sinn danach. Lieber wollte er in einem Deckstuhl liegen und lesen und seine Ruhe haben.

Ausnahmsweise einmal wurde ihnen die Gelegenheit verwehrt, sich gegenseitig für die vermeintlichen Wünsche des anderen aufzuopfern, denn Zoë sprang auf, meldete ihr Interesse an und sagte, sie werde sich rasch umkleiden gehen. Sofort sagte Rupert, gut, er werde auch spielen, und damit stand das Doppel. Die Duchy wollte Verblühtes von ihren Rosen abschneiden und einen Strauß pflücken, und Rachel war gerade zu dem Schluss gekommen, dass alle glücklich und beschäftigt waren und sie deshalb in ihr Zimmer gehen und Sids Brief lesen konnte. Da trat ihr Vater vors Haus.

»Einen schönen guten Tag allseits. Kitty, mach dir keine Sorgen, mir ist gerade eingefallen, dass die wie auch immer nicht zum Dinner bleiben können, sie kommen also nur auf einen Drink.«

»Wer, Schatz?«

»Der alte Knabe, den ich im Zug kennengelernt habe. Ich kann mich beim besten Willen nicht an seinen Namen entsinnen, aber er war ein richtig netter Kerl, und natürlich habe ich seine Frau auch eingeladen. Schade, dass ich den Port hochgebracht habe, aber ich vermute, dass wir ihn schon trinken werden.«

»Für welche Uhrzeit hast du sie denn eingeladen? Dinner ist um acht.«

»Ach, mit der Zeit ging es nicht so genau. Ich vermute, sie werden gegen sechs kommen. Aus Ewhurst sind sie – ich weiß noch, dass er das sagte. Rachel, hast du einen Moment Zeit? Ich möchte dir das Ende des Kapitels über Britisch-Honduras vorlesen, bevor ich dann deren Mahagoni mit dem westafrikanischen vergleiche.«

»Mein Lieber, das hast du mir schon einmal vorgelesen.«

»Wirklich? Na, sei’s drum, dann hörst du es noch einmal«, und damit packte er sie am Arm und führte sie ins Haus.

»Warum lässt du ihn mit dem Zug fahren?«, fragte Hugh seine Mutter, als sie sich auf die Suche nach ihrer Gartenschere und dem Korb machte. »Bei Tonbridge im Auto würde er nicht annähernd so viele Menschen kennenlernen.«

»Wenn er mit Tonbridge fährt, besteht er darauf, selbst am Steuer zu sitzen. Und da nichts und niemand ihn daran hindern kann, auf der rechten Straßenseite zu fahren, weigert Tonbridge sich, von ihm gefahren zu werden. Wenn er mit dem Zug reist, muss keiner von ihnen nachgeben.«

»Hat die Polizei bei der rechten Straßenseite nicht auch ein Wörtchen mitzureden?«

»Doch, natürlich. Aber als sie ihn das letzte Mal anhielten, stieg er in aller Ruhe aus dem Wagen und erklärte ihnen, er sei immer auf dieser Straßenseite geritten und werde das nicht einfach abstellen, nur weil er in einem Auto sitze. Zu guter Letzt haben sie sich tatsächlich bei ihm entschuldigt. Bald wird das aber sowieso ein Ende haben, seine Augen sind wirklich ziemlich schlecht geworden. Red doch du einmal mit ihm, mein Lieber, ich glaube, auf dich hört er.«

»Das bezweifle ich.«

Sie trennten sich. Hugh ging nach oben, um nach Sybil zu sehen. Er nahm die Cottage-Treppe, um den Kindern auszuweichen, die alle in der Halle beim Nachmittagstee saßen.

Der war fast vorbei, und die älteren Kinder konnten es gar nicht erwarten, aufstehen zu dürfen. Sie alle hatten die obligatorische Scheibe Brot mit Butter gegessen, gefolgt von so vielen Scheiben Marmeladenbrot, wie sie wollten (die Duchy missbilligte Butter und Marmelade gleichzeitig – »etwas allzu üppig«, ihr vernichtendstes Urteil), danach gab es Haferkekse und Kuchen und dann noch Himbeeren und Sahne – alles hinuntergespült mit Bechern voll sahniger Milch, die Mr. York am Vormittag von der Farm angeliefert hatte. Ellen und Nanny teilten sich den Vorsitz, wobei sie genau auf den Status der anderen achteten, und verhielten sich ihren eigenen Zöglingen gegenüber wachsamer und strenger als zu Hause. Polly und Simon waren unbegleitet und damit vogelfrei, was sie merkwürdigerweise kleinlaut werden ließ. Manieren machten aus den meisten Leuten Langweiler, fand Louise. Unter dem Tisch stieß sie Polly gegen das Bein, und die verstand den Hinweis. »Bitte, dürfen wir aufstehen?«, fragte sie.

»Sobald alle aufgegessen haben«, sagte Nanny.

Neville war noch nicht fertig. Alle schauten zu ihm. Als er das merkte, schaufelte er seine Himbeeren in sich hinein, bis sich seine Backen blähten.

»Hör auf damit!«, sagte Ellen scharf. Daraufhin verschluckte er sich, öffnete den Mund, und eine klebrige Himbeermasse ergoss sich auf den Tisch.

»Ihr anderen dürft aufstehen.« Das taten sie, froh, der unvermeidlichen Szene zu entkommen.

»Wohin geht ihr?«, rief Clary Polly und Louise nach. Sie wusste, dass die beiden sie auszuschließen versuchten.

»Zu Joey«, antworteten sie und liefen zur Nordtür. Sie wollen mich nicht dabeihaben, sagte sich Clary und beschloss, allein auf Entdeckungstour zu gehen. Zuerst achtete sie gar nicht darauf, wohin sie ging, sondern dachte nur daran, wie sehr sie alle Menschen hasste. Louise und Polly verbündeten sich immer gegen sie, genau wie die Mädchen in der Schule. Wäre sie trotzdem mit ihnen mitgegangen, hätten sie sie nicht auf Joey reiten lassen, oder wenn doch, dann nur ganz kurz zum Schluss. Außerdem trug sie ihre Shorts, und die Steigbügelleder würden schrecklich in den Kniekehlen kneifen. Sie hörte Nevilles Schreie aus dem offenen Fenster im ersten Stock – das geschah ihm ganz recht, dem Blödmann. Sie stieß mit der Zehenspitze so heftig gegen einen Stein, dass sie sich wehtat …

»Pass auf!« Das waren die Fieslinge Teddy und Simon auf dem Fahrrad. Die waren gemein, weil sie überhaupt nicht mit ihr reden wollten. Sie unterhielten sich nur miteinander und mit Erwachsenen – aber meistens wurden sie im Lauf der Ferien ein bisschen netter. Mittlerweile hatte sie die Hausecke erreicht. Links sah sie den Tennisplatz und hörte die Rufe: »Null zu fünfzehn« und »Deiner, Partner!« Sie könnte sich als Balljunge anbieten, aber sie wollte Zoë noch nicht mal sehen müssen, vielen Dank auch. Sie hörte Dads dröhnendes Lachen, wenn er einen Ball verpasste. Er nahm Tennis nicht so ernst, im Gegensatz zu den anderen. Rechts von ihr lag der große Garten, und dahinter begann der Küchengarten. Dorthin würde sie gehen. Sie schlenderte auf dem Aschepfad die Gewächshäuser entlang, deren Glas mit weißer Farbe verschmiert war. Sie sah die Duchy mit ihrem großen Hut, die sich über ihre Rosen beugte und ständig etwas abschnitt, und beschloss, außer Sichtweite durch die Gewächshäuser zu gehen. Im ersten roch es nach Nektarinen, die in Spalieren an der Mauer hochwuchsen. Über ihr hing eine gewaltige Weinrebe, die Trauben wirkten wie kleine milchig grüne Glaskugeln. Sie würden noch völlig unreif sein, aber sie nahmen sich sehr hübsch aus. Sie befühlte eine oder zwei Nektarinen, und eine fiel ihr in die Hand. Das war nicht ihre Schuld, die war einfach von selbst heruntergefallen. Sie steckte sie in die Shortstasche, um sie später heimlich zu essen. Es standen massenhaft Töpfe mit Geranien und Chrysanthemen herum, die gerade einmal Knospen ansetzten. Die würde der Gärtner bei der Gartenschau ausstellen. Im letzten Gewächshaus wuchsen lauter gelbe und rote Tomaten und dufteten so gut und so überwältigend, dass es sie in der Nase kitzelte. Sie pflückte eine winzige und steckte sie sich in den Mund, und sie schmeckte so süß wir nur irgendetwas. Also pflückte sie noch drei und gab sie in ihre andere Tasche. Dann schloss sie die Tür des letzten Gewächshauses hinter sich und trat in die kühlere, aber immer noch goldene Luft hinaus. Am blassblauen Himmel trieben kleine Wolken wie Federn dahin. Neben der Pforte zum Küchengarten stand ein riesiger Busch mit lila Blüten, die wie Flieder aussahen, nur spitzer, und an denen wimmelte es vor Schmetterlingen – weiße, orangefarbene mit Schwarz und Weiß, kleine blaue und ein einziger zitronengelber mit ganz feinen schwarzen Äderchen, der schönste von allen, wie sie fand. Eine Weile sah sie ihnen zu und wünschte, sie wüsste ihre Namen. Die meiste Zeit flatterten sie rastlos von einer Blüte zur anderen. Wahrscheinlich, dachte sie, ist der Honig in den kleinen Blüten dann schon aufgebraucht, und sie müssen weitersuchen, bis sie eine Blüte finden, die noch gefüllt ist.

Sie nahm sich vor, die Schmetterlinge öfter zu besuchen: Vielleicht würden sie sie dann erkennen. Allerdings sahen sie ein bisschen so aus, als wären sie nicht von dieser Welt, nichts für Menschen, eher für Geister oder Feen – die Glücklichen, die brauchten keine Menschen.

Im Küchengarten mit den Mauern ringsum war es sehr heiß, die Luft stand. Es gab ein langes Beet mit Blumen eigens für Sträuße, sonst wurde hier nur Gemüse angebaut. Vor den Mauern standen Pflaumen und Reineclauden sowie ein gigantischer Feigenbaum, dessen Blätter sich ziemlich rau anfassten und wie ein angewärmter Regenmantel rochen. An den Ästen wuchsen viele Feigen, ein paar lagen bereits am Boden, aber sie waren noch grün und hart und glänzten.

»Schau mal, was ich da habe!«

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Lydia zwischen zwei Kohlreihen auf dem Boden hockte.

»Was hast du denn da?«, fragte sie und ahmte dabei die Stimme eines Erwachsenen nach, den es im Grunde überhaupt nicht interessierte.

»Raupen. Ich sammle sie als Haustiere. Das ist ihre Schachtel. In den Deckel mache ich mit Nans kleinster Stricknadel ein paar Löcher, weil sie ja Luft brauchen, aber entkommen können sie trotzdem nicht. Wenn du magst, kannst du auch welche haben.«

Lydia war nett. Eigentlich wollte Clary keine Raupen, dafür war sie zu alt, aber sie freute sich, dass Lydia sie fragte.

»Wenn du willst, helfe ich dir«, bot sie an.

»Man sieht gleich, wo sie sind, weil sie die Blätter anknabbern. Aber bitte sei vorsichtig, wenn du sie anfasst. Sie haben keine Knochen, da weiß man nicht, was ihnen wehtut.«

»Ich passe auf.«

Als Clary auf einem Blatt eine ganze Menge fand, fragte sie: »Willst du auch die ganz kleinen?«

»Ein paar schon, die halten länger. Die Großen spinnen sich ein, dann sind sie keine Haustiere mehr.«

»Von der Größe abgesehen unterscheiden sie sich aber nicht besonders«, sagte Lydia nach einer Weile. »Die kleinen schwarzen Gesichtchen sehen alle gleich aus – da kann ich ihnen gar keine Namen geben. Wahrscheinlich muss ich sie einfach ›sie‹ nennen.«

»Wie Schafe. Aber ziemlich anders als Schafe.«

Da musste Lydia lachen. »Es gibt keine Raupen-Hirten«, sagte sie. »Außerdem kennen Schäfer ihre Schafe sehr gut, das hat Mr. York mir mal erzählt. Er kennt seine Schweine, sie haben alle einen Namen.«

Als sie nach Clarys Ansicht zu viele und nach Lydias Ansicht gerade einmal genug Raupen gesammelt hatten, suchten sie nach ein paar letzten Erdbeeren, denn Lydia hatte Durst, wollte aber nicht für einen Schluck Wasser ins Haus gehen, weil Nan sie dann entdecken und in die Badewanne stecken würde. Aber sie fanden nur noch Erdbeeren, die von irgendwelchen Tieren angefressen waren. Clary erzählte Lydia von der Katze, die sie sich wünschte, und dass ihr Vater sagte, das müssten sie sich überlegen.

»Was sagt deine Mutter dazu?«

»Sie ist nicht meine Mutter.«

»Ach!«, sagte Lydia, und dann: »Ich weiß, dass sie’s eigentlich nicht ist. Entschuldige.«

»Schon in Ordnung«, antwortete Clary, aber das war es nicht.

»Magst du sie? Tante Zoë, meine ich?«

»Ich empfinde nichts für sie.«

»Aber selbst wenn, könnte es doch unmöglich dasselbe sein, oder? Ich meine, es kann doch niemand die richtige Mutter ersetzen. Ach, Clary, du tust mir so schrecklich leid! Du bist eine tragische Person. Ich finde dich unglaublich tapfer!«

Clary kam sich ganz außergewöhnlich vor. Etwas Derartiges hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Seltsam, sie fühlte sich leichter. Dadurch, dass jemand von ihrem schrecklichen Geheimnis wusste, verlor es von seiner Last. Ellen wechselte immer hässlich abrupt das Thema, und Dad erwähnte sie gar nicht – er hatte kein einziges Mal »deine Mutter« gesagt, erst recht erzählte er ihr nicht all die Dinge, die sie so gerne wissen wollte. Er konnte nichts dafür, es war für ihn zu schrecklich, um darüber zu reden, und sie hatte ihn viel zu lieb, um ihm alles noch schwerer zu machen, also gab es niemanden … Lydia weinte. Sie gab keinen Laut von sich, aber ihre Lippen bebten, und Tränen tropften in das Erdbeer-Stroh.

»Ich würde sterben, wenn meine Mutter tot wäre«, sagte sie. »Das würde ich nicht ertragen.«

»Sie wird aber nicht sterben«, tröstete Clary sie. »Sie ist der gesündeste Mensch, den ich kenne.«

»Wirklich? Der gesündeste?«

»Ganz wirklich. Und du musst mir glauben, Lyd – ich bin viel älter als du, ich weiß solche Sachen.« Sie suchte in ihrer Shorts nach einem Taschentuch für Lydia und berührte dabei die Tomaten. »Schau mal, was ich habe!«

Lydia aß die drei Tomaten, und danach ging es ihr besser. Clary kam sich sehr erwachsen und fürsorglich vor. Sie bot Lydia die Nektarine an. »Nein, die musst du essen«, sagte Lydia, und Clary beharrte: »Nein, die sollst du haben. Wirklich.« Sie wollte, dass Lydia alles bekam. Dann gingen sie mit den Raupen in den Gartenschuppen, um zu sehen, ob Mr. McAlpine noch seine Frettchen hatte.

***

Teddy und Simon fuhren mit den Fahrrädern rund ums Haus und dann rund um die Stallungen und schließlich die Straße entlang nach Whatlington und die Auffahrt zum Mill House hinauf. Das hatte ihr Großvater vor Kurzem gekauft und ließ es gerade zu einem Ferienhaus umbauen, in dem ein Teil von ihnen wohnen konnte. Sie redeten wenig, weil sie sich erst wieder daran gewöhnen mussten, dass sie ganz normale Cousins waren, die Ferien hatten und sich foppen konnten: Zu Schulzeiten war Teddy in der zweiten Klasse und Simon ein Erstklässler. Auf dem Heimweg fragte Teddy: »Sollen wir sie beim Monopoly mitspielen lassen?«

Insgeheim fühlte Simon sich geschmeichelt, um seine Meinung gebeten zu werden. »Das sollten wir vielleicht, sonst machen die nur wieder einen Aufstand«, antwortete er so lässig wie möglich.

***

Sybil genoss die Ruhe, aß Butterkekse – sie hatte zwischen den Mahlzeiten ständig Appetit – und las dabei Die Zitadelle von A.J. Cronin, der wie Somerset Maugham als Arzt tätig gewesen war.

Normalerweise las sie ernsthaftere Bücher – Lesen diente für sie weniger dem Zweck der Unterhaltung als vielmehr der Bildung und der Möglichkeit, Dinge besser zu verstehen, doch im Moment fühlte sie sich zu keiner geistigen Anstrengung fähig. Sie hatte T.S. Eliots Schauspiel Mord in der Kathedrale mitgebracht, das sie und Villy im Mercury gesehen hatten, sowie die Tragödie Ascent of F6 von Auden und Isherwood, aber darauf hatte sie nicht die geringste Lust. Es war zu schön, auf dem Land zu sein. Sie wünschte sich sehr, Hugh könnte in der kommenden Woche bei ihr bleiben, aber er und Edward mussten abwechselnd das Büro besetzen, und Hugh wollte sich freinehmen können, wenn das Kind kam. Oder die Kinder: Angesichts der regen Aktivität in ihrem Bauch war sie sich nahezu sicher, dass es zwei werden würden. Danach mussten sie und Hugh wirklich dafür sorgen, dass sie keine mehr bekamen. Leider hasste Hugh jede Art von Verhütung. Nach siebzehn Jahren hätte es sie im Grunde nicht allzu sehr gestört, wenn sie mit dem Ganzen einfach aufgehört hätten, aber Hugh war eindeutig anderer Meinung. Flüchtig fragte sie sich, wie wohl Villy mit dem Problem umging. Edward war kein Mann, zu dem man einfach Nein sagen konnte – nicht, dass man das wirklich tun sollte. Bei Pollys Geburt hatten sie vage beschlossen, dass zwei genügten. Damals hatten sie weitaus weniger Geld, und Hugh hatte sich Sorgen wegen der Schulgebühren gemacht, sollten sie noch mehr Söhne bekommen. Und so hatten sie sich weiter mit dem Diaphragma und mit Spülungen und Gels abgemüht und damit, dass Hugh nicht in ihr kam, bis die ganze Sache derart quälend wurde, dass es ihr überhaupt keinen Spaß mehr machte. Obwohl sie ihn das natürlich nie wissen ließ. Aber im vergangenen Jahr hatten sie Anfang Dezember einen traumhaften Skiurlaub in St. Moritz verbracht, und nach dem ersten Tag, als ihnen von der vielen Bewegung alles schmerzte, hatte Hugh ihnen eine Flasche Champagner bestellt, während sie nacheinander ein heißes Bad nahmen. Sie ließ ihm den Vortritt, weil er sich den Knöchel verstaucht hatte, und anschließend sah er ihr beim Baden zu. Als sie herauskam, hielt er ein riesiges weißes Handtuch für sie bereit, in das er sie hüllte, und dann umarmte er sie, löste ihre Haarklemmen und zog sie sacht auf die Badematte. Sie wollte noch etwas sagen, doch er legte ihr die Hand auf den Mund, schüttelte den Kopf und küsste sie, und es war genauso wie in der ersten Zeit ihrer Ehe. Danach schliefen sie jeden Abend miteinander und manchmal auch am Nachmittag, und Hugh hatte kein einziges Mal seine Kopfschmerzen. Also kam ihr gegenwärtiger Zustand nicht von ungefähr, und sie war froh, weil er sich so freute und sich ihr gegenüber immer liebevoll verhielt. Ich habe wirklich Glück, dachte sie. Rupert ist der Witzigste und Edward der Attraktivste, aber ich würde keinen von ihnen gegen Hugh eintauschen wollen.

»Ich dachte, du würdest tief und fest schlafen.« Er betrat das Zimmer, ein Glas Sherry in der Hand. »Das habe ich dir zur Stärkung mitgebracht.«

»Ach, tausend Dank, mein Schatz. Ich darf aber nicht zu viel trinken, sonst überstehe ich das Abendessen nicht.«

»Trink, was du magst, den Rest trinke ich.«

»Aber du magst doch keinen Sherry!«

»Manchmal schon. Aber ich dachte, wenn ich dir dieses Glas bringe, kannst du den Umtrunk mit den unbekannten Gästen schwänzen.«

»Was hast du die ganze Zeit gemacht?«

»Zuerst habe ich ein bisschen gelesen, und dann hat mich der alte Herr zu einem kurzen Gespräch einbestellt. Er möchte hinter den Stallungen eine Squashhalle bauen. Das war offenbar Edwards Idee, und jetzt sucht er nach einer geeigneten Fläche.«

»Simon wird sich freuen.«

»Polly auch. Im Grunde ist es für uns alle schön.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder einem Ball nachlaufen werde.«

»Das wirst du aber, mein Schatz. Die Bauarbeiten fangen erst in den Weihnachtsferien an. Bis dahin bist du wieder rank und schlank. Möchtest du baden? Wenn, dann solltest du dich beeilen, sonst kommen dir die Tennisspieler und die Kinder zuvor.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bade morgen früh.«

»Vielmehr ihr alle, nicht wahr?« Er streichelte ihren Bauch und erhob sich von der Bettkante. »Ich muss aus diesen Schuhen rauskommen.« Alle männlichen Cazalets hatten große, knochige Füße und wechselten ständig die Schuhe.

Sybil reichte ihm das Sherryglas. »Das war genug.«

Er leerte es in einem Zug – wie Medizin, dachte sie. »Übrigens, wie wollen wir sie nennen?«

»Oder vielleicht auch ihn und sie.«

»Findest du nicht auch, dass Sebastian ein schöner Name ist?«

»Für einen Jungen etwas extravagant, oder? Ich dachte, wir könnten ihn William nennen, nach dem alten Herrn.«

»Wenn es Zwillinge sind, könnten wir ihnen beide Namen geben.«

»Und bei zwei Mädchen? Oder einem?«

»Ich dachte vielleicht an Jessica.«

»Das gefällt mir nicht. Ich mag schlichte Namen – Jane oder Anne. Oder Susan.«

»Aber vielleicht bekommen wir ja von jedem eines. Das wäre am schönsten.«

Dieses Gespräch hatten sie schon öfter geführt, allerdings bevor die Möglichkeit von Zwillingen im Raum gestanden hatte. Auf Namen konnten sie sich nie verständigen, obwohl sie sich schließlich doch auf Simon geeinigt hatten, und Hugh hatte Polly aussuchen dürfen, obwohl sie sich Antonia gewünscht hatte. »Anne ist ein schöner Name«, sagte sie jetzt.

»Ich finde, dass Jess ganz hübsch wäre. Wohin hast du meine Socken geräumt?«

»In die oberste Schublade links.«

Auf der Auffahrt war ein Wagen zu hören.

»Das werden die geheimnisvollen Gäste sein.«

»Ich muss sagen, ich bin ausgesprochen froh, dass du nicht jede Zufallsbekanntschaft zu Drinks und zum Dinner einlädst.«

»Dafür fahre ich nicht oft genug mit dem Zug. Soll ich etwas unternehmen, um Polly und Simon Richtung Bett zu bewegen?«

»Es ist ihr erster Abend, sollen sie sich ruhig austoben. Sie werden ins Haus kommen, wenn Louise und Teddy gerufen werden.«

»In Ordnung.« Er fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar, warf ihr eine Kusshand zu und ging.

Sybil stand auf und trat ans offene Fenster. Ein warmer Duft nach Geißblatt und Rosen hing in der Luft, die Amseln schmetterten ihr Abendlied, ehe sie sich zur Ruhe begaben, und der Himmel färbte sich apricotfarben, durchsetzt mit fedrig zerzausten Wölkchen. »Alles Schöne seh, als wär’s ein letztes Mal dir gegeben«, ging ihr durch den Kopf. Sie beugte sich weiter hinaus, zog eine Rose zu sich und roch daran. »Um Blumen und Blüten anzusehen, wie schnell doch fünfzig Jahr vergehen …« Es sah Housman nicht ähnlich, einem Menschen fünfzig Lebensjahre zuzugestehen, von siebzig ganz zu schweigen. Sie war achtunddreißig, und wieder ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass die Geburt sehr schwierig werden und sie dabei sterben könnte. Die Blütenblätter der Rose in ihrer Hand fielen ab, und als sie den Stiel losließ, schnellte er kahl zurück, nur die Staubgefäße hafteten noch daran. Sie durfte nicht sterben, sie wurde gebraucht. Dr. Ledingham war großartig, und auf Schwester Lamb konnte man sich verlassen. Eine Geburt war eben eines der Dinge, bei denen sich die Schmerzen und ihr Zweck die Waage hielten. Sie hatte Hugh nie gestanden, wie viel Angst sie gehabt hatte, damals beim ersten Mal, als sie Polly bekam, und auch nicht, wie viel mehr ihr vor Simons Geburt gegraut hatte. Denn die Behauptung, die Wehen seien schnell vergessen, war ein reines Ammenmärchen.

***

Zu guter Letzt waren Polly und Louise doch nicht auf Joey geritten. Er sei noch draußen, hatte Mr. Wren gesagt. Er habe keine Zeit gehabt, ihn einzufangen, aber wenn sie wollten, könnten sie es versuchen. Damit hatte er ihnen das Halfter in die Hand gedrückt. Sie könnten ihn einfangen und für die Nacht in die Stallung bringen und am nächsten Vormittag reiten. Er sah ziemlich wütend aus, also widersprachen sie nicht. Louise stibitzte eine Handvoll Hafer und gab ihn in ihre Jackentasche zu dem Würfelzucker, den Polly beim Tee abgezweigt hatte. Nan hatte es zwar bemerkt, aber natürlich nichts gesagt, weil Polly nicht zu ihren Schützlingen gehörte. Sie gingen auf dem schattigen feuchten Pfad durch die Wiese, und Polly verbrannte sich an den Nesseln und hielt alles auf, weil sie unbedingt Ampferblätter brauchte.

»Jetzt beeil dich doch«, sagte Louise. »Wenn wir ihn schnell einfangen, haben wir noch Zeit zum Reiten.«

Aber sie hatten ihn überhaupt nicht zu fassen bekommen. Wohlgenährt und mit glänzendem Fell stand er in einer Ecke der Wiese und ließ sich das nahrhafte grüne Gras schmecken. Als sie seinen Namen riefen, hob er den Kopf und sah ihnen entgegen. Um seinen Kopf schwirrte eine kleine Fliegenwolke, und er schlug regelmäßig mit dem Schwanz aus. Whistler stand neben ihm und graste ebenfalls. Als er die Mädchen sah, ging er auf sie zu für den Fall, dass sie einen Leckerbissen dabeihatten.

»Der Gerechtigkeit halber müssen wir Whistler auch etwas Hafer geben.«

»Also gut – du halt das Halfter parat, und ich übernehme das Füttern.«

Aber das war vermutlich die falsche Aufgabenverteilung, dachte Louise zu spät. Polly würde die Sache mit dem Halfter bestimmt verpatzen. Und genau das passierte auch. Whistler steckte seine weichen Nüstern in die Handvoll Hafer und verstreute vieles davon. Das bemerkte Joey und kam, um sich seinen Anteil zu holen. Louise schloss die Hand und hielt sie Joey hin, der alles mit einem Happen verschlang, doch sobald Polly den Arm um seinen Hals legen wollte, riss er den Kopf zurück und trabte davon. Da stand er dann nicht weit entfernt, wie um sich über sie lustig zu machen, und forderte sie heraus, ihr Glück noch einmal zu versuchen. Whistler stieß Louise beinahe um, als er fordernd ihre Hand anstupste.

»Mist! Nimm du den Zucker, und gib mir das Halfter.«

»Tut mir leid«, sagte Polly zerknirscht. Sie wusste, dass sie sich bei solchen Dingen nicht besonders geschickt anstellte. Außerdem fürchtete sie sich vor Joey, aber nur ein kleines bisschen.

Sie unternahmen einen zweiten Versuch mit dem Zucker, aber wieder passierte dasselbe, nur dass Joey dieses Mal die Ohren anlegte und ganz böse dreinblickte. Als kein Zucker mehr da war, kam er nicht einmal mehr in ihre Nähe, und sogar Whistler verlor schließlich das Interesse.

»Ich wette, Mr. Wren hat gewusst, dass er sich nicht fangen lassen würde«, sagte Louise gereizt. »Er hätte es wirklich selber machen können.«

»Dann sagen wir ihm das doch.«

Schweigend stiegen sie über das Gatter, und Polly merkte, dass Louise jeden Moment wütend werden würde, aber dann sagte sie plötzlich: »Es war nicht deine Schuld mit dem Halfter. Vielleicht sollten wir es Mr. Wren doch nicht sagen. Wenn sein Gesicht so rot ist, schimpft er immer nur.«

»Knallrot.«

»Das sieht zusammen mit seinen eisblauen Augen richtig schrecklich aus, findest du nicht?«

»Niemand würde freiwillig Knallrot und Blau mischen«, stimmte Polly zu. »Und was machen wir jetzt? Sollen wir zu unserem Baum gehen?«

Zu ihrer Freude willigte Louise sofort ein. Das Seil, mit dessen Hilfe sie das erste, schwierige Stück bewältigten, hing noch genauso da, wie sie es an Weihnachten zurückgelassen hatten. Sie pflückten ganz viele Gänseblümchen, die Louise in ihre Tasche steckte, bevor sie hinaufkletterten. Als sie es sich dann dort oben bequem gemacht hatten, teilte Louise die Gänseblümchen auf, und sie flochten Ketten als Schmuck für den Baum. Ihr Lieblingsast bog sich an einem Ende hoch, sodass sie sich gegenübersitzen konnten, die eine an den Ast, die andere an den Stamm gelehnt.

Louise, die an den Fingernägeln kaute, musste die Löcher zum Einfädeln der Stiele hineinbeißen, während Polly ihren längsten Nagel verwendete. Sie unterhielten sich über die Ferien und was sie in der Zeit gern unternehmen würden. Louise wollte an den Strand und vor allem in die Badeanstalt in St. Leonards fahren, Polly zu einem Picknick im Park von Bodiam Castle. Sowohl sie als auch Simon hatten im August Geburtstag, und deshalb durfte jeder von ihnen sich einen Ausflug wünschen. »Aber Simon wird sich eine Fahrt mit der Romney, Hythe und Dymchurch-Eisenbahn wünschen«, sagte Polly traurig. Dann fiel ihr etwas ein. »Clary hat doch auch Geburtstag, oder?«

»Ach, stimmt! Was wird sie sich wünschen?«

»Wir könnten ja versuchen, sie dazu bringen, sich unseren Wunsch zu wünschen.«

»Da müssten wir ihr von etwas erzählen, was wir in Wirklichkeit richtig gerne unternehmen würden, aber so tun, als hätten wir überhaupt keine Lust dazu.«

»Das wäre mehr, als sie dazu zu bringen, das ist …«, Polly suchte nach dem richtigen Wort, »… konspirieren.«

»Warum müssen wir das Zimmer mit ihr teilen? Eigentlich kann ich sie nicht besonders leiden. Aber Mummy sagt immer, dass ich nett zu ihr sein soll, weil sie keine Mutter hat. Das verstehe ich auch. Das muss schrecklich für sie sein.«

»Sie hat Tante Zoë«, widersprach Polly.

»Die kommt mir nicht so vor, als wäre sie eine besonders gute Mutter. Todschick, aber keine Mutter. Weißt du, manche Menschen haben einfach nicht das Zeug dazu. Ich meine, schau dir Lady Macbeth an.«

»Eigentlich erinnert mich Tante Zoë nicht besonders an Lady Macbeth. Ich weiß, dass du Shakespeare gut findest, aber ehrlich, heute sind die Leute nicht mehr so wie damals.«

»Das sind sie schon!«

Darüber gerieten sie ein wenig in Streit, den Louise für sich entschied mit dem Argument, dass die Natur die Kunst nachahme, und das stamme nicht von ihr, sondern von jemandem, der sich mit solchen Sachen ganz genau auskenne. Die Sonne ging unter, leichter Dunst legte sich über den golden grünen Obstgarten, und durch die violetten Schatten verloren alle Farben ihren Glanz. Langsam wanderten Louises und Pollys Gedanken zu Milch und Keksen und zu ihren Müttern, die ihnen Gute Nacht wünschten.

***

»Warum geht ihr, du und Rupert, nicht zuerst ins Bad? Ich kann gerne warten, ich möchte sowieso kurz mit Nan reden, ob sie sich hier zurechtfindet. Kommst du, mein Schatz?«

Und Edward, der das Netz abgenommen hatte, ging mit ihr davon. Zoë sah ihnen nach, wie sie die Stufen zur Terrasse hinauf verschwanden. Edward legte den Arm um Villys Schultern und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Sie hatten mühelos gewonnen – hätten alle drei Sätze gewonnen, wenn Edward, der beste Spieler, nicht mehrere Doppelfehler nacheinander gemacht und den Aufschlag verloren hätte. Villy war auch gut, wie sie zugeben musste, nicht aufsehenerregend, aber eine ruhige Spielerin mit einer sicheren Rückhand, die kaum einen Ball verpasste. Zoë, die schlecht verlieren konnte, gab Rupert die Schuld, weil er das Spiel nicht ernst genug nahm. Seine Stärke waren Volleybälle, aber am Netz überließ er Bälle, die ihrer Ansicht nach seine gewesen wären, öfter einfach ihr, und die hatte sie natürlich häufig nicht erreicht. Zumindest hatten sie nicht gegen Sybil gespielt – sie schlug doch tatsächlich Unterhand auf, lachte nur, wenn sie einen Ball nicht erwischte, und bat die anderen, ihr keine so schnellen Bälle zuzuspielen. Das Schlimmste war, dass jeder tat, als wäre sie genauso gut wie die anderen. Alle waren so schrecklich nett zueinander. Sie waren auch nett zu ihr, aber nur, weil sie durch die Heirat mit Rupert zur Familie gehörte. Sie hatte nicht das Gefühl, wirklich gemocht zu werden.

»Ich gehe ins Bad«, rief sie Rupert zu, der die Tennisbälle einsammelte. »Ich lasse das Wasser für dich in der Wanne.« Und bevor er etwas erwidern konnte, lief sie leichtfüßig die Treppe hinauf.

Wenigstens war das Wasser heiß. Sie hatte sich den Kopf zerbrochen, wie sie sich, ohne unhöflich zu sein, das erste Bad sichern konnte, und dann hatte Villy es ihr unglaublicherweise einfach angeboten. Aber das Badezimmer war grauenhaft – eiskalt und unglaublich hässlich mit den Kieferpaneelen an den Wänden und dem Fensterbrett, auf dem immer tote Schmeißfliegen lagen. Sie ließ das Wasser so heiß einlaufen, dass sie sich fast verbrühte, und glitt dann wohlig bis zum Hals hinein. Diese Familienferien! Man könnte doch erwarten, dass die Cazalets, wenn sie ihre Enkel wirklich so liebten, auf Clarissa und Neville aufpassen würden, damit sie, also Zoë und Rupert, eine richtige Urlaubsreise unternehmen konnten, und zwar allein. Aber jedes Jahr – bis auf das erste gleich nach der Hochzeit, als Rupert mit ihr nach Cassis gefahren war – mussten sie wochenlang hierherkommen, und sie hatte Rupert kaum je für sich, außer im Bett. Abgesehen davon musste jeden Tag etwas mit den ganzen Kindern unternommen werden, und alle waren nur darauf bedacht, dass die ihren Spaß hatten. Dabei hatten sie den sowieso, sie konnten ja mit den anderen spielen. Dieses ganze Zusammenglucken war ihr fremd, und es entsprach auch überhaupt nicht ihren Vorstellungen von einem Urlaub.

Zoë war zwei gewesen, als ihr Vater in der Schlacht an der Somme gefallen war. Sie hatte keine Erinnerung an ihn, obwohl Mummy immer sagte, er habe mit ihr, als sie achtzehn Monate alt war, Hoppe-hoppe-Reiter gespielt. Mummy musste eine Stelle bei Elizabeth Arden annehmen und den ganzen Tag die Gesichter von anderen Leuten behandeln, also war sie mit fünf auf ein Internat gekommen – Elmhurst, hieß es, bei Cambridge. Sie war bei Weitem die Jüngste, und alle verwöhnten sie. Die Schule gefiel ihr gut, aber vor den Ferien in der plüschigen kleinen Wohnung in West Kensington graute ihr immer. Ihre Mutter war den ganzen Tag fort, und sie wurde von einem Strom ständig wechselnder dröger Haushaltshilfen versorgt, die sich unter schönen Ferien Busfahrten und Spaziergänge in den Kensington Gardens und Besuche im Teesalon vorstellten. Schon mit zehn hatte sie beschlossen, so bald wie möglich auszuziehen. Als sie älter wurde, gaben sie ihr bei den Schulaufführungen immer die Rolle der Heldin – nicht, weil sie so gut schauspielern konnte, sondern wegen ihres Aussehens. Sobald sie die Schule verließ, wollte sie auf die Bühne. Ganz bestimmt würde sie nicht so enden wie ihre Mutter, die sich nicht nur mit ihrer grauenhaften Arbeit abfand, sondern auch mit einer Reihe griesgrämiger alter Männer, von denen sie einen offenbar sogar heiraten wollte. Allerdings nicht mehr, nachdem Zoë ihr gesagt hatte, was er eines Tages, als Mutter außer Haus war, mit ihr zu tun versucht habe. Es hatte eine Riesenszene gegeben, und danach hörte ihre Mutter auf, sich die Haare zu färben, und beklagte sich fast nur noch über das schwere Leben, das sie führe.

Das einzige Thema, bei dem sie und ihre Mutter vollkommen übereinstimmten, war Zoës Aussehen. Zoë wuchs von einem entzückenden Baby zu einem außergewöhnlich hübschen Kind heran und entging sogar in den Jahren der Pubertät den üblichen Einbrüchen. Sie ging nicht in die Breite, nie hatte sie Pickel oder fettiges Haar, und ihre Mutter, die sich als Expertin in Sachen Aussehen verstand, erkannte sehr bald, dass ihre Tochter zu einer wahren Schönheit heranwachsen würde. Ganz allmählich übertrug sie auf Zoë alle Hoffnungen auf ein sorgenfreies und bequemes Leben, die sie für sich selbst gehegt hatte: ein netter Mann, der sie versorgte und sie der Notwendigkeit enthob, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Mit ihrem hinreißenden Aussehen würde Zoë jeden Mann bekommen, den sie wollte, und das bedeutete für Mrs. Headford einen sehr vermögenden Mann, der problemlos auch seine Schwiegermutter versorgen konnte. Also brachte sie Zoë bei, sich zu pflegen: ihr schönes volles Haar mit Henna und Eigelb zu behandeln, sich die Wimpern allabendlich mit Vaseline zu bürsten, die Augen mit heißem und kaltem Wasser zu spülen, mit Büchern auf dem Kopf durchs Zimmer zu gehen, sich nachts zum Schlafen Baumwollhandschuhe über die in Mandelöl gebadeten Hände zu ziehen und vieles andere mehr. Obwohl sie kein Mädchen zur Hilfe hatten, brauchte Zoë sich nie um den Haushalt zu kümmern und auch nicht zu kochen. Ihre Mutter kaufte eine gebrauchte Nähmaschine, schneiderte hübsche Kleider und strickte Pullover für sie. Und als Zoë mit sechzehn ihren Schulabschluss geschafft hatte und sagte, sie wolle zur Bühne, stimmte Mrs. Headford, die sich mittlerweile ein wenig vor ihr ängstigte, sofort zu. Man wusste ja, dass bisweilen auch Herzöge Frauen vom Theater heirateten, und da sie es sich nicht leisten konnte, ihre Tochter richtig in die Gesellschaft einzuführen, schien das eine gute Alternative. Sie schärfte Zoë ein, sich auf keinen Fall auf einen Schauspieler einzulassen, nähte für sie zum Vorsprechen ein schlichtes, aber perfekt sitzendes grünes Kleid, das zu ihren Augen passte, und wartete auf Ruhm und Reichtum ihrer Tochter. Allerdings kaschierte Zoës mangelnde Erfahrung gekonnt ihr mangelndes Schauspieltalent, und nachdem zwei Regisseure ihr zum Besuch einer Schauspielschule geraten hatten, war Mrs. Headford klar, dass sie auch weiterhin für Schulgebühren aufkommen musste. Auf Elsie Fogertys Akademie bekam Zoë zwei Jahre lang Unterricht in Sprechen und Mimik, sie lernte zu gehen und zu tanzen und sogar ein wenig zu singen. Umsonst. Hinreißend, wie sie aussah, und angesichts ihres Eifers bemühten sich ihre Lehrer unverwandt, eine Schauspielerin aus ihr zu machen, weit länger womöglich, als wenn sie unscheinbarer gewesen wäre. Sie blieb hölzern und befangen und war alles in allem unfähig, Sätze so zu sprechen, als stammten sie von ihr. Ihr einziges Talent lag in der Bewegung. Sie tanzte gerne, und schließlich wurde befunden, sie solle sich darauf konzentrieren. Sie verließ die Akademie und nahm Unterricht im Steppen und im Ausdruckstanz. Das einzig Positive, das sich von der Schauspielschule sagen ließ, war, dass sich zwar eine Reihe von Studenten in Zoë verliebte, sie aber stets Distanz wahrte. Ungeachtet des offensichtlichen Grunds hierfür zog Mrs. Headford voreilig den Schluss, Zoë sei »vernünftig« und wisse, was auf dem Spiel stand.

Mit einer Freundin aus Elmhurst, einem Mädchen namens Margaret O’Connor, war Zoë in Kontakt geblieben. Margaret lebte in London, und nach ihrer Verlobung mit einem Arzt – »ziemlich alt, aber unglaublich nett« – lud sie Zoë ein, mit ihnen tanzen zu gehen. »Ian bringt einen Freund mit«, sagte sie. Dieser Freund war Rupert. »Er hat eine schreckliche Zeit hinter sich, er kann ein bisschen Aufmunterung gebrauchen«, erklärte Margaret ihr auf der Damentoilette des Gargoyle Club. Für Rupert war Zoë die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Zoë verliebte sich Hals über Kopf in ihn. Ein halbes Jahr später waren sie verheiratet.

»Bist du da drin?«

Zoë stieg aus der Wanne, wickelte sich in ein Handtuch und schloss die Tür auf.

»Hier ist es ja wie in einem türkischen Dampfbad!«

»Besser als ein Iglu. Wahrscheinlich ist das Speisezimmer ein Eispalast. Wie immer.«

Beim Anblick seiner verschlossenen Miene bereute sie die Bemerkung. Kritik an seinen Eltern konnte er nicht leiden. Er stieg in die Wanne und wusch sich heftig das Gesicht. Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die nasse Stirn.

»Entschuldigung!«

»Wofür?«

»Nichts. Ich ziehe mein Kleid mit den Margariten an, ja?«

»Schön.«

Sie verließ den Raum.

Nächste Woche gehe ich mit ihr in Hastings ins Kino, nahm Rupert sich vor. Sie hat nie ein richtiges Familienleben kennengelernt, deswegen ist ihr alles so fremd. Der Gedanke, sie könnte sich freuen, jetzt eine große Familie zu haben, kam ihm in den Sinn und verlor sich wieder, ohne dass er ihm länger nachhing.

***

Neville und Lydia saßen in der Badewanne, jeder an einem Ende. Neville war sauer auf Lydia, weil sie ohne ihn verschwunden war. Als sie sagte, er solle nicht so herumspritzen, dabei hatte er das doch fast gar nicht, klatschte er mit den Hacken ganz fest aufs Wasser und machte sie richtig nass. Ellen und Nan waren beim Abendessen, also konnte er tun, wozu er Lust hatte. Drohend zeigte er ihr den Schwamm und sah sie finster an. Dann legte er ihn sich auf den Kopf, und sie bewunderte ihn lachend. »Das kann ich nicht. Ich mag es nicht, wenn mir Badewasser in die Augen kommt.«

»Ich mag’s, wenn Badewasser überallhin kommt. Ich trinke es sogar.« Er hielt sich den Schwamm an den Mund und saugte lautstark daran.

»Das ist ganz seifig, dir wird noch schlecht.«

»Wird mir nicht, weil ich dran gewöhnt bin.« Er trank noch mehr, um es ihr zu beweisen. Dann schmeckte es nicht mehr so gut, und er ließ es bleiben. »Wenn ich will, kann ich die ganze Wanne leer trinken.«

»Das glaube ich auch. Ich habe gesehen, wie ein Frettchen ein Stück von einem Kaninchen mit Fell dran gefressen hat.«

»Wenn es nur ein Stück von einem Kaninchen war, muss es tot gewesen sein.«

»Vielleicht war’s ein ganzes Kaninchen gewesen, und das war der Rest davon.«

»Das hätte ich auch gern gesehen. Wo war das?«

»Im Gartenschuppen. In einem Käfig – es gehört Mr. McAlpine. Seine Augen waren ganz klein und rot. Ich glaube, es war wütend.«

»Wie viele Frettchen hast du schon gesehen im Leben?«

»Nicht viele. Nur ein paar.«

»Weißt du, alle Frettchen fressen Sachen.« Er versuchte sich vorzustellen, wie ein Frettchen aussah. Er kannte keine Tiere mit roten Augen.

»Morgen begleite ich dich, wenn du es dir ansiehst«, erbot er sich. »Ich bin an so was gewöhnt.«

»Gut.«

»Was bekommen wir zum Abendbrot? Ich habe einen Bärenhunger.«

»Du hast deine Himbeeren wieder ausgespuckt«, erinnerte Lydia ihn.

»Nur die letzten vierzehn oder so. Ein paar habe ich gegessen. Geht dich gar nichts an«, fügte er hinzu. »Halt den Mund, verdammt noch mal.«

Bevor Lydia etwas erwidern konnte, kam Villy ins Bad. »Macht voran, Kinder. Viele andere Menschen möchten auch baden.« Sie breitete ein Handtuch für Lydia aus, und sie stieg aus der Wanne und fiel ihr in die Arme. »Und was ist mit dir, Neville?«

»Ellen holt mich«, antwortete er, aber Villy griff schon nach einem weiteren Handtuch und half ihm heraus.

»Mummy, er hat geflucht! Weißt du, was er gerade gesagt hat?«

»Nein, und ich will es auch nicht wissen. Du sollst nicht petzen, Lydia, das ist nicht nett.«

»Ist es auch nicht«, stimmte Lydia zu. »Obwohl er lauter schreckliche Sachen gesagt hat, erzähle ich sie dir nicht weiter. Liest du mir was vor, Mummy? Beim Abendessen? Da ist mir immer so langweilig.«

»Heute Abend geht das nicht, mein Schatz. Es kommen Gäste zum Aperitif, und ich habe mich noch nicht umgezogen. Morgen. Aber ich schaue bei dir vorbei, um Gute Nacht zu sagen.«

»Das möchte ich aber auch hoffen.«

»Das möchte sie aber auch hoffen«, äffte Neville sie nach. »Sie meint, das ist das Mindeste, was du tun kannst.« Er grinste Villy an und offenbarte die Lücken, in denen sich die Spitzen viel größerer Zähne zeigten.

***

Edward beschloss, mit dem alten Herrn einen Whisky Soda zu trinken, während er auf sein Bad wartete. In einer ihrer Lagerhallen gab es ein Problem, das er unbedingt ohne Hugh besprechen wollte. Die Gelegenheit schien günstig, denn Hugh bekam, wie er gerade gesehen hatte, von der Duchy eine Führung durch den Garten. Und so steckte er den Kopf zur Tür des Arbeitszimmers hinein, und sein Vater, der an seinem Schreibtisch saß und eine Zigarre anschnitt, bat ihn herein.

»Alter Junge, schenk dir einen Whisky ein, und mir auch.«

Edward folgte der Aufforderung und setzte sich seinem Vater gegenüber in einen der ausladenden Stühle. William schob die Zigarrenkiste zu seinem Sohn hinüber und reichte ihm den Schneider. »Also, was hast du auf dem Herzen?«

Edward war wieder einmal erstaunt, woher sein Vater solche Dinge immer wusste. »Also, ehrlich gesagt, die Sache mit Richards beschäftigt mich sehr.«

»Die beschäftigt uns alle. Es hilft nichts, er wird gehen müssen.«

»Genau darüber wollte ich mit dir reden. Ich glaube, wir sollten nichts vorschnell entscheiden.«

»Wir können uns keinen Hallenleiter leisten, der so gut wie nie da ist! Zumindest nicht, wenn man ihn braucht.«

»Du weißt doch, Richards hat es im Krieg übel erwischt. Eine Brustverletzung, die nie ganz verheilt ist.«

»Deswegen haben wir ihn ja eingestellt. Wollten ihm eine Chance geben. Aber wenn man ein Unternehmen führt, kann man nicht ständig auf Krüppel Rücksicht nehmen.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung. Allerdings ist Hugh …« Er wollte sagen, dass Hugh ebenfalls nicht bei bester Gesundheit war, aber ihn würden sie nie im Leben feuern, doch der alte Herr fiel ihm ins Wort.

»Hugh sieht es genauso wie ich. Er meinte, wir bräuchten ihn vielleicht nicht ganz loszuwerden, sondern könnten ihm eine leichtere Aufgabe übertragen – mit weniger Verantwortung.«

»Und weniger Gehalt?«

»Das müssten wir vielleicht anpassen. Hängt davon ab, welche Verwendung wir für ihn finden.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Edward wusste, dass mit dem alten Herrn nicht zu reden war, wenn er sich einmal auf etwas versteift hatte. Kurz ärgerte er sich, dass Hugh die Sache hinter seinem Rücken mit ihrem Vater besprochen hatte, aber andererseits tat er ja gerade genau dasselbe. Er versuchte es noch einmal.

»Weißt du, Richards ist ein guter Kerl. Er ist unglaublich loyal, die Firma ist ihm wichtig.«

»Das möchte ich verdammt noch mal hoffen! Ich möchte verdammt noch mal hoffen, dass alle, die bei uns arbeiten, loyal sind – wäre es anders, dann stünden die Karten schlecht.« Seine Stimmung wurde etwas milder. »Wir könnten ihm etwas suchen«, sagte er. »Er könnte die Lastwagen verwalten – von Lawson habe ich nie viel gehalten. Oder ihm eine Stelle im Büro geben.«

»Wir können ihm nicht sechshundert im Jahr für eine Bürotätigkeit zahlen!«

»Tja – dann versetzen wir ihn in den Verkauf. Auf Kommissionsbasis. Dann liegt es bei ihm.«

Edward dachte an Richards mit seinem schmächtigen Körperbau und den demütigen braunen Augen. »Das geht nicht. Das geht ganz und gar nicht.«

»Was schlägst du vor?«

»Ich muss darüber nachdenken.«

William leerte sein Glas. »Verheiratet ist er? Mit Kindern?«

»Drei, und ein viertes ist unterwegs.«

»Wir finden etwas. Du und Hugh solltet euch einen guten Ersatz für ihn einfallen lassen. Es ist wichtig, dass wir an der Stelle einen guten Mann haben.« Er richtete seine durchdringenden blauen Augen auf Edward. »Das solltest du mittlerweile wissen.«

»Jawohl.«

»Gehst du jetzt?«

»Ich nehme ein Bad.«

Nachdem er gegangen war, dachte William, dass Edward mit keiner Silbe erwähnt hatte, Richards mache seine Arbeit gut, also lag Hugh mit seiner Einschätzung richtig.

***

Von ihrem Zimmer aus sah Rachel, dass die geheimnisvollen Besucher gekommen waren. Das Paar trat von der Auffahrt durch die weiße Pforte auf die zögerliche Art von Menschen, die sich einem unbekannten Haus nähern und nicht sofort erkennen, wo sich die Eingangstür befindet. Sie steckte Sids Brief in die Tasche ihrer Strickjacke zurück. Jetzt wollte sie ihn auch nicht lesen, die Eile würde ihr die Freude verderben. Ihre Hilfsbereitschaft, ihr Pflichtgefühl und die vielen Menschen überall hatten ihren Versuch vereitelt, irgendwann im Verlauf des Tages einen ruhigen, ungestörten Moment zu finden. Jetzt musste sie der Duchy helfen herauszufinden, wie, in aller Welt, die Neuankömmlinge hießen. Allerdings war dieses Problem rasch vom Tisch, denn sie hörte ihren Vater aus dem Arbeitszimmer kommen und zur Begrüßung rufen: »Guten Abend, die Herrschaften, guten Abend! Wie schön, dass Sie gekommen sind. Leider ist mir glatt Ihr Name entfallen, aber früher oder später geht uns das allen so. Pickthorne! Aber natürlich! Kitty! Die Pickthornes sind eingetroffen! Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten, Mrs. Pickthorne? Ein Gläschen Gin? All meine Schwiegertöchter trinken Gin. Schreckliches Zeug, trifft aber offenbar den Geschmack der Damen.«

Rachel hörte das Klirren des Getränkewagens, der aus dem Haus geschoben wurde – von Hugh, wie sie feststellte. Vielleicht konnte sie doch ihren Brief lesen, bevor sie nach unten ging? In dem Moment klopfte es an ihrer Tür, ein zartes, recht unerfahrenes Klopfen.

»Herein!«

Es war Clary. Sie hielt mit einer Hand die andere fest, um die eine ehemals weiße Bandage gewickelt war.

»Was ist passiert, Clary?«

»Eigentlich nichts. Ich denke bloß, vielleicht habe ich Tollwut.«

»Weswegen, in aller Welt, denkst du denn das, Herzchen?«

»Ich habe Lydia im Gartenschuppen Mr. McAlpines Frettchen gezeigt. Und dann hat Nan sie geholt, und ich bin zurückgegangen, um mir das Frettchen noch einmal anzusehen, und da fraß es schon nicht mehr, weil das Kaninchen schon fast aufgefressen war, und dann sah es so einsam aus in seinem Käfig, dass ich es rausgelassen habe, und es hat mich gebissen – nur ein bisschen –, nicht fest, aber es hat geblutet. Und man muss die Stelle mit einem heißen Bügeleisen ausbrennen, aber so mutig bin ich nicht, außerdem weiß ich nicht, wo hier die Bügeleisen stehen. So heißt es in dem Buch von Louisa Alcott, und Dad ist im Bad und hört mich nicht, und ich dachte, vielleicht kannst du mich zum Tierarzt bringen oder …« Sie holte tief Luft. »Mr. McAlpine wird wütend sein und mich schimpfen, also könntest vielleicht du es ihm sagen?«, schloss sie.

»Jetzt schauen wir uns erst mal deine Hand an.«

Rachel löste den Verband, der sich als eines von Clarys Söckchen entpuppte, und betrachtete ihre heiße, schmutzige kleine Hand. Der Biss an ihrem Zeigefinger sah nicht tief aus. Während sie ihn mit Wasser aus ihrem Krug wusch und Jod und Pflaster aus ihrer Hausapotheke holte, erklärte sie, dass es in England keine Tollwut mehr gebe, weswegen Ausbrennen überflüssig sei. Das Jod ertrug Clary sehr tapfer, aber eine Sache lag ihr immer noch auf der Seele.

»Tante Rach? Könntest du mitkommen und mir helfen, das Frettchen wieder in seinen Käfig zu sperren? Damit Mr. McAlpine nichts davon erfährt?«

»Ich glaube, weder du noch ich sind die Richtigen dafür. Und jetzt musst du zu Mr. McAlpine gehen und dich entschuldigen. Er fängt es wieder ein.«

»O nein, Tante Rach! Er wird ganz schrecklich wütend sein.«

»Ich begleite dich, aber du musst dich entschuldigen. Und versprich, dass du so etwas nie wieder machst. Das war wirklich sehr ungezogen von dir.«

»Ich wollte es ja gar nicht. Und es tut mir wirklich leid.«

»Na, das musst du ihm sagen. Komm, lass uns gehen.«

Also musste ihr Brief wieder warten.

***

Die Pickthornes blieben bis zwanzig nach acht, als eine beiläufige Bemerkung ihres Gastgebers Mrs. Pickthorne endgültig davon überzeugte, dass sie doch nicht zum Dinner eingeladen waren. »Wir müssen wirklich gehen«, sagte sie zweimal – zunächst zaghaft, dann verzweifelt. Ihr Gatte hörte sie zwar bereits beim ersten Mal, gab aber vor, sie nicht verstanden zu haben, um die Auseinandersetzung mit ihr im Wagen so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber vergeblich. Beherzt stand William auf, ergriff Mrs. Pickthorne ziemlich schmerzhaft am Arm und geleitete sie zur Pforte, ihren Abschiedsgruß konnte sie nur beim Gehen über die Schulter werfen. Mr. Pickthorne musste ihr wohl oder übel folgen. Es gelang ihm, seinen Hut zu vergessen – einen Panama –, doch das Kind, das Kekse herumgereicht hatte, holte ihn auf Geheiß von Onkel Edward. »Sie müssen uns wirklich bald wieder besuchen«, rief William, als sie in der Sicherheit des Wagens saßen. Mr. Pickthorne rang sich ein sprödes Lächeln ab und legte knirschend den Gang ein, dann holperte er die Auffahrt hinunter. Mrs. Pickthorne tat, als habe sie ihn nicht gehört.

»Ich dachte, die würden nie gehen!«, brummte William, als er durch die Pforte zurückstapfte.

»Sie dachten, du hättest sie zum Dinner eingeladen«, erklärte Rachel.

»Ach, das glaube ich nicht. Unmöglich. Oder doch?«

»Natürlich hast du sie zum Dinner eingeladen«, sagte die Duchy gelassen. »Es ist wirklich eine leidige Angewohnheit, William. Höchst unredlich ihnen gegenüber.«

»Jetzt streiten sie den ganzen Weg bis nach Hause, wo eine Dose Sardinen auf sie wartet«, sagte Rupert. »Ich möchte jetzt nicht in Mr. Pickthornes Haut stecken. Es wird alles seine Schuld sein.«

Eileen, die seit einer guten halben Stunde im Hintergrund gelauert hatte, trat vor und sagte, dass Essen sei aufgetragen.

***

»Er hat gesagt«, das war sein vierter Versuch, »›Sie müssen zum Essen kommen.‹ Und später, als wir aus dem Zug stiegen, sagte er: ›Kommen Sie gegen sechs auf einen Drink vorbei.‹«

»Genau!«

»Tja, es ist alles meine Schuld, wie immer«, sagte er nach mehreren Minuten ungemütlichen Schweigens.

»Ach, und damit ist die Angelegenheit vom Tisch, ja? Es ist alles deine Schuld, also brauchen wir uns nicht mehr darüber zu unterhalten?«

»Mildred, du weißt, ich kann dich nicht daran hindern zu sagen, was du magst.«

»Ich habe nicht die geringste Lust, weiter auf dem Thema herumzureiten.«

Kurz darauf meinte sie: »Es ist nichts zu essen im Haus.«

»Wir könnten eine Dose Sardinen aufmachen.«

»Sardinen! Sardinen!«, wiederholte sie, als handele es sich um Dosenmäuse, als würde nur ein Verrückter auf die Idee kommen, sie in einer Dose zu konservieren. »Wenn du so erpicht bist auf Sardinen, bitte sehr. Du weißt genau, was sie mit mir anstellen.«

Ich weiß, was ich gerne mit dir anstellen würde, dachte er. Ich würde dich gerne ganz langsam erwürgen und dann in den Brunnen werfen. Die Brutalität dieses Gedankens entsetzte ihn, ebenso wie der Umstand, mit welcher Leichtigkeit und Schnelle er ihm in den Sinn gekommen war. Ich bin nicht besser als dieser Crippen, dachte er. Ein böser Mensch. Er legte ihr eine Hand aufs Knie. »Es tut mir leid, dass ich dir den Abend verdorben habe. Besonders viel Spaß hast du im Leben wirklich nicht. Mir ist es egal, was ich esse. Was immer du auf den Tisch zauberst, wird köstlich sein, wie jedes Mal.« Mit einem kurzen Blick zu ihr sah er, dass er den richtigen Ton angeschlagen hatte.

»Wenn du anderen Leuten nur richtig zuhören würdest«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben noch ein paar Eier.«

***

Das Essen dauerte ewig, fand Zoë. Es gab kalten Lachs und neue Kartoffeln und Erbsen und zu trinken einen wirklich köstlichen Rheinwein (obwohl William Weißwein als Damengetränk bezeichnete und eine Flasche Bordeaux trank), danach ein Schokoladensoufflé und abschließend Stilton und Portwein, aber es zog sich endlos in die Länge, weil alle so viel redeten, dass sie vergaßen, sich vom Gemüse zu nehmen, wenn ihnen die Schüssel gereicht wurde. Dann aßen die Männer eine zweite Portion Lachs und natürlich das viele Gemüse – Rupert stand auf und reichte es herum, und unterdessen unterhielten sie sich über mehrere Dinge gleichzeitig – das Theater –, dafür interessierte sie sich ja, aber doch nicht für französische Tragödien und Shakespeare und Versdramen! Dann allerdings drehte sich Edward zu ihr und fragte, welche Stücke sie gerne sehe, und auf ihre Antwort, sie sei in letzter Zeit nicht im Theater gewesen, erzählte er ihr von einem, das French Without Tears hieß. Gerade dachte sie, dass der Titel ziemlich langweilig klang, als er lachend sagte: »Weißt du noch, Villy, dieses wunderbare junge Mädchen, Kay Sowieso, und einer der Männer sagte: ›Sie hat mir grünes Licht gegeben‹, worauf der andere meinte, sie sei mit ihrem Gelb und Rot ein bisschen sparsam gewesen?« Und nachdem Villy lächelnd genickt hatte, um ihn nicht zu enttäuschen, wandte er sich wieder an Zoë. »Das solltest du dir einmal ansehen, ich glaube, das würde dir gefallen.« Sie mochte Edward, und sie hatte den Eindruck, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Auf dem Weg ins Esszimmer hatte er vorhin ihr Kleid bewundert. Es war aus marineblauem Voile mit großen weißen Margariten mit gelber Mitte und hatte einen ziemlich tiefen V-Ausschnitt, und einmal glaubte sie zu spüren, dass Edward ihr ins Dekolleté schaute, und sie blickte zu ihm, und er linste tatsächlich. Dann lächelte er und zwinkerte ihr zu. Sie versuchte, streng die Stirn zu runzeln, aber eigentlich war das der schönste Moment beim ganzen Dinner. Sie überlegte sich, ob er sich vielleicht in sie verliebte. Das wäre natürlich furchtbar, aber nicht ihre Schuld. Sie würde zurückhaltend sein, aber großes Verständnis zeigen, wahrscheinlich würde sie ihm einen Kuss gestatten, denn einmal war keinmal, sie würde sich überrascht geben, zumindest würde er glauben, dass sie überrascht wäre. Aber sie würde ihm erklären, dass es keinen Zweck habe, weil es Rupert das Herz brechen würde, und außerdem liebe sie Rupert. Was stimmte. Sie würden sich zum Lunch im Ivy treffen – nach dem Kuss, hieß das. Beim Lunch würde sie ihm dann alles erklären. Jetzt, seit der Hochzeit, wurde sie kaum noch zum Lunch eingeladen, und Rupert war als Kunsterzieher viel zu arm, als dass sie, Zoë, andere Leute einladen könnte. Er würde sie anflehen, sie wenigstens bisweilen sehen zu dürfen – sie fragte sich, ob sie ihm das vielleicht doch hin und wieder gestatten sollte …

»Liebling! War das nicht der Mann, der dich im Gargoyle unentwegt angestarrt hat?«

»Welcher Mann?«

»Du weißt schon, wen ich meine. Der kleine Mann mit den vorstehenden Augen. Der Dichter.«

»Das weiß ich doch nicht. Ich frage Leute, die mich anstarren, doch nicht nach ihrem Namen!«

Sie glaubte, eine zündende Replik gelandet zu haben, aber danach herrschte kurz Stille, bis Sybil sagte: »Dylan Thomas in einem Nachtclub? Hochinteressant!«

»Genau der war’s«, bekräftigte Rupert.

»Früher traf man Dichter überall«, sagte die Duchy. »Erst neuerdings verschwinden sie offenbar alle unter der Erde. In meiner Jugend waren sie durchaus gern gesehene Gäste. Man traf sie beim Lunch und zu völlig normalen Anlässen.«

»Meine liebe Duchy, der Gargoyle Club liegt im dritten Stock.«

»Tatsächlich? Ich dachte, alle Nachtclubs wären unterirdisch, ich weiß nicht, warum. Ich habe nie einen besucht.«

»Und jetzt ist es zu spät«, sagte William.

»Viel zu spät«, erwiderte sie ungerührt und läutete, damit Eileen die Teller abräumte.

Edward stieg noch in ihrem Ansehen, als er sagte: »Wozu Lyrik gut sein soll, ist mir immer ein Rätsel geblieben. Ich habe keinen blassen Schimmer, worauf die alle hinauswollen.«

»Aber mein Schatz, du liest nie irgendetwas«, sagte Villy. »Also tu nicht so, als würdest du nur Lyrik nicht lesen.«

Während Edward gutmütig meinte, eine Intellektuelle in der Familie genüge, musterte Zoë seine Frau. Irgendwie passte Villy nicht zu ihm. Sie war … man konnte sie nicht als unattraktiv bezeichnen, aber sie hatte nichts Glamouröses an sich. Ihre knochige Nase war zu groß, und auch ihr Gesicht wirkte knochig. Allerdings hatte sie kräftige Augenbrauen, die sehr dunkel waren und nicht grau wie ihr Haar, und eine knabenhafte Figur, die trotzdem nicht reizvoll wirkte. Ihre braunen Augen waren ganz schön, aber die Lippen viel zu dünn. Insgesamt überraschte es sie, dass Edwards Wahl auf eine solche Frau gefallen war. Natürlich verstand sie sich auf viele Sachen, und zwar richtig gut – nicht nur Reiten und Tennis, sie spielte auch Klavier und irgendein Blasinstrument, sie las französische Bücher, klöppelte echte Spitze für Kissen, band Bücher in weiches, geschmeidiges Leder und webte Tischuntersetzer, die sie dann bestickte. Es gab nichts, was sie nicht konnte, und keinen Grund, weshalb sie auch nur eines davon tun sollte – Edward besaß viel mehr Geld als Rupert. Außerdem stammte sie, wie Zoës Mutter (und folglich Zoë) es bezeichnete, aus einer angesehenen Familie, obwohl Zoë derlei Bemerkungen nicht mehr laut äußerte. Villys Vater war ein Baron gewesen, in ihrem Salon stand ein Foto von ihm im Silberrahmen. Er sah ziemlich altmodisch aus mit seinem gewaltigen herabhängenden Schnauzbart, dem Stehkragen mit enger Krawatte und den großen, melancholischen Augen. Er war Komponist gewesen, und zwar ein ziemlich bekannter – sie wünschte, Rupert würde auch bekannt werden. Mit Porträtmalerei konnte man viel verdienen, wenn man die richtigen Menschen malte. Lady Rydal allerdings war ein richtiger alter Drachen. Zoë hatte sie nur kurz kennengelernt, bald nach der Hochzeit. Das war hier in diesem Haus gewesen. Die Duchy hatte sie zu Besuch eingeladen, weil alle Sir Hubert ins Herz geschlossen hatten und seine Frau ihnen nach seinem Tod leidtat. Lady Rydal hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie lackierte Nägel missbilligte, ebenso wie Shorts bei Mädchen, Kino und Alkohol für Frauen – eine richtige Spielverderberin.

»Und was denkst du, schweigsame Zoë?«

»Rupert sagt, ich könnte gar nicht richtig denken«, antwortete sie. Sie war dem Gespräch nicht gefolgt und wusste noch nicht einmal ansatzweise, worüber sie sich unterhielten.

»Liebling, das habe ich nie gesagt. Ich habe gesagt, dass du dich auf deine Intuition verlässt.«

»Frauen sind durchaus in der Lage zu denken«, sagte die Duchy. »Sie denken nur über andere Dinge nach.«

»Ich weiß wirklich nicht, weshalb Zoë sich Gedanken über Mussolini machen sollte«, antwortete Edward.

»Natürlich nicht! Je weniger Gedanken sie auf ihn verschwendet, desto besser! Zerbrich dir bloß nicht dein hübsches kleines Köpfchen über den welschen Diktator«, meinte der Brig freundlich an seine Schwiegertochter gewandt. »Obwohl ich zugeben muss, er hat gute Arbeit geleistet, als er die ganzen Eukalyptus gepflanzt und die Sümpfe trockengelegt hat. Das muss ich ihm lassen.«

»Mein lieber Brig! Du sprichst, als hätte er sie eigenhändig gepflanzt.« Rachel verzog amüsiert das Gesicht. »Das stelle man sich mal vor! Jeder Knopf seiner Uniform bis zum Äußersten angespannt bei jedem Bücken …«

Sybil hatte bis jetzt mit freundlichem Interesse der außerordentlich langen Erzählung des Brig über seinen zweiten Besuch in Birma zugehört. Jetzt sagte sie: »Aber er hat doch auch ein paar gute Straßen gebaut, oder nicht? Ich meine, bauen lassen?«

»Und ob«, pflichtete Edward ihr bei. »Er hat Arbeitsplätze geschaffen und dafür gesorgt, dass die Leute anpacken. Und bei Gott, ich wette, dass sie dort schwerer schuften als hier! Manchmal kommt es mir vor, als könnte dieses Land auch einen Diktator gebrauchen. Schaut euch doch Deutschland an! Schaut euch Hitler an! Was hat der nicht alles für sein Volk getan!«

Hugh war entsetzt. »Wir wollen keinen Diktator, Ed! Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Natürlich wollen wir den nicht! Was wir brauchen, ist eine anständige sozialistische Regierung. Jemand, der die Arbeiterklasse versteht. Mit der richtigen Motivation würden sie auch schwer schuften.« Herausfordernd sah sich Rupert um und betrachtete seine Tory-Familie. »Ihr hier wollt nichts anderes, als den Status quo zu erhalten.«

Das Schokoladensoufflé wurde aufgetragen und lenkte alle von diesem sattsam bekannten Konflikt ab, obwohl Zoë Edward murmeln hörte, seiner Ansicht nach sei am Status quo absolut nichts auszusetzen.

Nach dem Soufflé meinten Sybil und Villy, sie würden die Kinder endgültig ins Bett stecken. Zoë blieb sitzen, die anderen sollten nicht merken, wie wenig Clary sie mochte. Rachel bemerkte das und sagte, sie werde ihre Zigaretten holen. Die Duchy schlug vor, die Männer ihrem Käse und dem Portwein zu überlassen.

***

Louise und Polly badeten gemeinsam und ließen danach, wie aufgetragen, das Wasser für Clary in der Wanne. Die kam zwar nicht, aber sie sahen keinen Grund, nach ihr zu suchen. Sie bürsteten sich das Haar und flochten Louise einen Zopf, was sich etwas schwierig gestaltete, weil es eigentlich noch zu kurz dafür war. Louise hatte beschlossen, es wachsen zu lassen, damit sie später, als Schauspielerin, nicht immer eine Perücke tragen musste. »Aber wenn du jemand sehr Alten spielst, musst du doch eine weiße tragen«, meinte Polly, aber Louise erwiderte, die einzige alte Person, die sie darstellen wolle – und es heiße »darstellen« und nicht »spielen« –, sei Lear, und es gehe am Theater noch sehr ungerecht zu, weil Frauen die wirklich guten Shakespeare-Rollen nicht bekamen.

»Wahrscheinlich werde ich mit Hamlet anfangen müssen«, sagte sie.

»Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach Rosalind sein kannst – oder Viola. Die tragen beide Männerkleidung.«

»Aber darunter sind sie Frauen. Darum geht es doch. Den Haargummi wickle ich mir selber rum, wenn andere das machen, ziept es immer.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Weißt du, Polly, du solltest dir wirklich überlegen, was du machen willst – allmählich bist du ein bisschen zu alt, um es nicht zu wissen.«

»Ich weiß. Ich glaube, ich würde ganz gerne heiraten«, sagte sie nach ein paar Minuten.

»Das ist schwach! Alle Leute heiraten. Das ist total langweilig.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Gleich würde Louise ihr wieder furchtbare Vorschläge unterbreiten. Pollys Ansicht nach müssten ihr doch allmählich die Ideen ausgehen, aber ihr fiel immer wieder etwas Neues ein.

»Fischhändlerin? Dann könntest du eine lange Schürze und einen hübschen kleinen Strohhut tragen.«

»Das fände ich entsetzlich. Es ist eklig, wenn aus einem Fisch das Blut rauskommt.«

»Du würdest sie aber hübsch auf dem Marmor anrichten.«

»Schon, aber nicht, wenn es Fische sind.«

»Du darfst nicht so zimperlich sein, Polly! Wenn du zimperlich bist, wirst du nie einen Beruf finden. Ich werde Leute erstechen und erwürgen müssen und ohnmächtig Treppen hinunterfallen.«

»Wenn du dich weiter so benimmst, dann lese ich.«

»Also schön, dann höre ich auf. Lass uns doch Teddy und Simon suchen und mit ihnen Monopoly spielen.«

Aber Teddy und Simon, die im Unterrichtsraum saßen, waren in ein Spiel vertieft, das dem Anschein nach noch ewig dauern würde.

»Das nächste spielen wir mit euch«, sagte einer von ihnen, aber das war ein müßiges Versprechen, denn höchstwahrscheinlich würden sie lange vor dem Ende dieses Spiels ins Bett geschickt werden.

»Wenn ihr den Mund haltet, könnt ihr hierbleiben«, sagte der andere, also kehrten sie natürlich mitsamt ihrem Essenstablett in ihr Zimmer zurück. Louise wollte die Tür mit einem Knall ins Schloss werfen und verschüttete einen Großteil ihrer Milch.

»Wenn nur Pompey hier wäre! Er liebt verschüttete Milch, viel mehr als aus der Untertasse.« Mit einem Waschlappen wischten sie alles auf, und Polly bot ihr an, das Glas nachfüllen zu lassen.

»Bitte sag, dass ich sie in einem Becher möchte. Ich mag keine Milch im Glas, da sieht sie so wässrig aus.«

Nach dem Abendessen gingen sie ins Bett, und Polly holte ihr Strickzeug hervor, ein dicker, sehr zartrosa Pullover, an dem sie seit den Weihnachtsferien arbeitete. Louise vertiefte sich in Die weite, weite Welt und zog schon bald ständig die Nase hoch und trocknete sich die Augen an der Zudecke. »Offenbar ist alles, was mit Gott zu tun hat, furchtbar traurig«, sagte sie. Polly hörte auf zu stricken, immerhin hatte sie fast zwei Zentimeter geschafft, und las in ihrem Buch mit Feengeschichten. Es machte keinen Spaß, nicht zu lesen, wenn der andere las. Sie schaltete das Licht an, und Motten flogen herein, kleine flattrige und große, dicke, die dumpf gegen den Lampenschirm prallten.

Als Villy und Sybil hereinkamen, fragten sie sofort, wo Clary sei.

»Weiß nicht«, sagte Polly.

»Die haben wir schlicht vergessen«, ergänzte Louise, aber beide wussten, dass es Ärger geben würde. Nach einigen Fragen zogen die Mütter los, um nach ihr zu suchen. Dann kam Tante Rachel und wollte dasselbe wissen.

»Das wissen wir nicht, Tante Rach, ehrlich nicht. Sie ist zum Abendessen nicht ins Unterrichtszimmer gekommen. Wir haben auch das Badewasser für sie in der Wanne gelassen.« Louise versuchte, es freundlich klingen zu lassen, was aber misslang, weil es eben nicht nett war. Tante Rachel ging sofort wieder, und sie hörten, wie sie mit ihren Müttern sprach. Sie sahen sich an.

»Unsere Schuld ist es nicht.«

»Doch, ist es schon«, widersprach Polly. »Wir wollten nicht, dass sie nach dem Tee mit uns mitkommt.«

»Mist! Das Problem ist, wenn sie da ist, habe ich immer so ein blödes Gefühl, und deswegen mag ich sie nicht. Nicht besonders.«

Nach einer Pause meinte Polly: »Das blöde Gefühl macht man sich selber – das kommt daher, wie wir zu ihr sind. Wir sollten …« Aber in dem Moment kam Tante Villy herein, und sie verstummte.

»Jetzt hört mal, ihr beiden. Ihr dürft euch nicht gegen Clary verbünden. Wie würde es euch gefallen, wenn sie und eine von euch das mit der anderen täten?«

»Wir haben uns nicht gegen sie verbündet, ehrlich nicht«, begann Louise, aber Polly sagte: »Wir tun’s nicht mehr, versprochen.«

Aber Tante Villy ging gar nicht darauf ein. »Louise, ich gebe vor allem dir die Schuld, weil du die Älteste bist.« Dabei schlug sie Clarys Bett auf und öffnete ihren etwas ramponierten Koffer. »Ihr hättet ihr wenigstens beim Auspacken helfen können.«

»Polly ist genauso alt wie Clary, und ihr habe ich auch nicht beim Auspacken geholfen.«

In dem Moment kam Tante Sybil herein. »Sie ist nirgends zu finden«, sagte sie. »Rachel fragt gerade in der Küche nach ihr, aber ich glaube, wir sollten Rupert holen.«

»Tante Syb, sollen wir nach ihr suchen?«

Villy kam ihrer Schwägerin mit einer Antwort zuvor. »Nichts da! Ihr werdet hübsch ihren Koffer auspacken, und eine von euch kann aus dem Unterrichtszimmer ihr Essen holen. Ich bin sehr enttäuscht von dir, Louise.«

»Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid.« Louise sauste zum Koffer und machte sich daran, Clarys Kleidung herauszunehmen.

Polly stand auf, um das Tablett zu holen. Sie spürte, dass ihre Mutter nicht so böse auf sie war wie Tante Villy auf Louise, die mittlerweile wirklich unglücklich war, das wusste sie. Dann wurde ihr klar, dass ihre Mutter das auch bemerkte. Kurz begegneten sich ihre Blicke. »Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«, fragte Sybil.

Polly dachte angestrengt nach, aber sie war ja nicht Clary, also woher sollte sie das wissen? Sie schüttelte den Kopf. Die Mütter gingen, und Louise weinte.

Zu guter Letzt, nachdem sie Rupert informiert und die Onkel sich an der Suche beteiligt hatten und selbst Zoë rund um den Tennisplatz nach ihr gerufen hatte und man in den Stallungen und im Cottage des Gärtners, in den Gewächshäusern und sogar im Wald gewesen war, fand Rachel sie schließlich. Sie wollte nur kurz aus ihrem Zimmer einen Mantel holen, um bei der Suche mitzuhelfen, und da lag Clary schlafend bei ihr auf dem Boden. Sie hatte sich aus Sesselpolstern ein kleines Bett gebaut und mit Rachels Mantel zugedeckt. Sie schlief tief und fest, neben ihr standen ihre Strandschuhe. Auf Rachels Kissen lag ein Zettel. »Liebe Tante Rach, ich würde lieber bei dir im Zimmer schlafen. Ich hoffe, das stört dich nicht. Ich habe mich nur nicht ausgezogen, um nicht zu frieren. Liebe Grüße von Clary.« Rupert sagte, er werde sie wecken, mit ihr reden und sie dann in ihr Zimmer bringen, aber Rachel meinte, es sei viel besser, sie zu lassen, wo sie war, und holte eine Decke und ein richtiges Kissen für sie.

So wurde an dem ersten Abend erst sehr spät Kaffee getrunken, und dann spielten die Duchy und Villy ein paar Duette, was Zoë schrecklich langweilig fand, weil man dabei nicht reden durfte. Sybil ging als Erste zu Bett, und Hugh sagte, er werde sie begleiten.

»Was sollte das jetzt alles?«, fragte er. »Was meinst du?«

»Na ja, Louise und Polly sind gut befreundet, sie sehen sich in London praktisch jeden Tag. Wahrscheinlich fühlt Clary sich etwas ausgeschlossen.«

»Komm, lass mich das machen.« Er nahm die Haarnadeln aus ihrer Frisur und legte sie einzeln in ihre offene Hand. »Dafür bist du doch zu müde«, sagte er vorwurfsvoll und so zärtlich, dass ihr Tränen in die Augen traten.

»Zu müde, um die Arme über den Kopf zu heben. Danke, mein Liebling.«

»Ich ziehe dich aus.«

Sie stand auf, und er streifte ihr das Kleid über den Kopf.

»Villy hat es mit Louise etwas übertrieben. Das tut sie immer.«

»Das geht uns aber nichts an.« Er löste die Haken ihres Büstenhalters und schob die Träger über ihre Schultern und Arme. Sie trat aus ihrem Schlüpfer, streifte die Sandalen ab und stand nackt, grotesk und wunderschön vor ihm. »Wo ist dein Nachthemd?«

»Ich glaube, auf dem Bett. Mein Liebling. Mittlerweile musst du es doch satthaben, wie ich aussehe.«

»Ich staune jedes Mal wieder aufs Neue. Und ich empfinde es als Privileg, dich so zu sehen«, fügte er weniger dramatisch hinzu. »Geh ins Bett.«

»Es kann für Rupert nicht leicht sein.«

»Mach dir keine Sorgen um ihn.«

Stöhnend legte sie sich ins Bett.

»Ich wünschte, du müsstest am Montag nicht zurückfahren.«

»Wenn du möchtest, kann ich sicher mit Edward tauschen.«

»Nein, nein. Ich möchte dich lieber nach der Geburt in London bei mir haben.«

Er zog die Vorhänge auf. Zwar weckte ihn das Morgenlicht, aber er wusste – oder glaubte zu wissen –, dass sie das lieber mochte.

»Du brauchst sie nicht zu öffnen, es macht mir wirklich nichts aus.«

»Ich mag es, wenn sie offen sind«, log er. »Das weißt du doch.«

»Natürlich.« Unsinnig, sich zu wünschen, die Vorhänge wären geschlossen, da sie doch wusste, dass er die frische Luft mochte. Auch wenn das Licht sie morgens weckte, war das ein kleines Opfer für jemanden, den sie so sehr liebte.

***

»… und ich glaube wirklich, wenn Zoë sich als Stiefmutter nur ein kleines bisschen Mühe geben würde, wäre die arme Clary viel umgänglicher.«

»Na ja, weißt du, sie ist unglaublich jung. Wahrscheinlich fühlt sie sich von der Riesenfamilie überfordert. Ich mag sie«, fügte er hinzu.

»Das weiß ich.« Villy schraubte gerade ihre Ohrringe ab und legte sie in ihr ramponiertes Kästchen zurück.

»Na, es ist doch gut, dass jemand sie mag – neben Rupert, natürlich.«

»Ich glaube, das hat nichts mit mögen zu tun. Er ist verrückt nach ihr, aber das ist etwas völlig anderes.«

»Ich fürchte, das ist mir zu hoch.« Er sprach undeutlich, weil er sein Gebiss zum Putzen herausgenommen hatte.

»Du weißt genau, was ich meine, mein Schatz. Sie hat einfach diese ganz bestimmte Art von Reiz.« Villys scherzhafter Tonfall konnte ihre Abscheu nicht ganz verhehlen.

Edward war sich sehr wohl bewusst, welche Art von Reiz Zoë besaß, doch ahnte er auch, dass er damit gefährliches Terrain betreten könnte, also lenkte er das Gespräch auf Teddy und hörte freundlich zu, als Villy ihm erzählte, dass sie sich wegen seiner Augen Sorgen mache, ihn fragte, ob er nicht doch zu jung sei, um schon die vorbereitende Schule zu verlassen, und dass er im vergangenen Trimester so unglaublich in die Höhe geschossen sei. Sie redete unaufhörlich weiter, auch als sie bereits im Bett lagen und er wollte, dass sie endlich schwieg.

»Erster Urlaubsabend«, sagte er, gab ihr einen Kuss und tastete mit einer Hand nach ihren kurzen, weichen Löckchen im Nacken.

Einen Moment entwand Villy sich ihm, doch nur, um das Licht auszuschalten.

***

»… ich gebe wirklich mein Bestes, aber sie mag mich einfach nicht!«

»Ich glaube, sie hat das Gefühl, dass du sie nicht magst.«

»Außerdem ist es Ellens Aufgabe, zu wissen, wo sie ist. Ich meine, sie kann doch nicht nur für Neville zuständig sein. Sie ist doch das Kindermädchen, oder nicht?«

»Clary ist zwölf, da ist sie ein bisschen zu alt für ein Kindermädchen. Trotzdem, ich gebe dir recht, sie hätte dafür sorgen sollen, dass Clary schlafen geht.«

Darauf erwiderte Zoë nichts. Jetzt, da sie die Schuld etwas von sich abgewälzt hatte, brauchte sie folglich ein weniger schlechtes Gewissen zu haben – und konnte sich nachgiebiger zeigen.

Rupert putzte sich die Zähne und spuckte in den Schmutzwassereimer. »Morgen rede ich mal mit Ellen«, sagte er. »Und mit Clary natürlich auch.«

»Sehr gut, mein Schatz.« Das klang aufreizend nach einem Zugeständnis (an was?). Ich will keinen Streit, ermahnte er sich wieder. Mit einem kurzen Blick stellte er fest, wie weit sie mit der schier endlosen Prozedur der Gesichtsreinigung gediehen war. Sie war beim durchsichtigen Zeug aus der Flasche angekommen, gleich würde sie fertig sein. Sie fing seinen Blick im Kommodenspiegel auf und setzte zu dem ihr eigenen trägen, vertraulichen Lächeln an. Er sah, wie das betörende Grübchen unter ihrem rechten Wangenknochen erschien, und ging zu ihr hinüber, um ihr den Kimono von den Schultern zu streifen. Ihre Haut war kühl wie Alabaster, schimmerte wie Perlen und hatte das cremige Weiß einer Rose. Diese Dinge dachte er, sagte sie aber nicht. Seine größte Verehrung musste er für sich behalten. Ein Teil von ihm wusste, dass sein Bild von ihr und sie selbst nicht immer übereinstimmten, und nur durch seine Verschwiegenheit konnte er das Bild bewahren.

»Höchste Zeit, dass ich dich zu Bett bringe«, sagte er.

»Gut, mein Schatz.«

Nachdem er mit ihr geschlafen und sie sich mit einem zufriedenen Seufzen auf die Seite gedreht hatte, sagte sie: »Ich werde mir mit Clary mehr Mühe geben, das verspreche ich dir.«

Unwillkürlich erinnerte er sich an das letzte Mal, als sie das gesagt hatte, und er antwortete genau wie damals: »Das weiß ich.«

***

 

Mein Liebling, ich frage mich, ob du je verstehen wirst, wie sehr du mir das bist? Ich weiß nicht, wie lang dieser Brief wird, denn ich sitze im Aufenthaltsraum, und wie du weißt, kommt jeder, der sich von einem Unterrichtseinsatz erholt, für eine Zigarette und eine Tasse Kaffee und leider auch für ein Schwätzchen herein. So werde ich unterbrochen, und in zwölf Minuten dräut Jenkins junior, um ein vollkommen harmloses Stückchen von Bach zu massakrieren. Der vergangene Mittwoch war wunderschön, fandest du nicht? Manchmal glaube ich – oder vielleicht muss ich das glauben –, dass wir aus der kostbaren Zeit, die wir miteinander verbringen, mehr herausholen als Menschen, die nicht unsere Schwierigkeiten haben, die sich treffen und offen ihre Zuneigung zeigen können, wann immer es ihnen beliebt. Aber ach! Wie sehr du mir fehlst! Du bist das außergewöhnlichste, erstaunlichste Wesen – ein in jeder nur erdenklichen Hinsicht weit besserer Mensch als ich. Gelegentlich wünschte ich, du wärst nicht so durch und durch gut – so selbstlos, so großzügig, so unermüdlich in deiner Aufmerksamkeit und Güte allen Menschen gegenüber. Ich bin habgierig, ich möchte dich ganz für mich allein. Mach dir keine Sorgen, ich weiß, dass das nicht möglich ist, ich werde mein unsägliches Verhalten an unserem Abend bei den Proms nicht wiederholen. Nie wieder werde ich Elgar hören können, ohne Scham zu empfinden. Ich weiß, dass du recht hast. Meine Schwester ist in vielerlei Dingen auf mich angewiesen – die verflixten Finanzen, wie du es nennst –, und du hast deine Eltern, die sich mittlerweile beide auf dich verlassen. Aber manchmal träume ich, wir wären beide frei, um allein zusammen zu sein. Du bist alles, was ich will. Ich würde mit dir in einem Wigwam leben oder in einem Hotel am Meer – die Art, wo Papiernelken auf den Tischen stehen und vor den Gästen kleine Weinflaschen mit ihrem eigenen Namen auf dem Etikett. Oder in einem bezaubernden Fachwerkhäuschen an der Great Western Road mit einer rosa blühenden Kirsche und einem Goldregen und einem Gartenpfad mit Mosaikpflaster – jeder Ort, geliebte Rachel, bekäme durch dich seinen Zauber. Gäbe es das Wörtchen »wenn« nicht … Ich dachte, vielleicht könnte ich –

Ach, Jenkins junior! Schuppen regneten auf seine Geige herab, aus der die entsetzlichsten Geräusche drangen – wie ein kleines, in einer Falle gefangenes Tier. Ich klinge grausam, aber er hat mich angelogen, was sein Üben betrifft – er hat nichts Gewinnendes an sich. Was ich hatte sagen wollen – wenn ich Anfang nächster Woche anriefe, würde die liebe Duchy mich vielleicht zum Dinner und für die Nacht einladen? Oder wenn nicht, dann zum Lunch? Oder – womöglich das kühnste Ansinnen – du könntest mich am Bahnhof abholen, und wir könnten in Battle irgendwo zu Mittag essen und anschließend spazieren gehen? Dies sind nur wilde Vorschläge. Wenn ich anrufe, brauchst du nur zu sagen, dass es nicht möglich ist, und alles ist vergessen. Allein, deine Stimme zu hören, wird wundervoll sein. Schreib mir, geliebtes Herz, schreib mir, ich bitte …

 

»Tante Rach?«

Sofort faltete sie den Brief zusammen und legte ihn außer Sichtweite. »Ja, mein Küken, ich bin hier.«

»Ist es in Ordnung? Du bist mir nicht böse?«

Rachel stand auf und kniete sich neben ihre Nichte auf den Boden. »Ich fühle mich geehrt, dass du mich ausgewählt hast.« Sie strich ihr den Pony aus der Stirn. »Und morgen unterhalten wir uns weiter, ja? Jetzt schlaf. Ist dir auch schön warm?«

Clary blickte sie überrascht an. »Das weiß ich nicht. Wie fühle ich mich an?«

»Schön warm.« Rachel gab ihr einen Kuss.

»Wenn ich wirklich Tollwut hätte, könntest du mich nicht küssen, weil ich dich beißen würde, oder?«

»Wo hast du das bloß gelesen?«

»Nirgendwo. Das hat mir jemand in der Schule erzählt. Ein schreckliches Mädchen aus Südamerika. Du würdest sie nicht mögen, so schrecklich ist sie.«

»Gute Nacht, Clary.«

»Schläfst du jetzt auch?«

»Ja.«

Und so musste sie den Brief wegstecken und das Licht löschen.

***

Am Samstag ritt Villy mit ihrem Schwiegervater aus, Edward und Hugh spielten mit Simon und Teddy Tennis, Rupert fuhr mit Zoë zum Lunch nach Rye, und Polly und Louise bekamen abwechselnd Reitunterricht auf Joey, der von Wren eingefangen und dazu verdammt wurde, eine Stunde lang sinnlos um dieselbe Wiese zu traben und zu kantern, wofür er sich beim Satteln rächte. Er blähte seinen vom vielen Gras feisten Bauch derart auf, dass der Gurt kaum darumpasste, und ließ die Luft dann entweichen, sodass der Sattel zur Seite rutschte und Polly unsanft auf dem Boden landete. Bei Louise gelang es ihm lediglich, so heftig mit dem Schwanz auszuschlagen, dass er sie beim Aufsitzen in den Augen traf.

Clary zeigte Lydia die Schmetterlinge, und dann fanden sie einen Sandhaufen, den die Handwerker zurückgelassen hatten, und Clary kam eine Idee. »Eine Idee, die lange braucht«, sagte sie streng, weil Neville mitspielen und sie ihn abwimmeln wollte. Doch das verfehlte seine Wirkung. »Ich will bei der Idee dabei sein«, sagte er, also ließ sie ihn mitmachen. Unter Clarys Anleitung begannen sie, fast den ganzen Sand an einen geheimen Ort hinter dem Gartenschuppen zu bringen.

Rachel pflückte wieder Himbeeren sowie schwarze und rote Johannisbeeren, damit Mrs. Cripps rote Grütze machen konnte, tippte für das Buch ihres Vaters Auszüge aus den Tagebüchern von John Evelyn ab und setzte sich schließlich zu Sybil unter die Araukarie, um endlose Meter Gardinenband auf dunkelgrünen Chintz zu heften, damit die Duchy nach dem Lunch die Vorhänge nähen konnte.

Die Duchy hielt ihre übliche Vormittagsbesprechung mit Mrs. Cripps ab. Die Überreste des Lachses wurden begutachtet – sie ließen sich nicht genügend strecken, um noch einmal kalt mit Salat serviert zu werden, also sollten sie zum Dinner in Kroketten verwandelt werden, gefolgt von einer Charlotte Russe (das war ein Kompromiss; Mrs. Cripps machte ungern Kroketten, die Duchy fand Charlotte Russe am Abend eigentlich zu schwer). Zum Lunch am Sonntag würde es den Lammbraten und die Grütze geben. Nachdem das geklärt war, konnte die Duchy den restlichen Vormittag in ihrem Garten verbringen, Verblühtes abschneiden und die vier Buchsbaum-Pyramiden stutzen, die am Ende der Blumenrabatten die Sonnenuhr bewachten. Billy blieb es überlassen, das abgeschnittene Grün zusammenzufegen und wegzuschaffen.

Mittags war allen zu heiß, um mit ihren Aktivitäten fortzufahren. Die Väter befanden, ausreichend an Teddys Aufschlag und Simons Rückhand gearbeitet zu haben, und den Jungen knurrte der Magen. Da es Lunch aber erst in einer Stunde geben würde, fielen sie wie gewohnt über die Keksdosen her, die in den Schlafzimmern ihrer Eltern standen. An diesem Tag war das kein Problem. Sie wussten, dass Onkel Rupert nicht da war, stibitzten den gesamten Vorrat aus seinem Zimmer und verdrückten ihn in der unteren Toilette.

Nach dem Ausritt musste sich Villy von William durch die neuen Gebäude führen lassen. Sie wäre gern aus ihrer Reitkleidung gekommen, ihr Schwiegervater aber schien die Hitze trotz seines Flanellhemds, der zitronengelben Gabardineweste und des Tweedjacketts nicht zu bemerken und erläuterte ihr eine gute Stunde lang nicht nur, was gemacht worden war, sondern auch die alternativen Pläne, die er verworfen hatte.

Louise und Polly wurden von Wren sich selbst überlassen, der sagte, er müsse sich um die anderen Pferde kümmern. So drehte jede von ihnen noch eine Runde auf Joey, der heftig schwitzte und zunehmend die Lust verlor, dem Willen anderer zu folgen. Immer wieder verfiel er in einen Zottelgang und blieb stehen, um ein Maul voll Gras zu fressen. »Er riecht so gut, aber besonders anhänglich ist er nicht«, sagte Polly, als sie absaß. »Magst du noch mal?«

Louise schüttelte den Kopf. »Hätten wir nur ein zweites Pony, dann könnten wir richtig ausreiten. Hältst du ihn, während ich absattle?« Polly, der Reiten insgeheim viel weniger Spaß machte als Louise, stimmte zu und dachte sich, dass sie jetzt den Rest des Tages viel schönere Sachen unternehmen konnten. Sie streichelte Joeys zarte Nüstern, aber er stupste sie ungeduldig – ihm stand der Sinn nicht nach Liebkosungen, sondern nach Zuckerstückchen. Louise wuchtete den Sattel von seinem Rücken, löste das Zaumzeug und streifte es über seinen Kopf. Einen Moment blieb er stehen, dann warf er den Kopf theatralisch in den Nacken und trabte ein paar Schritte außer Reichweite. »Ich glaube, er mag uns nicht besonders«, sagte Louise. Nach ihrem Dafürhalten verstand sie sich großartig auf den Umgang mit Tieren, aber Joey schien da eindeutig anderer Meinung zu sein.

»Er mag dich mehr als mich«, sagte Polly loyal. Auch wenn sie nie darüber gesprochen hatten, wusste sie, was in Louise vorging. Sie schlugen den Feldweg von der Wiese zu den Stallungen ein und wechselten sich mit dem Tragen des Sattels ab.

Clary verbrachte einen schönen Vormittag. Sie hatten den ganzen Sand in einen alten Frühbeetkasten im Küchengarten gehäuft. Der Glasdeckel war längst zerbrochen, aber das Untergestell gab einen perfekten Rahmen für ihre Idee ab. Als Erstes musste der Sand absolut glatt gestrichen werden. Anfangs versuchten sie es mit den bloßen Füßen, aber dann ging es mit den Händen doch viel besser. Dabei war Clary die Geschickteste, und um sich der Arbeit in Ruhe widmen zu können, beauftragte sie die beiden anderen, ein paar Dinge zu beschaffen.

»Was für Sachen denn?« Neville wurde allmählich quengelig. »Was machen wir denn überhaupt? Warum holen wir kein Wasser und machen Schlamm daraus?«, beschwerte er sich.

»Halt den Mund. Wenn du nicht mit uns spielen magst, kannst du ja gehen. Oder du tust, was Clary sagt. Sie ist die Älteste.«

»Ich will nicht weggehen. Ich will ja mitspielen. Aber ich will wissen, was wir hier machen. Ich will meine Zeit doch nicht verplempern«, fügte er etwas großspurig hinzu.

»Deine Zeit!«, sagte Lydia verächtlich und suchte nach dem Geringsten, was sie kannte. »Die ist keine hundert oder tausend wert!«

»Was wir machen, ist ein Garten«, erklärte Clary. »Wir brauchen Hecken, und Kies für die Wege und – ja – einen See! Einer von euch kann den Kies sammeln, nur den allerfeinsten. Neville, das ist deine Aufgabe. Hol dir dafür aus dem Gewächshaus eine Saatkiste.«

»Und was soll ich machen?«

»Ich möchte, dass du den Sand bewachst. Und Moos von der Mauer da drüben abkratzt«, fügte sie hinzu, als sie Lydias enttäuschte Miene bemerkte.

»Wohin gehst du?«

»Ich bin gleich wieder da.«

Auf dem Rückweg von ihrem erfolgreichen und unbemerkten Raubzug durchs Haus – Zoës Nagelschere aus ihrem Necessaire und den kleinen runden Spiegel aus der Dienstbotentoilette – stieß Clary auf einen Korb voller Heckenschnitt (Billy war zum Essen gerufen worden). Schier unendliche Möglichkeiten wirbelten ihr durch den Kopf: Jetzt, wo sie die Schere hatte, könnte sie Gras pflanzen und so kurz schneiden, dass es wie ein Rasen aussah, und der Buchsbaum könnte als winzige Hecke die Kieswege säumen – oder in den Blumenbeeten ein Muster bilden. Es gab unzählige Dinge, die sie machen konnte, um den schönsten Garten der Welt anzulegen. Ausnahmsweise freute sie sich, dass Polly und Louise nicht dabei waren. Die beiden würden nur eigene Vorschläge einbringen, aber sie, Clary, wollte, dass alles genau so würde, wie sie es sich vorstellte.

Als sie zurückkam, sammelte Lydia nicht mehr Moos, sondern pflückte stattdessen Gänseblümchen, die sie wahllos in den Sand steckte. »Ich pflanze die Blumen für dich«, sagte sie. An einem Ende der Sandfläche ließ Clary sie gewähren. Lydia war klein, man konnte nicht zu viel von ihr erwarten, aber Clary wusste auch, dass man es nicht mochte, ständig daran erinnert zu werden, wie klein man war.

Gerade als Neville mit praktisch keinem Kies, aber dafür Unmengen anderer Dinge zurückkam, die keinerlei Nutzen hatten, hörten sie Ellen rufen, sie sollten zum Mittagessen ins Haus kommen und sich die Hände waschen.

»Das hier ist streng geheim«, warnte Clary. »Ihr dürft kein Wort verraten. Sagt, dass wir im Obstgarten gespielt haben. Nach dem Essen kommen wir wieder und machen dann alles richtig schön.«

»Wir müssen nach dem Essen schlafen«, erinnerte Neville sie. »Eine ganze blöde Stunde.«

»Das ist nicht gerecht!«

»Das musste ich früher auch«, sagte Clary rasch, bevor Lydia sich weiter hineinsteigern konnte. »Wenn du zwölf bist, brauchst du das auch nicht mehr.«

»Und was, wenn ich nie zwölf werde?« Zwölf erschien ihr höchst unwahrscheinlich.

»Ich werde es früher als du«, sagte Neville. »Es wird einen Sommer geben, da bist du die Einzige, die nach dem Lunch schlafen muss.«

»Jetzt streitet euch nicht. Wenn ihr verheult ins Haus kommt, fragen sie uns, was wir gemacht haben.«

Also setzten die drei eine nichtssagende Verschwörermiene auf und gingen zum Haus.

***

Um ein Uhr läutete Eileen den Gong zum Lunch.

»Du meine Güte! Ich habe die Tasche vergessen!« Rachel sprang auf, spürte das vertraute Stechen im Rücken, das offenbar bei jeder unbedachten Bewegung auftrat, und ging schnell ins Haus. »Lass die Vorhänge liegen«, rief sie Sybil zu für den Fall, dass die sich abmühen wollte, die Stoffberge zusammenzufalten und ins Haus zu tragen. Die Tasche, ein kleiner Leinenbeutel mit den Initialen R.C. in blauem Kettenstich, lag im Salon in einer Schublade des Kartentischs. Zu Schulzeiten hatte Rachel darin ihre Haarbürste und ihren Kamm aufbewahrt, jetzt aber enthielt sie acht Quadrate aus Karton, von denen sechs leer und zwei mit EZ beschriftet waren. Wenn die Kinder vom Händewaschen zum Lunch herunterkamen, musste jedes ein Kärtchen ziehen. Der Hintergedanke dieses von der Duchy angeregten Rituals war, dass jeweils zwei Kinder den Lunch im Esszimmer einnehmen sollten, um zu lernen, sich bei Mahlzeiten in der Gesellschaft Erwachsener zu benehmen. Diese Auswahlmethode hatte sich bewährt, um Streitereien und die ewigen Anschuldigungen wegen ungerechter Behandlung zu vermeiden. An diesem Tag zog Simon eines der beschrifteten Kärtchen, dann Clary.

»Ich will sie nicht«, sagte sie, legte sie blitzschnell zurück und nahm eine andere. »Weißt du, mein Vater ist unterwegs«, erklärte sie rasch. In Wirklichkeit befürchtete sie, Lydia und Neville könnten etwas von dem Garten verraten, und sie wäre nicht dabei, um sie daran zu hindern.

Rachel ließ es ihr durchgehen. »Aber beim nächsten Mal musst du dich an die Regeln halten«, sagte sie nachsichtig.

Neville kam zu spät zum Essen. Er wurde von Ellen an der Hand die Treppe hinuntergeführt (ein sicheres Zeichen von Fehlverhalten und Blamage).

»Ich entschuldige mich für die Verspätung. Neville hatte seine Strandschuhe verloren.«

»Ich habe nur einen verloren.« Der Wirbel, den Leute über einen popeligen Schuh machten, überstieg sein Verständnis. Letztlich zog Teddy das zweite Kärtchen, wofür er ausgesprochen dankbar war. Es fiel ihm nicht leicht, den Wechsel von der ausschließlich männlichen Gesellschaft im Internat – abgesehen von der Hausmutter und der Französischlehrerin, die als Zielscheiben ewigen, versteckten Spotts dienten – an einen Tisch zu vollziehen, an dem er mit Frauen und Kleinkindern essen und sich unterhalten sollte.

Er entschied, sich zwischen Dad und Onkel Hugh zu setzen, damit sie sich über Cricket und möglicherweise auch über U-Boote unterhalten konnten, für die er sich neuerdings interessierte. Zum Lunch gab es heißen gekochten Schinken mit Petersiliensoße (die Duchy hielt es mit der viktorianischen Tradition, das Wetter bei der Planung der Speisenfolge zu missachten), dazu neue Kartoffeln und dicke Bohnen, gefolgt von Sirupkuchen. Simon konnte dicke Bohnen nicht leiden, aber Sybil aß sie für ihn. Sie ist selbst eine ziemlich dicke Bohne, dachte er und verschluckte sich, als er sich bemühte, nicht über seinen grandiosen Scherz laut loszulachen. Er wollte seine Mutter nicht kränken, und niemand wollte als dick bezeichnet werde, außer einer dicken Bohne natürlich. Darüber musste er wieder lachen, Dad klopfte ihm auf den Rücken, und seine Zahnspange fiel ihm aus dem Mund – eine hochnotpeinliche Mahlzeit.

Teddy langte beim Lunch kräftig zu: zwei Portionen von allem, gefolgt von Cracker und Käse. Er hatte beschlossen, direkt nach dem Essen mit Simon Tennis zu spielen, denn später würden wahrscheinlich die Erwachsenen den Platz für sich beanspruchen. Dad hatte gesagt, er könne seinen Aufschlag auch allein üben, aber es machte keinen Spaß, wenn niemand die Bälle zurückspielte und, schlimmer noch, wenn niemand ihm sagte, ob sie drin waren oder nicht. Wenn er viel trainierte, könnte er in ein paar Jahren für England spielen. Beim Gedanken an die Tafel in Wimbledon, auf der Cazalet vs. Budge stand, lief ihm ein Schauer über den Rücken. GROSSARTIGER NEUER SPIELER FEGT BUDGE VOM PLATZ!, würden die Schlagzeilen lauten. Budge würde es dann vielleicht nicht mehr geben, sicher, aber wer immer es war – Mannomann, die Woche würde ziemlich spannend werden. Wichtig wäre, Fred Perry als Coach zu gewinnen – einen besseren als Fred konnte er sich nicht vorstellen. Blöd, dass man im Internat im Winter nicht Tennis spielen konnte, aber er würde auf Squash oder Rackets ausweichen, um dranzubleiben. Er nahm sich vor, Fred Perry zu schreiben und um Rat zu bitten. Mit Dad und Onkel Hugh darüber zu reden war sinnlos gewesen, sie hatten sich unterhalten, ob sie für das Büro ein Diktafon anschaffen sollten, was immer das sein sollte. Dad wollte eins, er meinte, es sei effizienter, aber Onkel Hugh sagte, einer Sekretärin etwas zu diktieren dauere genauso lang, und er sei ein Anhänger der persönlichen Note. Die Frauen sprachen über Babys und ähnliche dämliche Dinge. Mein Gott, war er froh, dass er keine Frau war. Röcke tragen zu müssen und viel schwächer zu sein und nie etwas wirklich Interessantes zu machen, wie den Südpol zu erobern oder Autorennen zu fahren! Und Carstairs sagte, bei jedem Vollmond würden ihnen Ströme von Blut zwischen den Beinen herausfließen, was er ziemlich unwahrscheinlich fand, schließlich gab es jeden Monat Vollmond, und sie würden ja dann verbluten. Außerdem hatte er nie gesehen, dass das passierte, aber Carstairs hatte es mit so blutrünstigen Sachen, er redete endlos von Vampirfledermäusen, von Der Verrat des Surat Khan und dem Schwarzen Tod. Wenn er groß war, wollte er Kommissar werden – für Mordfälle. Teddy war froh, dass er nichts mehr mit Carstairs zu tun haben würde. Sein neues Internat tauchte drohend wie ein Eisberg vor ihm auf: Was er sehen konnte, war erschreckend genug, dabei war das nur ein Fünftel (oder eher nur ein Sechstel?) so erschreckend, wie es tatsächlich sein würde. Aber bis dahin war es noch eine Ewigkeit hin, die Ferien hatten gerade erst angefangen. Er warf Simon über den Tisch hinweg einen Blick zu und holte wie zum Aufschlag mit dem Arm aus, wobei er sein Wasserglas umstieß.

***

Das Mittagessen bereitete Clary Schwierigkeiten auf eine Art, die sie nicht bedacht hatte. Neville und Lydia verhielten sich tadellos und verloren kein Wort über den Garten, und Clary erbot sich, Nevilles verschwundenen Schuh zu suchen, was bei Ellen gut ankam. Aber Polly, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie und Louise einfach zusammen reiten gegangen waren und Clary wieder ausgeschlossen und nicht einmal gefragt hatten, ob sie mitkommen wolle, machte jetzt alle möglichen Vorschläge, was sie am Nachmittag gemeinsam mit Clary unternehmen wollten: Sie könnten in den Wald gehen und im Bach einen Damm bauen. Oder sie könnten – als die Idee Clary nur mäßig begeisterte – ein Tennisturnier austragen oder im Wald eine Blockhütte bauen. »Worauf hättest du denn Lust?«, fragte Polly zu guter Letzt.

Clary spürte Lydias und Nevilles Blicke auf sich. »Zum Strand zu fahren«, sagte sie. Der Strand bedeutete Autos und Erwachsene und war damit ein Wunsch, den Polly und Louise ihr unmöglich erfüllen konnten. Die beiden gaben auf. Jeder wisse doch, sagte Louise, dass sie am Montag zum Strand fahren würden und keinen Tag früher.

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Nach dem Lunch fuhr Villy Sybil nach Battle, um Flanell und weiße Wolle zu besorgen. Das hatten sie bereits beim Frühstück besprochen, aber wortlos Stillschweigen darüber vereinbart, damit die Kinder nicht bettelten, mitkommen zu dürfen. Jetzt saßen die beiden in einträchtiger Stille im Wagen und schlüpften wieder mühelos in ihre gewohnte Sommerbeziehung. Natürlich sahen sie sich auch in London, allerdings mehr der gegenseitigen Zuneigung ihrer Ehemänner wegen als auf eigenen Wunsch hin. Aber da sie beide etwa zur selben Zeit lebenslange Mitglieder der Familie Cazalet geworden waren, hatte sich in jahrelanger zwangsläufiger Nähe eine unkomplizierte Vertrautheit zwischen ihnen eingestellt, wie keine von ihnen sie mit irgendeiner anderen Frau kannte. Beide hatten die Brüder zwei Jahre nach Kriegsende geheiratet: Sybil im Januar, Villy im Mai. Die Brüder hatten eine Doppelhochzeit erwogen und sogar mit dem Gedanken von gemeinsamen Flitterwochen gespielt, doch das hatte sich zerschlagen, weil Villy erst ihren Vertrag beim russischen Ballett beenden musste, Sybil aber heiraten wollte, bevor der Urlaub ihres Vaters zu Ende ging und er nach Indien zurückkehren musste. Sybils Patentante stellte den erforderlichen Rahmen zur Verfügung (ihre Mutter war im Jahr zuvor in Indien gestorben), Edward war Brautführer, und in die Flitterwochen fuhren sie nach Rom – für Hugh gab es in Frankreich allzu viele Dinge, die er lieber vergessen wollte. Edward lud sie beide ein, Villy mit ihrem Ensemble im Alhambra tanzen zu sehen, und Sybil war tief beeindruckt, dass Villy tatsächlich eine professionelle Tänzerin war. Sie sahen Petruschka (Villy in der Rolle einer der russischen Bäuerinnen), und Sybil, die zum ersten Mal ein Ballett besuchte, war überwältigt von Massine in der Titelrolle. Anschließend warteten sie vor dem Bühnenausgang auf Villy, die einen Mantel mit weißem Pelzkragen trug und ihr damals langes Haar zu einem Knoten frisiert hatte, durch den seitlich ein kleiner Silberpfeil steckte. Sie gingen zu viert zu einem späten Essen ins Savoy, und Sybil hielt Villy für die kultivierteste, mondänste Frau, die sie je gesehen hatte. Unter dem Mantel trug sie ein schwarzes, mit leuchtend grünen und blauen Kristallperlen besticktes Chiffonkleid, das ihre eleganten, schlanken Knie zeigte, dazu passende grüne Satinschuhe, wozu sich Sybils beigefarbener, mit irischer Spitze besetzter Prägesamt vergleichsweise farblos ausnahm. Villy schäumte über vor Energie und erzählte, von Edward ermutigt, den ganzen Abend von der russischen Truppe und von Tourneen, von Paris und von Proben, bei denen Matisse Farbeimer auf ihre Köpfe fallen ließ, davon, dass sie wochenlang nicht bezahlt wurden, von einem halben Liter Milch am Tag lebten und sich zwischen den Proben und Aufführungen ins Bett legten. Sie erzählte von Monte Carlo und dem glitzernd behängten Publikum, von den Streitereien zwischen Massine und Djagilew und dass manche in der Truppe ihren Lohn in einer einzigen Nacht verspielten.

Damals erschien es ihr unvorstellbar und ausgesprochen heldenhaft von Villy, ein derartiges Leben für die Ehe aufzugeben. Aber Villy, die ebenso in Edward verliebt schien wie er in sie, machte nicht viel Aufhebens darum. Die Hochzeit fand von ihrem Zuhause am Albert Place aus statt, und für den Gottesdienst komponierte ihr Vater eine Orgelsuite, über die die Times berichtete. Villy hatte sich das Haar modisch kurz geschnitten, und Sybil litt die ganze Zeremonie hindurch unter entsetzlicher Übelkeit wegen ihrer ersten Schwangerschaft – die in einem tot geborenen Sohn endete. Abgesehen von der Tatsache, dass sie mit Brüdern verheiratet waren, hatten sie zunächst wenig gemein, aber bei den Cazalets bedeutete, mit Brüdern verheiratet zu sein, regelmäßige Treffen: Abende, an denen Hugh und Edward Schach spielten, im Winter gemeinsame Skiurlaube – Sybil war auf Skiern ein hoffnungsloser Fall, verstauchte sich unweigerlich den Knöchel und brach sich einmal sogar das Bein, während Villy selbst die anspruchsvollsten Pisten mit einer Geschwindigkeit und einem Geschick hinuntersauste, die ihr die Bewunderung der Einheimischen eintrugen. Sie spielten Bridge und Tennis, sie besuchten Theateraufführungen und Restaurants, wo sie aßen und tanzten. Eines Abends, im Hungaria, sagte Villy etwas auf Russisch zum Kapellmeister, und er spielte ein Stück von Delibes, zu dem Villy allein auf der geräumten Tanzfläche tanzte, und alle klatschten Beifall. Aber als sie an den Tisch zurückkehrte und Edward knapp »Sehr hübsch, mein Schatz« sagte, sah Sybil Tränen in ihren Augen und fragte sich, ob ihr der Verzicht auf eine Karriere tatsächlich so leichtgefallen war. Danach sprach Villy nie wieder von ihren Tagen als Tänzerin, erfüllte weiter ihre Rolle als Ehefrau und dann als Mutter von Louise, später auch von Teddy und Lydia, als wäre das alles nie gewesen. Aber Sybil bemerkte eine rastlose Energie, die sich wie Wasser überall ausbreitete, wo sich ihr Platz bot. Villy legte sich einen Webstuhl zu und wob Leinen und Seide. Sie lernte, Zither und Querflöte zu spielen. Sie nahm Reitunterricht und bewegte bald Pferde für die Life Guards, womit sie eine der zwei Frauen in London war, die diese Aufgabe übernehmen durften. Sie engagierte sich für das Rote Kreuz und fuhr mit blinden Kindern ans Meer. Sie segelte bei kleinen Regatten ein Dinghi. Sie brachte sich selbst Russisch bei und wurde für kurze Zeit Mitglied der Gurdjieff-Sekte (das wusste Sybil nur, weil Villy sie ebenfalls anwerben wollte). Einige ihrer Spleens – wie die Sekte – währten nicht lange. Sybil widerstand dem plötzlichen Drang, sie zu fragen: »Bist du glücklich?«, und sagte stattdessen: »Wahrscheinlich sind die Geschäfte in Battle geschlossen.«

»Guter Gott! Natürlich. Wie dumm! Wir könnten nach Hastings weiterfahren.«

»Der Laden in Whatlington hat vermutlich auf.«

»Meinst du?« Villy verlangsamte das Tempo und suchte nach einer Stelle, um zu wenden.

»Irgendwie hat er immer auf. Sie sollten weiße Wolle haben und bestimmt auch Flanell.«

»Gut.« Villy blieb stehen und fuhr rückwärts in eine Einfahrt.

»Es kommt mir so überflüssig vor. Hätte ich nur Simons Sachen aufgehoben. Aber ich dachte nicht, dass ich sie noch einmal brauchen würde.«

»Ich habe die Sachen auch weggeworfen. Man kann ja nicht alles aufheben«, sagte Villy. »Wenn du willst, kann ich dir helfen.«

»Das wäre himmlisch. Ich werde nie das Taufkleid vergessen, das du für Teddy genäht hast.« Es war aus feinstem Batist gewesen, bestickt mit weißen Wiesenblumen, und alle Nähte waren in Hohlsaumstich gearbeitet – eine Art Arbeit, wie sie sie sonst nur von Nonnen kannte.

»Wenn du magst, borge ich es dir gerne. Um ein neues zu nähen, reicht die Zeit nicht.«

»Das meinte ich nicht. Ich spreche nur von vier Baumwollnachthemdchen und einem Schal.«

Auf dem Weg den Berg hinauf nach Whatlington fuhren sie an den weißen Toren des letzten Feldes von Home Place vorbei. »Ich bin mir sicher, dass die Duchy dir helfen würde«, sagte Villy.

»Sie näht gerade eins von ihren hübschen gesmokten Kleidern aus Wildseide für Clary zum Geburtstag.«

»Himmel! Den hatte ich ganz vergessen. Was schenkst du ihr?«

»Das habe ich mir noch nicht überlegt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ihr gefällt. Ich habe nicht den Eindruck, als wäre sie besonders glücklich, findest du nicht auch? Rupert sagt, dass sie in der Schule nicht gerade gut ist. Ein schlechtes Zeugnis, Einträge wegen schlechten Betragens, und viele Freundinnen hat sie offenbar auch nicht.«

»Ich glaube nicht, dass Zoë sehr nett zu ihnen wäre, wenn sie welche hätte.«

Keine von ihnen mochte Zoë, und sie wussten, dass sie auf eines dieser Zoë-Gespräche zusteuerten, die sie in den Ferien jedes Mal führten und an deren Ende sie sich immer gegenseitig ermahnten, jetzt wirklich damit aufzuhören. Diesmal beendeten sie das Gespräch vorzeitig, weil sie ihr Ziel erreicht hatten – ein altes, weiß geschindeltes Farmhaus, dessen Erdgeschoss in ein nüchternes Geschäft umgebaut worden war. Dort wurde von allem etwas verkauft: Lebensmittel, Gemüse, Saattütchen, Pralinen, Zigaretten, Gummibänder und Knöpfe, Strickwolle, Eier, Brot, Strohhüte, Gartenkörbe, Becher mit Weidenmuster und braune Teekannen, Baumwollsocken von Tootal, Fliegenpapier, Vogelfutter und Hundekekse, Türabstreifer und Kessel. Mrs. Cramp holte einen Ballen weißen Flanell und maß die gewünschten viereinhalb Meter ab. An der zweiten Theke schnitt Mr. Cramp an der Maschine Bauchspeck in Scheiben. Über ihm hing ein schwarz verklebtes Fliegenpapier, an das er mit dem Kopf stieß, wann immer er eine Scheibe auf die Waage legte, und bisweilen fiel eine tote Fliege wie eine Korinthe auf die Theke. Seine Kundin, die gerade ein nicht näher definiertes Unglück schilderte, verstummte, sobald Sybil und Villy den Laden betraten, und solange die beiden Damen ihren Einkauf tätigten, wurde nur das Wetter erörtert – seit zwei Wochen kein Tropfen Regen, und es sah aus, als würde es bis zur Ernte halten.

»Und weiße Wolle, Mrs. Hugh. Denken Sie an Paton’s Vollzwirn? Wir hätten aber auch die flauschige Shetlandwolle.«

»Ich stricke den Schal«, sagte Villy. Sie entschieden sich für die Shetlandwolle, und Sybil kaufte ein Röllchen weißes Baumwollnähgarn.

»Und Mrs. Cazalet senior geht es gut? Sehr schön.«

Der Flanell wurde in weiches braunes Papier gewickelt und mit einem Bindfaden verschnürt. Die Wolle kam in eine Papiertüte. Die ganze Zeit über sah Mrs. Cramp angelegentlich an Sybils Bauch vorbei.

Kaum aber hatte Sybil den Laden verlassen, sagte sie: »Das Kind lässt sich nicht mehr lange Zeit, oder ich fresse einen Besen.«

»Es würde mich nicht wundern, wenn es Zwillinge wären«, sagte Mrs. Miles, die den Frühstücksspeck kaufte.

Mrs. Cramp war schockiert. Bemerkungen über ihre Kunden standen allein ihr zu. »Sie bekommen keine Zwillinge«, widersprach sie. »Das tun Damen nicht.«

Im Auto fragte Villy: »Fändest du es eine gute Idee, wenn Clary, anstatt zur Schule zu gehen, mit unseren beiden von Miss Milliment unterrichtet würde?«

»Für Clary wäre das sehr gut. Aber meinst du, dass Rupert sich das leisten kann?«

»Zwei Pfund zehn die Woche! Das muss billiger sein als ihre Schule.«

»Als Lehrer bekommt er wahrscheinlich Rabatt. Vielleicht zahlt er gar nichts, außer für die zusätzlichen Dinge.«

»Für unsere zwei gibt es auch zusätzliche Kosten.«

»Bei denen könnte Rachel aushelfen. Oder vielleicht könnte die Duchy mit dem Brig sprechen. Oder du, wenn ihr wieder einmal gemeinsam ausreitet. Auf dich hört er wahrscheinlich, du kommst wirklich gut mit ihm zurecht.«

»Lass uns erst mit Rupert reden.« Villy ignorierte dieses Kompliment ebenso wie alle anderen. »Sie hätte natürlich Fahrtkosten – sie müsste zu Fuß nach Shepherd’s Bush gehen und dann mit der U-Bahn fahren. Aber ich glaube, die familiäre Atmosphäre täte ihr gut. Sie wird ihr fehlen. Zu Hause wird sie eher weniger davon mitbekommen.«

»Sicher wird Zoë früher oder später eine Familie haben«, sagte Sybil.

»Gott bewahre! Ich bin mir sicher, dass sie keine Kinder haben will.«

»Wie wir alle wissen«, wandte Sybil ein, »ist das nicht immer eine Frage des Wollens.«

Erschrocken sah Villy zu ihr. »Meine Liebe! Hast du … nicht …«

»Eigentlich nicht. Obwohl ich mich jetzt natürlich darüber freue.«

»Natürlich.« Beide traten auf der Stelle – auch wenn sie den Boden unter den Füßen noch nicht verloren hatten, wollten sie dem Thema lieber nicht auf den Grund gehen.

***

Der Großteil des Tags, den Rupert und Zoë miteinander verbrachten, war sehr schön. Sie fuhren nach Rye, ziemlich langsam, weil Rupert sich über den ersten Vormittag seiner Ferien freute, über den schönen Tag und darüber, auf dem Land zu sein. Sie kamen an fast reifen Weizenfeldern mit blühendem Mohn vorbei und an Hopfengärten, sie passierten Wälder mit Eichen und Edelkastanien und Sträßchen, deren hohe Böschungen unter wilden Erdbeeren, Sternmieren und Farn verschwanden, entlang Hecken, in denen die letzten, von der Sonne ausgeblichenen Heckenrosen prangten. Sie durchquerten Dörfer mit weißen Klinkerhäuschen, in deren üppigen Gärten Stockrosen und Phlox und Rosen blühten und wo es bisweilen einen Teich mit weißen Enten gab, aber auch kleine graue Kirchen umgeben von Eiben und mit Flechten überzogenen Grabsteinen. Sie sahen Felder mit duftendem Heu, Farmen mit dampfendem Misthaufen und braunen und weißen Hühnern, die nach Futter pickten. Bisweilen hielten sie an, weil Rupert etwas ausgiebig betrachten wollte. Zoë verstand dann zwar nicht genau, warum, sah ihm aber zufrieden zu. Sie liebte seinen Hals mit dem ausgeprägten Adamsapfel, die Art, wie sich seine dunkelblauen Augen verengten, wenn er etwas musterte, und das kleine, fast entschuldigende Lächeln, mit dem er zu ihr blickte, wenn er sich sattgesehen hatte, auf die Kupplung trat und weiterfuhr.

»Ach, diese Landschaft!«, sagte er einmal. »Für mich ist sie die schönste in ganz England.«

»Kennst du denn die anderen?«

Er lachte. »Natürlich nicht. Ich fröne nur meinen gepflegten Vorurteilen!«

Beim letzten Zwischenhalt stieg er aus, sie folgte ihm. An ein Gatter gelehnt, sahen sie von dieser Anhöhe aus meilenweit in die Ferne, und alles, was sie auf der bisherigen Fahrt einzeln gesehen hatten, breitete sich nun als Ganzes vor ihnen aus, grün, golden und schimmernd, von der Sonne glänzend überzogen. Rupert griff nach ihrer Hand.

»Mein Liebling. Ist der Blick nicht einfach hinreißend?«

»Doch. Und der Himmel hat ein wunderschönes Blau.« Sie überlegte einen Moment. »Es ist so ein ganz eigenes Blau, das sonst nichts hat, oder?«

»Du hast recht … Das ist eine ausgesprochen gute Beobachtung!« Vor Freude drückte er ihre Hand. »Es ist derart offensichtlich, dass es nie einer laut ausspricht. Nie bemerkt wird, meine ich«, verbesserte er sich, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Nein, wirklich, Zoë, mein Schatz, das meine ich ernst.« Und das tat er auch: Er wünschte sich so sehr, dass sie etwas wahrnahm – etwas anderes als sich selbst und ihn.

In Rye kaufte er ihr Geschenke. Sie schlenderten eine der steilen Sträßchen zum Hafen hinab und stießen auf einen Laden, in dessen winzigem Schaufenster zahlreicher Silberschmuck auslag, vorne stand ein Tablett mit alten Ringen. Rupert beschloss, ihr einen zu kaufen, und sie traten ein. Er wählte einen Rosendiamanten mit schwarzem und weißem Email um den Ring, doch der gefiel ihr nicht. Sie wollte einen Smaragd umgeben von Rosendiamanten, doch der kostete fünfundzwanzig Pfund – zu viel. Also entschied sie sich für einen von Saatperlen eingefassten Feueropal, der zehn Pfund kostete, aber Rupert bekam ihn für acht. Dass es ein Feueropal war, erfuhren sie erst von dem Geschäftsinhaber; sie hatten einfach das leuchtende Orange bewundert. Sobald Zoë das hörte, gefiel ihr der Ring gleich viel besser. »Er ist wirklich ungewöhnlich!«, sagte sie und streckte ihre weiße Hand aus, damit die beiden Männer ihn bestaunen konnten.

»Er würde nicht jeder Frau stehen, Madam, aber an Ihnen ist er perfekt.«

»Sehr wohl, Madam«, sagte Rupert, als sie wieder draußen standen. »Und wonach steht Madam als Nächstes der Sinn?«

Sie wünschte sich ein Buch, das sie abends lesen konnte, wenn alle nähten und Klavier spielten und derlei. Also gingen sie in einen Buchladen, und sie entschied sich für Vom Winde verweht, weil sie wusste, dass alle Welt das las und angeblich viele leidenschaftliche Szenen darin vorkamen. Danach aßen sie in einem Pub zu Mittag – oder vielmehr im dazugehörigen Garten: Schinken mit Salat und Heinz-Mayonnaise, ein kleines Bitter für Rupert und ein Shandy für Zoë. Beim Essen sprachen sie nicht über die Kinder, und auch nicht danach, als sie nach Winchelsea fuhren, weil Rupert dort in der Kirche die Glasfenster von Strachan sehen wollte, sondern auf dem Rückweg. »Ach, mein Schatz«, sagte Zoë, »es war ein herrlicher Tag, und mein Ring gefällt mir so gut.«

»Es war wirklich schön«, bestätigte Rupert. »Und jetzt müssen wir an den Busen der Familie zurückkehren. Zu den Sturmhöhen.«

»Den Sturmhöhen?«

»Das ist der Titel eines Buchs von Emily Brontë.«

»Ach.« Was er alles wusste.

»Und wir müssen uns etwas Schönes überlegen, was wir morgen mit den Kindern unternehmen können.«

»Ich denke, sie sind doch glücklich mit ihren Cousins und Cousinen und überhaupt.«

»Das stimmt auch. Aber ich meine mit allen. Wir müssen unseren Teil beitragen.«

Sie schwieg. Sanft fügte er hinzu: »Weißt du, mein Schatz, ich glaube, du würdest das Familienleben mit ganz anderen Augen sehen, wenn du ein Kind hättest. Wenn wir eins hätten«, korrigierte er sich.

»Noch nicht. Dafür komme ich mir noch nicht alt genug vor.«

»Aber später einmal.« Sie war zweiundzwanzig – junge zweiundzwanzig, ermahnte er sich.

»Außerdem glaube ich nicht, dass wir es uns leisten können«, wandte sie ein. »Außer, du suchst dir eine andere Stelle. Oder du wirst berühmt oder so. Wir sind nicht reich, nicht wie Hugh und Edward. Die haben richtiges Personal, das ihnen eine Menge Arbeit abnimmt. Sybil und Villy brauchen nicht selbst zu kochen.«

Jetzt war es an ihm zu schweigen. Meistens kochte Ellen, und mittags gingen er und Clary ohnehin essen. Aber die arme kleine Zoë hasste kochen, das wusste er. In den vergangenen drei Jahren war sie kaum über Pfannengerichte und Dosen hinausgekommen.

»Also«, sagte er schließlich. Er wollte den Ausflug um keinen Preis verderben. »Es war bloß so ein Gedanke. Lass es dir doch mal durch den Kopf gehen.«

Bloß so ein Gedanke! Wenn er auch nur eine Ahnung hätte, was allein die Vorstellung eines Babys bei ihr auslöste, würde er das Thema nie wieder ansprechen. Ihre Angst, die sich zu blanker Panik auswuchs, sorgte dafür, dass sie nie weiterdachte als bis zur Schwangerschaft – sie würde immer dicker werden, ihre Knöchel würden anschwellen, sie würde herumwatscheln und unter Übelkeit leiden – und zu den Wehen mit den entsetzlichen Schmerzen, die sich stundenlang hinzogen und bei denen sie vielleicht sogar sterben würde. Das wusste sie von den Frauen, über die sie in ihren Romanen las. Und nicht nur das: Man denke doch nur an Ruperts erste Frau! Die war dabei gestorben. Aber selbst wenn sie nicht sterben würde, wäre ihre Figur ruiniert: Sie würde Hängebrüste mit viel zu großen Warzen haben, wie Villy und Sybil, die sie im Badeanzug gesehen hatte, sie würde in die Breite gehen und diese entsetzlichen Streifen auf dem Bauch und den Oberschenkeln bekommen – Sybil hatte sie, Villy war ihnen offenbar entgangen, dafür hatte sie Krampfadern –, und natürlich würde Rupert sie dann nicht mehr lieben. Wahrscheinlich würde er eine Weile so tun, als ob, aber sie würde sich nicht täuschen lassen. Denn eines wusste sie mit Sicherheit: Ihr Aussehen war das Einzige, was andere an ihr interessant fanden und würdigten. Sonst hatte sie ja nichts, weswegen jemand sich zu ihr hingezogen fühlen oder gar bei ihr bleiben sollte. Dank ihres Äußeren hatte sie ihr Leben lang bekommen, was sie wollte, und nichts hatte sie mehr gewollt als Rupert. Also musste sie ihr Aussehen jetzt einsetzen, um ihn zu behalten. Ohne näher darüber nachzudenken, wusste sie, dass sie weder klug noch geschickt war. Ihre Mutter hatte immer gesagt, mit dem richtigen Aussehen sei das nicht wichtig, und diese Lektion hatte sie verinnerlicht. Warum konnte Rupert das nicht verstehen? Er hatte doch schon zwei Kinder, die sehr viel Geld kosteten und ständig Probleme machten. Manchmal wünschte sie sich, er wäre dreißig Jahre älter und zu alt, um sich um irgendjemand anderen als sie zu kümmern – auf jeden Fall zu alt, um Vater werden zu wollen, und zufrieden damit, mit ihr allein zu sein. In den drei Jahren ihrer Ehe hatte er zweimal von einem Kind gesprochen: einmal ganz am Anfang, als er davon ausging, sie würde schwanger werden wollen, und dann rund ein halbes Jahr später, als sie sich dummerweise einmal über das Diaphragma beschwerte und wie lästig es sei. »Da bin ich ganz deiner Meinung«, hatte er gesagt. »Warum verzichtest du nicht einfach darauf und lässt der Natur ihren Lauf?« Irgendwie hatte sie sich herausgeredet, sie müsse sich erst an die Ehe gewöhnen oder etwas in der Art, nur, damit er nicht mehr davon sprach. Seitdem setzte sie das Diaphragma ein, lange bevor er von der Schule nach Hause kam, und verlor nie mehr ein Wort darüber. Sie hatte gedacht, er hätte die Hoffnung vielleicht aufgegeben, aber jetzt wurde ihr erschreckend klar, dass sie sich getäuscht hatte. Die restliche Rückfahrt verlief schweigend.

***

Clary leistete den ganzen Nachmittag Schwerarbeit, anfangs fieberhaft gegen die Uhr, weil sie ja wusste, dass Lydia und Nev nach ihrem Mittagsschlaf voll Tatendrang herausgestürzt kämen, ihr im Weg umgehen und alles falsch machen würden. Aber dann ließen sie sich gar nicht blicken, weil die Kindermädchen mit ihnen trotz der Hitze und unter viel Gemurre einen Spaziergang zum Laden in Whatlington unternahmen, und als die beiden im Lauf des Nachmittags immer noch nicht auftauchten, konnte Clary sich mehr Zeit lassen, gelegentlich eine kleine Pause einlegen und den nächsten Schritt überdenken. Der Spiegel hatte seinen Platz gefunden, im Sand eingebettet wirkte er wie Wasser, und sie umsäumte ihn mit Moos, wodurch er noch schöner aussah. Aus winzigen Buchsbaumzweigen, die sie dicht an dicht in den Sand steckte, pflanzte sie eine Hecke – das musste sie zweimal machen, weil der Sand beim ersten Versuch nicht fest genug war. Dann legte sie einen Kiespfad an, der parallel zur Hecke an den See führte, und dann fehlte eine weitere Hecke auf der kahlen Seite, also pflanzte sie die auch noch. Die Gänseblümchen der armen Lydia ließen mittlerweile die Köpfe hängen, und sie zog sie heraus; Blüten eigneten sich eindeutig nicht, sie brauchte richtige Pflanzen. Außerdem sollten sie wohl in Erde wachsen, ganz feiner Erde, sonst würden sie eingehen. Dafür holte sie aus dem Gewächshaus Saaterde und legte ein Beet an, das zuerst quadratisch war und schließlich eher oval wurde. Sie suchte Roten Gauchheil und Gamander – ein bisschen spillerig, aber sie füllten die Lücken –, etwas Mauerpfeffer von der Mauer des Küchengartens und einen winzigen Farn. Das war ein guter Anfang, aber es gab immer noch viele Lücken, also steckte sie Lavendelblüten sträußchenweise in den Sand. Sie wirkten wie Pflanzen, und da sie trocken waren, tat es nichts zur Sache, dass es nur Stiele ohne Wurzeln waren. Sie machten sich sehr gut. Es wird Wochen dauern, den Garten richtig hübsch zu gestalten, dachte Clary. Aber das war ja das Tolle daran. Sie brauchte Bäume und Büsche und vielleicht eine kleine Bank, auf der Menschen am See sitzen konnten. Den musste sie ständig mit etwas Spucke, ihrem Finger und einer ihrer Socken polieren, weil immer wieder Sandkörner daraufgelangten. Der Rasen wollte angelegt werden; er würde aus dicht aneinandergepflanzten Grasbüscheln bestehen, die sie mit Zoës Nagelschere beschneiden würde. Die Glocke zum Nachmittagstee läutete, und eigentlich hatte sie keine Lust, ins Haus zu gehen, aber wenn sie es nicht tat, würden sie sie holen kommen. Also ging sie und nahm Nevilles Schuh mit, worüber sich Ellen freuen würde. Auf dem Rückweg überlegte sie sich, dass es ihr doch gefallen würde, ihren Garten jemandem zu zeigen: Dad vielleicht oder Tante Rach? Beiden, beschloss sie.

***

Nach dem Tee spielten die Kinder »Erwischt!« – eines der traditionellen Ferienspiele, das sie selbst erfunden hatten. Teddy kam sich fast schon zu alt dafür vor, und Simon tat, als ginge es ihm ebenso, was aber eigentlich nicht stimmte. Das Spiel war Louises Idee gewesen, eine Art Verstecken, allerdings brauchte man die anderen nicht zu fangen, es genügte, sie zu sehen und eindeutig zu erkennen. Die Gejagten mussten also in ständiger Bewegung bleiben, aber nachdem sie einmal gesichtet wurden, saßen sie in einem alten Hundezwinger fest, bis jemand ihnen zur Rettung kam. Der Späher gewann nur, wenn es ihm gelang, alle zu sichten und einzusperren. Lydia und Neville verbrachten zwar die meiste Zeit in dem Zwinger, weil sie so leicht zu fangen waren, trotzdem machte ihnen das Spiel am meisten Spaß, weil sie bei den Großen mitmachen durften. Gleichzeitig beklagten sie sich bitterlich über die Ungerechtigkeit, ständig gefangen zu werden, während zum Beispiel Polly so gut wie nie erwischt wurde. Hugh und Edward waren auf dem Tennisplatz.

Villy und die Duchy spielten Musik für zwei Klaviere – Bach-Konzerte –, und Sybil und Rachel schnitten auf dem Tisch im Frühstückszimmer die Nachthemden zu. Nanny las Ellen beim Bügeln Artikel aus der Nursery World vor. Der Brig saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb für sein Buch ein Kapitel über Birma und die dortigen Teakwälder. Der heiße, goldene Tag unter dem strahlend blauen Himmel verklang mit längeren Schatten, mit Mücken und Schnaken und kleinen Kaninchen, die sich in den Obstgarten vorwagten.

Flossy, die Mrs. Cripps wegen deren guten Verbindungen zum Futter gestattete, ihre Besitzerin zu sein, erhob sich aus ihrem Korbstuhl in der Halle des Personals, streckte ihren ausgeruhten Körper und schlüpfte zu ihrer Abendjagd durch das Flügelfenster hinaus. Sie war eine Schildpattkatze mit einem sehr dichten Fell und jagte, wie Rachel einmal anmerkte, wie alle wohlgenährten Engländer allein aus sportlichen Gründen, wobei sie sich sehr unsportlicher Methoden bediente. Sie wusste genau, wann die Kaninchen in den Obstgarten kamen, und mindestens eines von ihnen würde angesichts ihrer beträchtlichen Erfahrung keine Chance haben.

***

Als Rupert und Zoë von ihrem Ausflug zurückkehrten, sagte sie, sie wolle gleich baden, bevor die ganzen Kinder und Tennisspieler das heiße Wasser aufbrauchten. Rupert blieb allein in ihrem Zimmer zurück, schlenderte zum Fenster und sah seine Schwester und Sybil unter der Araukarie sitzen und nähen. Sie saßen in Korbsesseln auf dem gemähten grünen Rasen, dahinter die dunkelgrüne Eibenhecke, vor der ihre Sommerkleider – Rachels Blau und Sybils Grün – fließend zart anmuteten. Zwischen ihnen stand ein Korbtisch, darauf verstreut ein Nähkorb und das Teetablett mit den Tassen mit Weidenmuster, ein Berg cremefarbener Stoff rundete die Szene ab. Die Ecke der Blumenrabatte auf der einen Seite brauchte er gar nicht, ebenso wenig wie die Ecke der weißen Pforte zur Auffahrt auf der anderen. Er wollte die Szene malen, doch bis er seine Utensilien beisammenhätte, könnten sie womöglich schon fort sein. Am liebsten hätte er sie von seinem Standort am Fenster aus gemalt, aber irgendwann würde Zoë zurückkommen, und dann müsste er aufhören. Er wühlte in seiner Leinentasche nach seinem größten Zeichenblock und einer Packung Ölkreiden und schlich die Nebentreppe hinunter nach draußen.

***

»Das gilt nicht! Ihr habt nicht gesagt, dass ihr nicht weiterspielt!«

Louise öffnete die Tür zum Hundezwinger.

»Wir sagen es euch ja jetzt.«

»Aber bis jetzt haben wir es nicht gewusst. Das ist nicht gerecht!«

»Wir haben doch gerade erst aufgehört«, erklärte Polly. »Vorher konnten wir es euch ja nicht sagen, da haben wir noch gespielt.«

Lydia und Neville stapften ins Freie. Sie wollten nicht, dass das Spiel aufhörte, außerdem fanden sie es wahnsinnig ungerecht. Keiner von ihnen hatte die Chance bekommen, der Späher zu sein.

»Teddy und Simon ist langweilig geworden. Sie gehen jagen. Und jetzt sind wir nicht mehr genug für ein richtiges Spiel.« Clary gesellte sich zu ihnen.

»Überhaupt, ihr müsst jetzt sowieso gleich baden. Jeden Moment holen sie euch.«

»Verdammte Hacke!«

»Achtet nicht auf ihn«, sagte Louise in ihrem nervigsten Tonfall.

»Ehrlich, Louise, du bist widerlich! Abgrundtief widerlich!«

Als Lydia das sagte, klang sie genau wie Mummys Freundin Hermione. Widerwillig bewunderte Louise sie dafür, hütete sich aber, das laut zu äußern. Zwei Schauspielerinnen in der Familie wollte sie nun wirklich nicht, vielen Dank. Sie gab Polly ihr Geheimzeichen, und sie liefen unvermittelt und sehr schnell vor Lydia und Neville davon. Die versuchten zwar, ihnen zu folgen, blieben aber bald außer Sichtweite zurück. Ihr Wutgeschrei machte Ellen und Nanny nur auf ihren Verbleib aufmerksam, und sie wurden Richtung Badewanne abgeführt.

***

Als Clary sich auf die Suche nach Dad und Tante Rachel machte, um ihnen ihren Garten zu zeigen, stellte sich heraus, dass keiner der beiden Zeit für sie hatte. Dad saß an dem großen Holztisch, an dem im Freien der Nachmittagstee getrunken wurde, und malte Tante Rach und Tante Syb. Unverwandt starrte er sie an, bis er plötzlich unwirsch in seinen Block kritzelte. Eine Weile stand sie nur da und sah ihm zu: Er hatte die Stirn halb in Falten gelegt, ab und zu holte er tief Luft und seufzte. Manchmal verwischte er die Striche, die er gemacht hatte, mit dem Finger. In der linken Hand hielt er mehrere Kreidestifte, und bisweilen steckte er einen, den er verwendet hatte, zurück, und nahm einen anderen. Clary dachte sich, dass doch sie die Stifte für ihn halten könnte, aber als sie näher trat, um ihm das vorzuschlagen, hob Tante Rach einen Finger an die Lippen, also sagte sie nichts. Und sie konnte auch nicht zu Tante Rach gehen und sie bitten mitzukommen, weil dann sie im Bild wäre. Also setzte sie sich ins Gras und sah ihrem Vater zu. Immer wieder fiel ihm eine Haarsträhne in die knochige Stirn, und er strich oder schüttelte sie zurück. Ich könnte ihm die Haare zurückhalten, dachte sie. Warum gibt es nicht etwas, das ich für ihn tun kann, sodass er ohne mich nicht mehr auskommt? »Clary ist unersetzlich«, würde er dann zu den Leuten sagen, die kamen, um seine Gemälde zu bewundern. Da wäre sie schon erwachsen, steckte das Haar zu einem Knoten, trüge wadenlange Röcke wie die Tanten und hätte ein schmales, interessantes Gesicht wie Dad. Ständig machten Männer – in Taxis und Orangerien wie Kensington Gardens – ihr Heiratsanträge, aber Dad zuliebe schlug sie alle aus. Sie würde nie heiraten, weil sie so unglaublich unersetzlich war, und da Zoë gestorben war, weil sie während einer Hitzewelle Schmalzfleisch gegessen hatte – was laut der Duchy den sicheren Tod bedeutete –, war sie alles, was Dad auf der Welt hatte. Dad würde berühmt sein, und sie würde …

»Rupert! Wo hast du mein Buch hingelegt? Rupert!«

Clary sah auf, und da stand Zoë in ihrem Kimono und rief zum offenen Schlafzimmerfenster hinaus.

Kurz herrschte Stille. Clary sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, bevor er wieder eine gutmütige Miene aufsetzte.

»Du musst es im Auto gelassen haben.«

»Ich dachte, du hättest es reingebracht.«

»Nein, habe ich nicht, mein Schatz.« Er drehte sich um und bemerkte Clary. »Clary bringt es dir.«

»Welches Buch?« Widerwillig stand sie auf. Wenn Dad sie bat, musste sie es ja wohl holen.

»Vom Winde verweht«, rief Zoë. »Bist du so lieb und bringst es mir, Clary? Du bist ein Engel.«

Clary trottete davon. Noch nie hatte sie sich weniger als ein Engel gefühlt. Zoë hat das nur gesagt, dachte sie, damit es klingt, als würde sie mich gernhaben, dabei stimmt das überhaupt nicht. Und ich mag sie auch nicht, überhaupt nicht. Nicht das mindeste bisschen. Ich hasse sie! Einer der Gründe für ihren Hass auf Zoë war, dass sie dieses Gefühl in ihr weckte. Sonst gab es niemanden, den sie hasste, was ja bewies, dass sie kein hassender Mensch war. Aber Zoë gegenüber wurde sie oft gemein und manchmal richtig böse – etwas wie mit dem Schmalzfleisch würde ihr bei jemand anderem nie und nimmer einfallen. Im Lauf der Monate hatte sie sich Dutzende Möglichkeiten überlegt, wie Zoë sterben könnte, und sollte Zoë wirklich an einer davon sterben, wäre es ihre Schuld. Sie hoffte, dass es noch eine andere Art zu sterben gab als diejenigen, an die sie gedacht hatte – eigentlich musste es sie geben, schließlich starben Leute an so ziemlich allem. An einem Schlangenbiss oder durch ein Gespenst, das sie zu Tode erschreckte, oder an etwas, das Ellen einen Leistenbruch nannte und das ziemlich schlimm sein musste. Aber jetzt fing sie schon wieder damit an, und dadurch wurde es immer wahrscheinlicher, dass es ihre Schuld sein würde. Sie schloss die Augen und hielt die Luft an, damit die Gedanken aufhörten. Dann öffnete sie die Wagentür und sah das Buch auf dem Rücksitz liegen.

***

Der Abend ging in eine heiße, stille Nacht über. Motten prallten wie benommen immer wieder gegen das Pergament der Lampenschirme, und bisweilen rieselte nach einer Kollision silbriger Staub auf Sybils Näharbeit. Man hatte ihr das ganze Sofa überlassen, damit sie die Beine hochlegen konnte. Der Brig und Edward spielten Schach und rauchten Havannas. Sie schoben ihre Figuren sehr bedächtig hin und her, und gelegentlich brummte einer von beiden anerkennend über die Fähigkeiten seines Gegners. Die Duchy setzte in das für Clary bestimmte Kleid die Puffärmel ein. Es war aus kirschroter Wildseide und üppig gesmokt; die Smokarbeit der Duchy wurde allgemein gerühmt. Zoë hatte es sich in einem zerschlissenen Lesesessel mit Vom Winde verweht bequem gemacht. Hugh, der über das Grammofon wachte, hatte Schuberts posthume Sonate in B-Dur gewählt – für die die Duchy, wie man wusste, eine besondere Vorliebe hatte – und lauschte mit geschlossenen Augen der Musik. Villy arbeitete an einem ihrer schier unzähligen Tischuntersetzer in feinem schwarzen Kreuzstich auf schwerem Leinen. Rupert lag am Ende des Raums in einem Sessel, die Beine von sich gestreckt, hörte mit halbem Ohr der Musik zu und betrachtete die anderen. Wie sehr Edward ihrem Vater ähnelte, dachte er. Die gleiche Stirn, auf der das Haar von einem spitzen Ansatz nach hinten wuchs und Geheimratsecken hinterließ – stärker ausgeprägt bei Edward als bei ihrem Vater. Die gleichen buschigen Augenbrauen, die gleichen blaugrauen Augen (obwohl Edward die direkte Art, einen anzublicken, von der Duchy geerbt hatte, was einen Großteil ihres Charmes ausmachte. »Ich bin völlig anderer Meinung als du«, pflegte sie zu sagen, und man mochte sie dafür), dazu die hohen Wangenknochen, der kleine Schnurrbart. Der des Brigs war nicht nur weiß, sondern auch länger und üppiger, während Edward eine militärisch kurze Bürste trug. Ihre Hände mit den langen Fingern und sehr flachen Nägeln hatten die gleiche Form, wobei die des Brig mit Leberflecken übersät, Edwards hingegen behaart waren. Kurioserweise verloren die Lippen bei einem Schnurrbartträger völlig ihre Bedeutung, der Mund wurde zu einer nebensächlichen Gesichtspartie, wie wahrscheinlich auch ein Kinn, an dem ein Vollbart wuchs. Allerdings besaß Edward eine besondere Strahlkraft, die er kaum einem seiner Eltern verdanken konnte; er sah von den drei Brüdern eindeutig am besten aus. Diese Strahlkraft ging von ihm aus, weil er sich offenbar weder seiner Erscheinung noch seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst war. Kleidungsstücke etwa wirkten elegant an ihm, einfach dadurch, dass er sie trug – an diesem Abend ein weißes Seidenhemd mit einem flaschengrünen Seidenfoulard, den er um den Hals gebunden hatte, und dazu eine farblich entsprechende Leinenhose. Aber wenn man es genauer bedachte, hatte er diesen Aufzug ja zusammengestellt, hatte er diese Kleidungsstücke ausgewählt, also war es ihm vielleicht doch mehr bewusst, als er glauben machen wollte? Auf jeden Fall wusste er, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Und selbst jenen, auf die das nicht zutraf, fiel er ins Auge. Zoë etwa sagte, er sei zwar nicht ihr Typ, doch könne sie sehen, dass sich andere Frauen zu ihm hingezogen fühlten. Edwards Wirkung auf andere hing teilweise damit zusammen, dass er immer den Eindruck erweckte, als bereite ihm alles Freude, als lebe er ausschließlich im Hier und Jetzt – als ginge er ganz im Moment auf und ließe alles außer Acht, das ihn davon ablenken könnte.

Rupert, der sechs beziehungsweise sieben Jahre jünger war als seine Brüder, war vom Krieg verschont geblieben – als seine Brüder in Frankreich kämpften, ging er noch zur Schule. Hugh meldete sich als Erster – zu den Coldstream Guards –, und Edward, der sich ihm aus Altersgründen nicht sofort anschließen konnte, wurde wenige Monate später in das Machine Gun Corps aufgenommen. Bald darauf bekam er sein erstes Militärverdienstkreuz und wurde für ein Viktoria-Kreuz vorgeschlagen. Doch als Rupert ihn näher dazu befragte in der Hoffnung, der Ruhm würde auf ihn abstrahlen, wenn er seinen Schulkameraden davon berichtete, sagte Edward: »Weil ich auf ein Maschinengewehr gepinkelt habe, alter Junge – um es abzukühlen. Es war zu heiß geworden und hatte Ladehemmung«, und sah peinlich berührt zur Seite. »Unter Beschuss?« Ja, räumte Edward ein, es habe ziemlich heftigen Beschuss gegeben. Dann wechselte er das Thema. Mit einundzwanzig wurde er zum Major befördert und bekam eine Spange zu seinem Orden, Hugh war mittlerweile Hauptmann, war ebenfalls mit dem Verdienstkreuz ausgezeichnet und verwundet worden. Als sie schließlich aus dem Krieg heimkehrten, sprachen beide nicht darüber. Bei Hugh hatte Rupert das Gefühl, er könne es nicht ertragen, während Edward eher den Eindruck erweckte, als habe er mit dem Ganzen abgeschlossen und interessiere sich nur für das, was das Leben als Nächstes für ihn bereithielt – in die Firma einzutreten und Villy zu heiraten. Hugh aber war nie mehr der Alte geworden. Wegen seiner Kopfverletzung litt er immer wieder unter schrecklichen Schmerzen, er hatte eine Hand verloren, seine Verdauung bereitete ihm bisweilen Probleme, und manchmal hatte er schreckliche Träume. Aber es war mehr als das: Immer wieder fiel Rupert etwas in seinem Gesicht auf, in seinen Augen, ein gehetzter Blick der Empörung, der Qual gar. Wenn man ihn ansprach und er einen direkt ansah – wie Edward, wie seine Mutter –, konnte man diesen Ausdruck erhaschen, ehe er sich in eine beklommene Sanftmut und schließlich in die übliche fürsorgliche Freundlichkeit auflöste. Hugh liebte seine Familie, verlangte nie nach der Gesellschaft anderer, sah keine andere Frau an und hatte ein Herz für Kinder, insbesondere für Babys. Wann immer Rupert Hugh ansah oder an ihn dachte, empfand er ein irrationales Schuldgefühl, weil ihm diese ungekannte Hölle erspart geblieben war.

Der Schubert verklang. »Sollen wir schlafen gehen, mein Schatz?«, fragte Sybil, ohne ihren Blick von der Näharbeit zu nehmen.

»Wenn du so weit bist.« Er räumte die Schallplatte fort, ging zu seiner Mutter und gab ihr einen Kuss. Sie tätschelte ihm die Wange.

»Schlaf gut, mein Lieber.«

»Wie ein Toter werde ich schlafen. Das tue ich hier immer.« Als er quer durch den Raum zu seiner Frau ging, lächelte er Rupert zu und dann, als wollte er Gefühle gar nicht erst aufkommen lassen, zwinkerte er. Rupert zwinkerte zurück. Das war eine ihrer alten Gewohnheiten.

Allseits wurden Handarbeiten beiseitegelegt, der Aufbruch ins Bett begann. Rupert sah zu Zoë, die völlig in ihr Buch vertieft war – das hatte er bei ihr noch nie erlebt.

»Kann ich dich fürs Bett interessieren?«

Sie sah auf. »Ist es schon so spät?«

»So langsam. Das Buch muss ja fantastisch sein.«

»Es ist sehr gut. Es geht um den amerikanischen Bürgerkrieg«, fügte sie hinzu und knickte die Seite um, bis zu der sie gekommen war. Villy verzog den Mund und warf Sybil einen flüchtigen Blick zu. Als das Buch im Frühjahr erschienen war, hatte sie es sich von Hermione ausgeliehen und mit Sybil darüber gesprochen. Sie habe hineingeblättert, sagte sie, und es komme ihr vor, als sei die Protagonistin von eher seichterem Gemüt und habe nichts anderes im Sinn als Männer, Kleider und Geld. Sybil meinte, die Stellen über den Bürgerkrieg seien angeblich recht gut, aber Villy, die diese Seiten nicht gefunden hatte, erklärte, sie spielten ihrer Ansicht nach nur eine Nebenrolle. Sybil befand, es klinge nicht nach einem Buch, das sie lesen wolle. Jetzt reichte Sybil ihre Näharbeit Hugh und schwang die Beine über die Sofakante, konnte aber nicht ohne Unterstützung aufstehen. Rupert half ihr. Villy beschloss, ebenfalls ins Bett zu gehen und zu schlafen, bevor Edward seine Schachpartie beendet hatte.

»Wo ist Rachel?«, fragte jemand. »Sie ist früh zu Bett gegangen«, antwortete die Duchy, die gerade ihre Metallbrille in das bestickte Etui steckte. »Sie hatte Kopfweh.«

In Wirklichkeit hatte sich Rachel nach dem Essen ins Arbeitszimmer des Brig zurückgezogen, um Sid anzurufen, woraufhin die beiden ein reizendes – und extravagantes – Gespräch von sechs Minuten Dauer über die Organisation von Sids Besuch zum Lunch führten. Sie einigten sich auf Montag als günstigsten Tag, da dann das Gros der Familie am Strand sein würde. »Werden sie nicht alle Autos brauchen?«, fragte S. Aber das glaubte Rachel nicht, und wenn doch, würde sie mit dem Fahrrad nach Battle zum Bahnhof fahren. Die Vorstellung von Rachel auf einem Fahrrad entzückte Sid, das Gespräch sollte gar nicht enden, doch schließlich rief Rachel vom Telefon ihrer Eltern aus an. Aber als sie das Sid gegenüber erwähnte, kam als Erwiderung nur: »Ja, mein Engel«, und sie unterhielten sich weiter. Deshalb währte das Telefonat sechs Minuten anstatt der drei, die in der Familie als angemessen für ein Ferngespräch galten. Und da Rachel ihre Aufregung und Freude natürlich nicht mit der Familie teilen konnte, beschloss sie, früh ins Bett zu gehen und zu lesen. Als sie in der Halle auf Eileen mit dem Kaffeetablett stieß, bat sie sie, Mrs. Cazalet auszurichten, sie habe Kopfweh und werde nicht wieder nach unten kommen. Doch auf dem Weg nach oben fiel ihr ein, kurz zu den Mädchen hineinzusehen und sich zu vergewissern, dass Clary sich auch gut einlebte. Louise und Polly waren schon im Bett – Louise las, Polly strickte –, und Clary lag bäuchlings auf dem Boden und schrieb etwas in ein Heft. Die Freude aller, sie zu sehen, schmeichelte ihr. »Setz dich zu mir aufs Bett, Tante Rach. Ich lese gerade ein schrecklich trauriges Buch, da geht es nur um Gott und um Leute, die ständig in Tränen ausbrechen. Es spielt in Kanada, und es gibt eine böse Tante. Überhaupt nicht wie du«, ergänzte Louise. Rachel setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Und was machst du, Polly?«

»Einen Pullover. Für Mum. Zu Weihnachten. Sie sollte ihn zu ihrem Geburtstag bekommen, aber er ist ein Geheimnis, deswegen kann ich nie lange daran stricken. Erzähl ihr nichts davon.«

»Das sieht sehr schwierig aus.« Das stimmte – ein genopptes Spitzenmuster in Hellrosa. »Nur gut, dass die Farbe Puderrosa heißt«, sagte Polly. »Es ist viel weniger rosa als am Anfang.«

»Puderrosa trug man letztes Jahr«, sagte Louise. »Bis du fertig bist, ist es völlig überholt. Aber da deine Mutter nicht besonders modebewusst ist, macht es ihr wahrscheinlich nichts aus.«

»Farben, die Leuten stehen, tragen sie immer«, verteidigte Polly sich.

»Leute mit rotbraunem Haar sollten immer Grün tragen. Und Blau.«

»Du verstehst dich ja als große Autorität in Modefragen, Louise.« Das Mädchen brauchte eine sanfte Zurechtweisung. Rachel drehte sich zu Clary, die unentwegt weiterschrieb. »Und was machst du?«

»Nicht viel.«

»Was schreibst du denn? Tagebuch?«

»Bloß ein Buch.«

»Das ist ja spannend! Worum geht es da?«

»Nichts Besonderes. Es ist die Lebensgeschichte eines Katers, der alles versteht, was auf Englisch gesagt wird. Er wurde in Australien geboren und ist nach England gekommen, um Abenteuer zu erleben.«

»Quarantäne«, wandte Louise ein. »Das kann er gar nicht.«

»Was meinst du damit? Wieso soll er das nicht können? Er hat es einfach gemacht.«

»Er müsste ein halbes Jahr in Quarantäne verbringen.«

»Vielleicht könntest du das ja einfügen, und dann ist er in England«, schlug Polly freundlich vor.

Clary klappte ihr Heft zu und ging wortlos ins Bett.

»Jetzt ist sie eingeschnappt.«

Rachel war bekümmert.

»Du bist sehr unfreundlich gewesen, Louise.«

»Das wollte ich nicht.«

»Das genügt nicht. Du kannst nicht einfach unfreundliche Dinge sagen und dann behaupten, du hättest es nicht so gemeint.«

»Nein, das darf man auch nicht«, sagte Polly. »Dadurch wird dein Charakter im Lauf der Zeit nur noch schlechter. Du wünschst dir doch nur, du wärst selbst auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben.«

Das saß, wie Rachel bemerkte. Louise lief rot an und sagte Clary, es tue ihr leid, und Clary sagte, es sei schon in Ordnung.

Rachel gab ihnen nacheinander einen Kuss. Alle dufteten nach feuchten Haaren, Zahnpasta und Vinolia-Seife. Clary schlang die Arme um sie und flüsterte, am Morgen wolle sie ihr eine Überraschung zeigen. Louise entschuldigte sich noch einmal im Flüsterton, und Polly meinte nur kichernd, sie habe nichts, worüber es sich zu flüstern lohne.

»Seid nett zueinander, und in zehn Minuten macht ihr das Licht aus.«

»Wie beliebig!«, hörte sie Louise sagen, nachdem sie gegangen war. »Wie unglaublich beliebig! Wenn sie halb zehn gesagt hätte oder zehn, dann könnte ich das ja verstehen, aber zehn Minuten nachdem sie gegangen ist …« Dieser kleine Groll würde sie zumindest alle wieder vereinen.

***

Am Montag ließ Hugh Sybil weiterschlafen, frühstückte kurz mit der Duchy, die eigens zu dem Zweck früh aufgestanden war, und brach um halb acht nach London auf. Er meinte, Sybil solle nicht mit zum Strand fahren, und bat seine Mutter, sie davon abzuhalten. Die Duchy pflichtete ihm bei, es würde ein glutheißer Tag werden, und es gebe reichlich Onkel und Tanten, die sich um Polly und Simon kümmerten. In der sengenden Sonne auf heißen Steinen zu sitzen, wenn man nicht ins Wasser gehen konnte (was für Sybil in ihrem Zustand natürlich außer Frage war), fanden beide unpassend. Hugh, der den Drang unterdrückte, sich nach dem Frühstück von seiner Frau zu verabschieden – er wollte sie nicht stören –, war erleichtert. Sybil lag im Bett, wünschte sich sehnlich, er würde noch einmal zu ihr kommen, hörte seinen Wagen starten und stand auf, sodass sie ihm gerade noch nachsehen konnte, wie er die Auffahrt hinunter verschwand. Mittlerweile war sie völlig wach und beschloss, sich ein langes Bad zu gönnen, bevor jemand anderes ins Badezimmer wollte.

***

Erst nach zehn waren alle abfahrbereit. Ihr Konvoi bestand aus drei Autos, beladen mit Handtüchern, Badeanzügen, Picknickkörben, Decken und allen persönlichen Habseligkeiten, die jeder für sein Glück zu benötigen glaubte. Die kleineren Kinder hatten Eimer und Spaten und ein Krabbennetz dabei, »Was wirklich dumm ist, Neville, da gibt es keine einzige Krabbe«. Die Kindermädchen steckten Strickzeug und die Nursery World ein und Edward seine Kamera. Zoë nahm Vom Winde verweht mit, ihren neuen Badeanzug mit Nackenhalterung – marineblau mit weißen Pikeeschleifen am Hals und am Rücken – und eine dunkle Brille. Rupert packte einen Skizzenblock und etwas Zeichenkohle ein, Clary eine Keksdose, um Muscheln oder etwas anderes zu sammeln. Simon und Teddy steckten zwei Spielkartendecks ein, seit Neuestem konnten sie Bézique; Louise Die weite, weite Welt und einen Tiegel Wonder Cream (sie hielt sich zwar nicht besonders gut, war unten ganz wässrig geworden und hatte oben eine feste grüne Schicht bekommen, aber sie fand, die Creme müsse aufgebraucht werden), und Polly nahm ihre Brownie-Kamera mit – das schönste Geschenk zu ihrem letzten Geburtstag.

Villy legte ein Buch über Nijinski und seine Frau in eine Strandtasche, in der bereits eine Wundsalbe, Pflaster und ein zweiter Badeanzug lagen – sie konnte es nicht leiden, in der nassen Kleidung herumzusitzen. Edward, Villy und Rupert sollten am Steuer der Autos sitzen, die sich langsam mit Insassen füllten. Bis es endlich losging, waren alle schon verschwitzt und in manchen Fällen weinerlich, weil es zu heiß war und weil man sie ihrer Ansicht nach ins falsche Auto gesetzt hatte.

Mrs. Cripps sah ihnen vom Küchenfenster aus nach. Seit sieben Uhr war sie auf den Beinen – neben dem gebratenen englischen Frühstück für alle hatte sie Sandwiches mit hart gekochtem Ei, Sardinen, Käse und ihrer selbst hergestellten Schinkenpaste gemacht, dazu gab es als Nachtisch Kümmelkuchen, Haferkekse und Bananen. Jetzt hatte sie Zeit für eine gute Tasse Tee, bevor Madam mit ihren Listen kam.

Aus Gründen, die sie nicht näher erläutern wollte, fiel es Rachel schwer, die Duchy über ihr Vorhaben zu unterrichten. Sie entschied sich dagegen, um das Auto zu bitten; Hitze hin oder her, mit dem Fahrrad wäre sie unabhängiger. Doch als die Duchy sie beim Frühstück nach ihren Plänen fragte, fühlte sie sich verpflichtet zu erklären, sie und Sid würden zum Lunch gerne in den Gateway-Teesalon gehen. Die Duchy aber, die Mahlzeiten in Hotels oder Restaurants und selbst in Teesalons als unsinnige Geldverschwendung erachtete sowie als unschickliche Gepflogenheit, bestand darauf, dass sie Sid zum Lunch mitbringe, und klingelte, noch ehe Rachel auch nur ein Wort des Protests erheben konnte, nach Eileen, die Tonbridge ausrichten sollte, er möge den Wagen in einer halben Stunde vorfahren. Wir können ja nach dem Lunch spazieren gehen, tröstete Rachel sich. Das ist genauso schön. Fast genauso schön. Sybil unterband jede weitere Diskussion, sie kam in das Frühstückszimmer gehumpelt, entschuldigte sich für ihre Verspätung und ließ sich mit unverkennbarer Erleichterung auf den Stuhl fallen. Sie habe das Gleichgewicht verloren, als sie aus der Wanne stieg, erklärte sie, und sich offenbar den Knöchel verstaucht. Rachel, die in den letzten Kriegsjahren als Hilfsschwester gearbeitet hatte, bestand darauf, sich den Fuß anzusehen. Er war stark geschwollen und tat eindeutig sehr weh. Die Duchy brachte Hamamelis, Rachel holte eine Bandage und ein Stück Mull, und der Knöchel wurde verbunden.

»Du solltest ihn hochlegen«, sagte Rachel, schob einen zweiten Stuhl vor Sybil und hob den verletzten Fuß vorsichtig auf das Kissen, mit dem sie die Sitzfläche gepolstert hatte. Dadurch saß Sybil allerdings in einem sehr unbequemen Winkel am Tisch und bekam nahezu umgehend Rückenschmerzen. Wegen ihres Knöchels hatte sie eine Ewigkeit gebraucht, um sich anzuziehen, und war schon wieder müde, dabei hatte der Tag doch gerade erst begonnen. Rachel verschwand, um nach Battle zu fahren. Die Duchy schenkte Sybil noch eine Tasse Tee ein, bestellte frischen Toast für sie und zog sich zu ihrer Besprechung mit Mrs. Cripps in die Küche zurück. Als Eileen den Toast brachte, bat Sybil sie um ein Kissen für den Rücken, und während das geholt wurde, warf sie einen Blick in die Tageszeitung, die auf der Auslandsseite aufgeschlagen war. Ein Pastor namens Martin Niemöller war nach einem großen Gottesdienst an einem Ort namens Dahlem verhaftet worden – ein Ort, von dem sie noch nie gehört hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie keine Lust auf die Zeitungslektüre hatte und auch nichts essen wollte. Sie beugte sich vor, damit Eileen ihr das Kissen in den Rücken stecken konnte, und dabei hatte sie das Gefühl, als würde eine Hand langsam ihre untere Wirbelsäule zusammenpressen. Kaum spürte sie das, da löste sich der eiserne Griff schon wieder. Wie seltsam, dachte sie gerade, und keinen Augenblick später geriet sie ohne Vorwarnung in einen Strudel lähmender, blinder Panik. Als auch der verebbte, trieben Bruchstücke begründeter Angst an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Polly und Simon waren zu spät gekommen – Polly elf Tage und Simon drei. Sie war noch drei bis vier Wochen vor der Zeit, der Sturz konnte das Baby – oder die Babys – doch eigentlich nicht verletzt haben, Hugh würde mittlerweile schon in London sein, sie hatte vom Sturz einen Schock bekommen, etwas anderes war es nicht … Lächerlich! Nach Bestätigung suchend, horchte sie bang in sich hinein. Sie schwitzte, es prickelte unter ihren Achseln, ihre Stirn war feucht. Ihr Rücken – der gab jetzt wieder Ruhe, bis auf den leisen Schmerz, wenn sie in der falschen Position saß oder zu lange in einer anderen verharrte.

Sie bewegte den Fuß und nahm fast mit Erleichterung den jähen stechenden Schmerz wahr. Knöchel konnten höllisch wehtun, aber mehr auch nicht. Ihr Mund war trocken, sie trank einen Schluck Tee. Sie hatte einfach Pech gehabt, denn sie hatte sich vorgenommen, an diesem Vormittag ein bisschen durch den Garten zu spazieren, den sie in diesem Sommer noch gar nicht richtig gesehen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie barfuß über den gepflegten Rasen ging, weich und federnd und noch kühl vom Tau – sie wollte jetzt, in diesem Moment, darauf herumgehen! Vor Frustration wurde sie gereizt und rastlos – was trödelte Eileen immer noch hier herum …

»Ist alles in Ordnung, Mrs. Hugh?«

»In bester Ordnung. Ich habe mir nur den Knöchel verstaucht, mehr nicht.«

»Ach, das ist der Grund.« Eileen schien beruhigt. »Das kann wirklich sehr schmerzhaft sein.« Sie nahm das Tablett vom Tisch. »Sie läuten, wenn Sie etwas brauchen, Madam, ja?« Sie stellte die kleine Messingglocke in Sybils Reichweite und ging.

Vielleicht sollte ich in London sein und nicht so weit weg, dachte Sybil. Ich hätte mit Hugh zurückfahren und vom Büro ein Taxi nach Hause nehmen können. Sie konnte wirklich nicht mehr so sitzen bleiben, es war einfach zu unbequem. Am liebsten würde sie Hugh anrufen und ihn fragen, was er meinte, aber dann würde er sich nur Sorgen machen, also verzichtete sie darauf. Wenn sie sich aus dem Arbeitszimmer des Brig – auf der anderen Seite der Halle – einen Gehstock holte, könnte sie in den Garten gehen. Mit einem Stock konnte sie bestimmt ein paar Schritte machen. Sie drehte sich zur Seite und hob ihren Fuß vom Stuhl, woraufhin sie einen derart qualvollen Stich im Knöchel spürte, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Vielleicht sollte sie lieber nach Eileen läuten, damit die den Stock für sie holte … Aber dann merkte sie, dass ihre Hand wieder auf ihrer Wirbelsäule lag. Die Stelle tat nicht regelrecht weh, aber der Schmerz lauerte, das spürte sie. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Das war erst der Anfang – der Griff würde zur Schraubzwinge werden, und dann würde ein Messer ganz langsam an ihr hinauffahren, ihre Wirbelsäule aufschlitzen, und die Schmerzen würden erst ein paar Sekunden, nachdem sie unerträglich geworden waren, aufhören, so, als seien sie verschwunden, doch in Wirklichkeit warteten sie nur darauf, zum nächsten, noch grausameren Anschlag auszuholen … Sie musste aufstehen … musste … Sie stützte sich am Tisch ab und stand auf, dann erinnerte sie sich an die Glocke, jetzt außer Reichweite, und als sie sich über den Tisch zu ihr beugte, spürte sie die nasse Wärme des Fruchtwassers an ihren Beinen hinablaufen. So sollte das alles überhaupt nicht laufen, dachte sie. Tränen strömten ihr über die Wangen, aber sie bekam die Glocke zu fassen und klingelte und klingelte unendlich weiter, damit jemand kam.

Was natürlich passierte, und zwar viel schneller, als es Sybil erschien. Sie halfen ihr in den Stuhl zurück, und die Duchy schickte Eileen nach Wren oder McAlpine, wen immer sie früher fand, und rief bei Dr. Carr an. Er mache Hausbesuche, hieß es, sei aber erreichbar und werde sofort kommen. Ihrer Schwiegertochter gegenüber verschwieg die Duchy, dass er nicht da war, und erklärte, er sei auf dem Weg, Eileen und einer der Männer würden sie in ihr Zimmer tragen und sie, die Duchy, werde nicht von ihrer Seite weichen, bis der Arzt käme. »Und alles wird gut«, schloss sie mit der ganzen Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte, aber sie war besorgt und wünschte, Rachel wäre da. Bei Schwierigkeiten wusste Rachel immer Rat. Es war kein gutes Zeichen, dass die Fruchtblase so früh geplatzt war. Sie sah keine Blutspuren, wollte Sybil aber nicht danach fragen, um sie nicht zu ängstigen. Wenn nur Rachel hier wäre, dachte sie fast verärgert. Sie war immer da, und ausgerechnet jetzt musste sie natürlich fort sein. Sybil biss sich auf die Unterlippe, um weder zu schreien noch zu weinen. Die Duchy nahm ihre Hand in ihre und drückte sie fest. Sie erinnerte sich, dass eine solche Berührung half, zudem bekräftigte sie damit die unausgesprochene Übereinkunft, bei der Geburt keinen Laut von sich zu geben, wie es sich für Frauen wie sie gehörte. Schmerz ertrug man und vergaß ihn, nur war er nie wirklich vergessen, und als sie jetzt Sybils stille Pein sah, erinnerte sie sich nur allzu deutlich daran. »Es wird alles gut, mein Küken, alles gut«, sagte sie. »Es wird ein wunderhübsches Kind, du wirst schon sehen.«

***

Rachel hätte sich mehr Zeit gewünscht, um sich herzurichten, ehe sie Sid abholte. Sie hätte sich auch gewünscht, dass sie mittags allein zu zweit im White Hart essen gingen, aber es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, sich in dieser Frage den Wünschen der Duchy zu widersetzen – ebenso wenig wie in irgendeiner anderen Frage, wenn man es recht besah. Sie kannte es nicht anders. Vor zwanzig Jahren hatte sie sich damit herausreden können, dass sie zu jung war – achtzehn, um genau zu sein. Der fragliche junge Mann hatte sie gedrängt, sich größere Freiheiten herauszunehmen, wozu sie seinetwegen allerdings in keinster Weise bereit gewesen war. Als sie älter wurde, galt eher das Alter ihrer Eltern denn ihr eigenes als Grund für ihre Fügsamkeit, und der Gedanke, dass sie mit achtunddreißig Jahren noch immer nicht frei über ihre Zeit – oder in diesem Fall ihre und Sids Zeit – verfügen konnte, drang nicht in ihr Bewusstsein vor. Das war bedauerlich, aber auf seinen persönlichen Wünschen zu beharren wäre morbid, was in der Familie Cazalet ein Ausdruck abgrundtiefster Missbilligung war.

Und so saß sie auf dem Rücksitz des Wagens und versuchte, das Gute an der Situation zu sehen. Es war ein herrlicher Tag, heiß und flirrend, und nach dem Lunch würden sie und Sid einen wunderschönen Spaziergang machen – sie könnten sogar ein paar Osborne-Kekse und eine Thermosflasche mitnehmen und damit berechtigtermaßen den Nachmittagstee im Familienkreis ausfallen lassen.

Tonbridge fuhr mit seinen üblichen vierzig Stundenkilometern, und am liebsten hätte sie ihn gebeten, das Tempo zu beschleunigen, aber da er noch nie einen Zug verpasst hatte, wäre es lächerlich, ihn zur Eile anzuhalten.

Und in der Tat waren sie überpünktlich, wie Rachel bereits gewusst hatte. Sie werde auf dem Bahnsteig warten, sagte sie Tonbridge, der daraufhin meinte, er solle für McAlpine etwas bei Till’s abholen.

»Erledigen Sie das doch jetzt, und wir treffen Sie vor Till’s«, teilte Rachel ihm mit, erfreut, die Gunst der Stunde rechtzeitig erkannt zu haben.

Am Bahnhof herrschte Stille. Der einzige Gepäckträger goss die Blumenbeete: orangerote Geranien, dunkelblaue Lobelien und weißes Steinkraut, Überreste des gärtnerischen Jubelschmucks anlässlich der Krönung. Auf der anderen Seite der Gleise saß ein Fahrgast mit einem Kind; dem Eimer, dem Holzspaten und dem Picknick nach zu urteilen, die aus der prall gefüllten Tasche ragten, wollten die beiden offenbar den Tag am Strand in Hastings verbringen. Rachel ging über die Brücke auf sie zu, merkte dann aber, dass sie mit niemandem ins Gespräch kommen wollte – sie wollte Sid in Stille begegnen –, und war froh, als der Zug langsam herangedampft kam, denn sie kam sich sehr unhöflich vor. Schließlich blieb er stehen, die Türen klappten auf, Leute stiegen aus, und da kam Sid lächelnd auf sie zu, in ihrem braunen Wildseidenkostüm und der gegürteten Jacke, ohne Hut, mit kurzem Haar und einem olivbraunen Gesicht.

»Holla!«, sagte Sid, und sie umarmten sich.

»Ich trage ihn.«

»Das lässt du schön bleiben.« Sid griff nach dem geschäftsmäßig wirkenden kleinen Koffer, den sie zu Begrüßung abgestellt hatte, und hakte sich bei Rachel unter.

»Ich hatte mir vorgestellt, dass du mich auf dem Fahrrad empfängst, aber vermutlich hat die Brücke dich überfordert. Du siehst müde aus, Liebste, stimmt das?«

»Nein. Und ich bin auch nicht mit dem Fahrrad gekommen. Ich fürchte, auf uns warten Tonbridge und ein Lunch zu Hause.«

»Oh!«

»Aber anschließend ein schöner Spaziergang, und ich dachte, wir könnten Tee mitnehmen, dann müssten wir dafür nicht zurück.«

»Das ist doch eine grandiose Idee«, erwiderte Sid resolut, und Rachel suchte in ihrer Miene nach einem Anzeichen von Ironie, fand aber keins. Sid begegnete ihrem Blick und zwinkerte. »Du Gute, du bist ein Engel, immer willst du es allen Menschen recht machen. Ich habe es ernst gemeint, es ist wirklich eine grandiose Idee.«

Schweigend verließen sie den Bahnhof. Für Rachel bedeutete dieses Schweigen glückselige Zweisamkeit, für Sid übervolles, wildes Glück, sodass sie kein Wort hervorbrachte, bis sie das Abteiportal passierten. »Werden die Kinder nicht mitkommen wollen, wenn wir ein Picknick mitnehmen?«

»Sie sind alle zum Strand gefahren und erst zum Nachmittagstee wieder da.«

»Ah! Die Situation lichtet sich aufs Bewunderungswürdigste.«

»Und ich dachte, du könntest bei uns übernachten. Wir könnten ein Klappbett in mein Zimmer stellen.«

»Meinst du wirklich? Aber ich muss warten, bis die Duchy es mir vorschlägt.«

»Das tut sie sicher. Sie mag dich sehr gern. Schade, dass du deine Geige nicht mitgebracht hast, aber du könntest dir die von Edward borgen. Du weißt doch, dass sie liebend gern Sonaten mit dir spielt. Wie geht es Evie?«

»Davon erzähle ich dir im Auto.« Evie war Sids Schwester, bekannt für kleinere und häufig vorsätzliche Unpässlichkeiten. Sie arbeitete halbtags als Sekretärin für einen berühmten Musiker und verließ sich darauf, dass Sid, mit der sie zusammenlebte, ihre bescheidenen Einkünfte verwaltete und sich im tatsächlichen und vermeintlichen Bedarfsfall um sie kümmerte.

Im Auto, während Sid ihre Hand hielt, erkundigte sich Rachel also erneut nach Evie und erfuhr von ihrem Heuschnupfen, der Möglichkeit eines Geschwürs, obwohl der Arzt das eher für unwahrscheinlich hielt, und ihrem Plan, Sid solle im August mit ihr in Urlaub ans Meer fahren. In der Gegenwart Tonbridges den Anstand zu wahren hatte einen gewissen Charme und reizte sie beide zum Lachen, denn in mancher Hinsicht war es lächerlich – im Grunde wollten sie sich überhaupt nicht über Evie unterhalten. Sie sahen sich an, oder vielmehr, Sid sah zu Rachel hinüber und konnte den Blick dann nicht von ihr wenden, sodass Rachel, ganz im Bann der kleinen, beredten, weit auseinanderstehenden braunen Augen, errötete, woraufhin Sid lachend irgendein idiotisches Klischee von sich gab. In einem Ton, als würde sie einen Spruch aus einem Knallbonbon wiedergeben, sagte sie etwa: »Auf Regen folgt Sonnenschein«, und fügte ein »so heißt es zumindest« hinzu, was die Spannung löste – bis zum nächsten Mal. Tonbridge, der ein klein bisschen schneller fuhr – er freute sich auf sein Mittagessen –, konnte sich keinen Reim darauf machen, wovon die beiden sprachen.

Kaum waren sie vor der Pforte zum Stehen gekommen, die zur Haustür führte, stürmte Eileen heraus. Sie hatte nach ihnen Ausschau gehalten und sagte jetzt, Madam habe gesagt, Miss Rachel solle sofort in Mrs. Hughs Zimmer gehen, das Baby würde kommen und der Arzt sei noch nicht da. Rachel sprang aus dem Wagen und lief ins Haus, ohne einen Blick zurückzuwerfen. O mein Gott, dachte Sid. Die Arme! Sie meinte Rachel.

Sybil saß im Bett, gestützt von Kissen. Sie wollte sich nicht richtig hinlegen, wie es sich nach Ansicht der Duchy gehörte, doch war diese zu ängstlich und zu besorgt, um darauf zu bestehen. Rachel würde alles richten, und hier war sie ja endlich. »Der Arzt kommt«, sagte die Duchy rasch und warf Rachel einen warnenden Blick zu, der jede Frage nach dem »Wann« unterbinden sollte. »Wenn du bei ihr bleibst, kümmere ich mich um Handtücher. Die Mädchen machen Wasser heiß«, und damit verschwand sie, froh, etwas tun zu können, das sie nicht überforderte. Allmählich waren Sybils Schmerzen unerträglich geworden. Rachel zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich zu ihrer Schwägerin.

»Meine Liebe, wie kann ich dir helfen?« Keuchend warf Sybil sich nach vorn und presste die geballten Fäuste in die Matratze. »Gar nicht. Ich weiß es nicht.« Etwas später sagte sie: »Hilf mir, mich auszuziehen. Schnell – bevor die nächste kommt.« Zwischen den Wehen half Rachel ihr, das Kittelkleid, den Unterrock und den Slip abzustreifen und schließlich in ein Nachthemd zu schlüpfen. Das dauerte sehr lange, denn bei jeder Wehe mussten sie innehalten, und Sybil umklammerte Rachels Hand, bis diese glaubte, ihre Knochen würden brechen.

»Und was, wenn es geboren wird, bevor er kommt?«, fragte Sybil, und Rachel merkte, dass die Vorstellung ihr eine Heidenangst machte.

»Wir schaffen das schon, es ist alles in Ordnung«, sagte sie beruhigend, aber sie hatte nicht die mindeste Ahnung, was sie dann tun sollte. »Mach dir keine Sorgen«, wiederholte sie und strich Sybil das Haar aus der Stirn. »Vergiss nicht, ich war im Krieg Hilfsschwester.«

Das schien Sybil tatsächlich etwas zu beruhigen, sie warf Rachel ein mattes, vertrauensvolles Lächeln zu. »Stimmt, das hatte ich ganz vergessen.« Sie lehnte sich einen Moment zurück und schloss die Augen. »Könntest du mir das Haar zurückbinden? Damit es aus dem Weg ist?« Doch bis Rachel auf der Kommode das Chiffonband fand, auf das Sybil gedeutet hatte, krümmte sie sich wieder vor Schmerzen und tastete nach Rachels Hand.

»O mein Gott, mach, dass der Arzt kommt«, betete Rachel, als Sybil einmal leise stöhnte.

»Entschuldige. Ein bisschen wie bei Mary Webb, oder? Festklammern an Bettpfosten und derlei?« Rachel lächelte über den bemühten kleinen Scherz. »Es tut wirklich ziemlich weh«, fügte Sybil hinzu.

»Das weiß ich, Liebes. Du bist wirklich sehr tapfer.«

Dann hörten sie beide einen Wagen – das musste doch der Arzt sein! Rachel trat ans Fenster. »Er ist da!«, rief sie. »Ist das nicht gut?« Aber da biss sich Sybil bereits auf die Faust, die sie in den Mund gesteckt hatte, um nicht zu schreien, und nahm offenbar nichts wahr.

Dr. Carr war ein älterer Mann, ein Schotte mit rot meliertem Haar und Schnurrbart. Noch während er den Raum betrat, zog er sein Jackett aus, stellte seine Tasche ab und krempelte die Ärmel hoch.

»So, so, Mrs. Cazalet, wie ich höre, sind Sie heute Morgen im Bad ein bisschen gestolpert, und da hat Ihr Baby beschlossen, sich auf den Weg zu machen.« Er sah sich um, entdeckte den Krug und die Schüssel und wusch sich gründlich die Hände. »Nein, ich komme gut mit kaltem Wasser zurecht, aber wir werden heißes Wasser brauchen. Vielleicht könnten Sie sich darum kümmern, Miss Cazalet, solange ich die Patientin untersuche?«

»Aber in fünf Minuten brauche ich Sie wieder hier!«, rief er ihr nach, als sie den Raum verließ.

Auf dem Treppenabsatz stieß sie auf die Hausmädchen, die abgedeckte Eimer mit heißem Wasser trugen, und auf der Wäschetruhe lag ein Stapel Handtücher. Unten traf sie die Duchy in Gesellschaft Sids an. Ihre Mutter war höchst erregt. »Rachel! Ich glaube, ich muss Hugh anrufen.«

»Natürlich musst du das.«

»Aber Sybil hat mich eindringlich gebeten, es nicht zu tun. Sie möchte nicht, dass er sich Sorgen macht. Es kommt mir nicht richtig vor, derart gegen ihren Wunsch zu handeln.«

Rachel sah zu Sid, die die Duchy mit fürsorglichem Wohlwollen betrachtete, wofür Rachel sie liebte. »Ich glaube nicht, dass es darum geht«, wandte Sid ein. »Ich glaube, Hugh wäre sehr unglücklich, nicht zu erfahren, was passiert.«

»Natürlich haben Sie recht«, stimmte die Duchy ihr dankbar zu. »Sie sind eine Stimme der Vernunft, Sid! Wie froh ich bin, dass Sie hier sind. Ich rufe sofort an.«

Als sie gegangen war, reichte Sid Rachel ihr zerschrammtes Zigarettenetui. »Hier, nimm einen Zug«, sagte sie. »Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen.«

Und Rachel, die normalerweise ägyptische Zigaretten rauchte, weil Gold Flakes ihr zu stark waren, nahm eine, und als Sid ihr Feuer reichte, merkte sie, dass ihre Hand zitterte. »Es ist entsetzlich«, sagte sie. »Die grausamsten Schmerzen. Das habe ich nicht gewusst. Lässt der Arzt eine Schwester kommen?«

»Auf jeden Fall nicht sofort. Seine übliche Hebamme ist bei einer Patientin, und die Bezirksschwester sagte, sie könne erst im Lauf des Nachmittags kommen.«

»Er hat mir gesagt, was ich tun soll«, meinte Rachel. »Entschuldige, dass unser Tag jetzt ins Wasser fällt.«

»Das ist nun nicht zu ändern.«

»Wurdest du eingeladen, über Nacht zu bleiben?«

»Ja. Der Plan ist, dass Mrs. Cripps zum Nachmittagstee ein Picknick macht, und ich lenke die Strandheimkehrer ab und sorge vor allem dafür, dass die Kinder aus dem Weg sind. Ist es nicht seltsam?«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Bei den wichtigsten Ereignissen im Leben eines Menschen müssen alle anderen verschwinden und dürfen nichts davon mitbekommen.«

»Ja, aber sie könnten sie hören. Nicht, dass Sybil einen Ton von sich geben würde, wenn sie es vermeiden kann.«

»Natürlich.«

Rachel entging Sids leicht ironischer Unterton nicht, und der ebenso flüchtige wie vertraute Gedanke streifte sie, wie fremdländisch Sid war – oder so bezeichnete sie es zumindest sich selbst gegenüber. Sids Vater hatte ihre Mutter, eine portugiesische Jüdin, auf einer Tournee mit dem Orchester, in dem er spielte, kennengelernt. Er hatte sie geheiratet und zwei Töchter mit ihr bekommen, Margot und Evie, und sich dann nach Australien abgesetzt. Von da an wurde er immer nur – mit einiger Bitterkeit – der gewisse Mr. Sidney genannt. Sid hatte kein leichtes Leben gehabt. Geld war immer knapp gewesen, und schließlich war ihre Mutter an Tuberkulose und Heimweh gestorben (ihre Familie hatte sich bei ihrer Hochzeit von ihr losgesagt). Sie wisse nicht genau, sagte Sid immer, was schlimmer gewesen sei. Doch all das zusammen mit ihrer Herkunft aus einer Musikerfamilie verlieh ihr etwas Fremdartiges, weshalb sie auch sehr viel eher als Rachels Familie bereit schien, Dinge offen anzusprechen. »Heißen Brei kenne ich seit meiner Geburt, warum sollte ich jetzt um ihn herumreden?«, hatte sie einmal gesagt. Gleich nach dem Tod ihrer Mutter hatte Margot den Namen abgelegt, den sie immer verabscheut hatte, und sich Sid genannt. Wie viele Paare mit sehr unterschiedlichem kulturellen Hintergrund legten Sid und Rachel im Umgang miteinander eine gewisse Ambivalenz an den Tag: Sid erkannte, dass Rachel ihr Leben lang vor allen finanziellen und emotionalen Widrigkeiten beschützt worden war, und wollte der Mensch sein, der sie am meisten beschützte; gleichzeitig konnte sie sich nicht den einen oder anderen Seitenhieb auf dieses für die englische Mittelschicht so ungemein typische Leben verkneifen. Rachel, die wusste, dass Sid nicht nur für sich selbst, sondern im Grunde auch immer für ihre Mutter und ihre Schwester hatte sorgen müssen, respektierte ihre Selbstständigkeit und Autorität, allerdings sollte Sid auch verstehen, dass Understatement, Taktgefühl und Zurückhaltung maßgeblich waren im Leben der Familie Cazalet und lediglich dazu dienten, Zuneigung und gute Manieren zu bewahren. »Ich kann das durchaus nachvollziehen«, hatte Sid einmal in einer ihrer ersten Auseinandersetzungen gesagt, »aber deswegen muss ich nicht gleich derselben Meinung sein. Kannst du das nicht verstehen?« Aber das konnte Rachel absolut nicht. Für sie bedeutete Verständnis stillschweigende Billigung.

Beiden kamen nun einige dieser Gedanken wieder in den Sinn, doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Rachel drückte die Zigarette aus. »Ich muss zurück«, sagte sie. »Könntest du die Duchy bitten, einem der Mädchen aufzutragen, mir eine Schürze zu bringen?«

»Natürlich. Viel Glück. Sag, wenn ich irgendetwas tun kann.«

»Das mache ich.«

Ich muss nur genau das tun, was er mir sagt, dachte sie, während sie die Treppe hinaufging, und es ist absolut lächerlich, mich an dem Blut zu stören. Ich muss einfach an etwas anderes denken.

***

Eigentlich war Cooden kein geeigneter Strand für Kinder, dachte Villy, als sie auf dem Gesäß im groben Kies herumrutschte im Versuch, sich bequemer gegen den Wellenbrecher zu lehnen. Selbst an diesem ruhigen, glutheißen Tag war das Meer überraschend kalt – in der Ferne stahlblau, näher am Strand eine aquamarinblaue Dünung, die endlos heranwogte und sich mit einem cremeweißen Saum an der steil abfallenden Küste brach, um grün zu zerfließen und von der nächsten Welle mit sich gezogen zu werden. Für die Jungen war es kein Problem, sie hatten in der Schule schwimmen gelernt, aber die Mädchen fürchteten sich vor tieferem Wasser. Sie staksten über den Kies, wateten einige Schritte und machten dann zwei oder drei Züge, immer und immer wieder, bis Villy sie aus dem Wasser beorderte, dann standen sie zähneklappernd, kalt und glitschig wie Fische da, ließen sich den Rücken abreiben und bekamen Stückchen von Terry’s Bitterschokolade oder heiße Fleischbrühe. Für Lydia und Neville gab es keine Felsentümpel und so gut wie keinen Sand. Lydia wurde von der Unterströmung von den Füßen gerissen, und trotz Villys tröstender Worte weinte sie ewig. Neville, der das alles mit Argusaugen verfolgte, verkündete anschließend, er werde das Meer an diesem Tag überhaupt nicht benutzen, »außer um Wasser für meinen Eimer zu holen«. »Dann bekommst du keine Schokolade«, sagte Clary daraufhin und wurde sofort zur Ordnung gerufen von Ellen, die gerade mit Sicherheitsnadeln ein Taschentuch an Nevilles Panamahut feststeckte, damit das weiße Quadrat seine bereits geröteten knochigen Schultern bedeckte. Ellen und Nanny saßen mit Hut, grauer Strickjacke und vernünftigen gegürteten Baumwollkleidern am Strand, die Beine in den dicken, hellen Baumwollstrümpfen mit den schwarzen Riemenschuhen vor sich ausgestreckt, das Strickzeug im Schoß. Ein Tag am Strand musste höllisch für sie sein, dachte Villy. Keine von ihnen würde im Traum daran denken, schwimmen zu gehen: Ihre Autorität bei den Kindern war ohnehin geschwächt, untergraben durch die Anwesenheit ihrer Eltern, gleichzeitig trugen sie die Verantwortung – dass Lydia und Neville sich nicht verkühlten oder einen Sonnenstich bekamen oder mit fremden Kindern verschwanden, bei denen sie sich mit etwas anstecken konnten.

Nanny wollte Lydia gerade anziehen, als Edward sie davon abhielt, um mit seiner Tochter auf den Schultern hinauszuschwimmen, so, wie Rupert es mit Neville tat (keinem der beiden Männer gefiel es, dass ihre Kinder Angst vor dem Wasser hatten). »Sagt den Jungs, dass sie dann mit euch rauskommen sollen«, rief Villy. Für die wäre es Ehrensache, nicht eher aus dem Wasser zu kommen, bis es ihnen befohlen wurde. Villy sah zu Zoë hinüber, die, an den Wellenbrecher gelehnt, auf einer Autodecke saß und sich die Beine eincremte – die einzigen Körperteile von ihr, die in der Sonne waren. Wie gewöhnlich, das vor aller Augen zu tun, dachte Villy, bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen. Was das arme Mädchen auch tut, mir fällt immer etwas Gehässiges dazu ein. Rupert hatte sie zum Baden zu überreden versucht, doch das lehnte sie kategorisch ab mit der Begründung, sie wisse jetzt schon, dass es zu kalt sein würde. Dass sie nicht schwimmen konnte, hatte sie keinem der Cazalets je erzählt.

Villy beobachtete, wie Edward und Rupert vorsichtig ins Meer hinauswateten. Lydia und Neville klammerten sich wie ängstliche kleine Krabben an ihren Rücken. Als die Väter die ersten Schwimmzüge machten, kreischten Lydia vor Aufregung und Neville vor Angst, und ihr Geschrei vermischte sich mit dem Meeresgeheul anderer Kinder, die sich vor den Wellen fürchteten, die nicht ins Wasser gehen wollten, über die Kälte erschraken oder Angst davor hatten, von den Schwimmenden nass gespritzt zu werden. Die beiden Männer schwammen unbeirrt weiter, bis Rupert Gefahr lief, von Neville erwürgt zu werden, und zum Strand zurückkehren musste. Nevilles Hut wurde fortgeweht, und Simon und Teddy schwammen ihm flink wie Otter nach, um ihn zu retten.

Die Mädchen hatten mittlerweile ihre Shorts und Aertex-Blusen angezogen und erkundigten sich, wann es was zu essen gebe. Polly und Clary sammelten glatte, flache Steine und legten sie in Clarys Keksdose, und Louise lag, unbeeindruckt vom steinigen Strand, flach auf dem Bauch, las und fuhr sich immer wieder mit einem Badetuch über die Augen.

»Wie bald?«, fragte eine von ihnen.

»Sobald die anderen aus dem Wasser gekommen sind und sich umgezogen haben.« Rupert winkte Edward zu, der Lydia jetzt auf dem Arm trug und den Jungen zurief, sie sollten an den Strand kommen.

Lydia kehrte triumphierend und völlig ausgekühlt an Land zurück. Edward setzte sie neben Villy ab, und sie lehnte sich mit tropfenden Zöpfen und klappernden Zähnen an ihre Mutter.

»Du zitterst ja, mein Schatz.« Villy wickelte sie in ein Badetuch.

»Tue ich gar nicht. Eigentlich ist mir ganz heiß. Ich will nur, dass meine Zähne klappern. So zieht Nan sich morgens immer an. Schau mal!« Sie legte das Tuch um sich, drehte ihrer Mutter den Rücken zu und machte die buckelnden Bewegungen einer Frau, die sich ein Korsett anzieht – eine perfekte Imitation unbeholfener Schicklichkeit. Edward begegnete Villys Blick, und es gelang ihnen beiden, ein Lachen zu unterdrücken.

Teddy und Simon verließen das Wasser, sobald Edward »Essen!« rief. Sie kamen herausgeschossen, liefen ungerührt über die Kiesel, das Haar klebte ihnen am Kopf, die Träger ihrer Badeanzüge waren ihnen über die Schultern gerutscht. Grandios sei es in den Wellen, sagten sie, am liebsten wären sie gar nicht rausgekommen, es sei sinnlos, sich umzuziehen, sie würden gleich nach dem Essen sowieso wieder ins Wasser gehen. O nein, das würden sie nicht, sagte Edward, zuerst müssten sie ihr Mittagessen verdauen. Wenn man direkt nach dem Essen schwimmen gehe, bekomme man Krämpfe und ertrinke.

»Kennst du jemanden, der wirklich dabei ertrunken ist, Dad?«, fragte Teddy.

»Dutzende. Jetzt zieh dich um, und zwar zackig.«

»Was heißt zackig?«, fragte Lydia besorgt.

»Das heißt so viel wie schnell«, antwortete Louise. »Mummy, dürfen wir das Picknick schon auspacken? Nur um zu sehen, was es gibt?«

Zoë half beim Auspacken, die Kindermädchen hörten auf, Haare zu kämmen und sich über den Teer auf Lydias Badeanzug zu entrüsten, und breiteten für die Kinder eine Decke aus. Zoë freute sich, weil Rupert sich neben sie kniete, ihr durchs Haar fuhr und fragte, wie es seinem kleinen Bücherwurm gehe; da kam sie sich auf eine andere Art und Weise interessant vor. Die Kinder fielen über das Picknick her, nur Lydia weigerte sich, ihr hart gekochtes Ei zu essen, das sie als tot bezeichnete. »Ich esse keine toten Eier«, verkündete sie, also aß Teddy es an ihrer statt. Neville verschüttete seinen Orangensaft auf der Decke, Clary wurde von einer Biene gestochen und weinte, bis Rupert den Stachel heraussaugte und erklärte, dass es der Biene sehr viel schlechter gehe als ihr, die sei mittlerweile nämlich mausetot. Nach dem Essen mussten Lydia und Neville auf Geheiß der Kindermädchen im Schatten eines Wellenbrechers Mittagsschlaf halten, die Erwachsenen rauchten, und die älteren Kinder spielten mit den mitgebrachten Karten Paare aufdecken, was sich auf dem steinigen Boden nicht ganz einfach gestaltete. Clary war bei Weitem die Beste, sie vergaß keine einzige Karte, obwohl manche, wie Simon sagte, nicht richtig auf den Kieseln auflagen und noch zu erkennen seien, wenn man mogeln wolle, was er Clary offenbar zutraute. Dann wollten die Jungen wieder ins Wasser und behaupteten, ein zweites Mal sei ihnen versprochen worden. Es herrschte Ebbe, und die anderen beschlossen zu planschen – was bei ihrer Ankunft nicht möglich gewesen war. Guter Gott!, dachte Zoë. Es nimmt kein Ende. Sie hatte in Vom Winde verweht die Stelle erreicht, wo bei Melanie die Wehen einsetzen und Scarlett den Arzt nicht überreden kann zu kommen, und sie beschloss, dass sie das jetzt nicht lesen wollte. Rupert spazierte Hand in Hand mit Clary den Strand entlang, Clary sah zu ihm auf und schwang seinen Arm hin und her. Wenn ich mit seinen Kindern besser zurechtkäme, würde er vielleicht keine mehr wollen, dachte sie. Das erschien ihr eine gute Idee, allerdings schwierig umzusetzen. Sie stellte sich vor, wie sie Neville während einer Lungenentzündung oder einer anderen tödlichen Krankheit gesund pflegte, Nacht um Nacht an seinem Bett saß, ihm die Stirn streichelte und sich weigerte, auch nur eine Sekunde von seiner Seite zu weichen, bis er außer Lebensgefahr war. »Mein Liebling, sein Leben hat er nur dir zu verdanken«, würde Rupert sagen, »ich schulde dir mehr, als ich je wettmachen kann.« Sie hatte das Gefühl, Scarlett sehr ähnlich zu sein: schön, tapfer und bei allem recht unkompliziert. Sie würde Rupert das Buch zu lesen geben, dann würde er das auch erkennen.

Um vier Uhr wollten alle im Grunde nach Hause fahren – obwohl die Kinder das nicht zugaben. »Müssen wir wirklich schon? Wir sind doch gerade erst angekommen.« Bananen- und Eierschalen, Brotrinden und die Bakelitbecher wurden eingepackt, persönliche Habseligkeiten kamen abhanden, wurden wiedergefunden und dem rechtmäßigen Besitzer übergeben, Schlüssel wurden verlegt und tauchten wieder auf. Sie gingen den Strand entlang und den Pfad hinauf zu den Autos, die in der prallen Sonne standen und in denen jetzt brüllende Hitze herrschte. Villy, Rupert und Edward kurbelten zwar die Scheiben hinunter, aber die Sitze waren noch heiß, und Neville behauptete, darauf nicht sitzen zu können, und musste auf Ellens Schoß gesetzt werden. Edward fuhr ihren Buick, Villy den alten Vauxhall des Brig, dessen Gangschaltung einfach schauderhaft war, weil so viele Fremde ihn bereits gefahren hatten, außerdem war er wirklich schon etwas in die Jahre gekommen. Rupert nahm Zoë und Ellen in seinem Morris mit, dazu Neville sowie Lydia, die unbedingt mit Neville zusammenbleiben wollte, weil sie gerade »Ich sehe was, was du nicht siehst« spielten. Clary war froh, mit Villy und den Mädchen mitzufahren, Nan saß vorne neben Edward, was ihr sehr gut gefiel, und auf dem Rücksitz die Jungen. Man fuhr im Konvoi mit Villy vorneweg für den Fall, dass ihr Auto liegen blieb. Die Mädchen stritten um das Vorrecht, vorne zu sitzen. Louise sagte, sie sei die Älteste, und Clary sagte, ihr würde hinten übel. Villys Schiedsspruch fiel zugunsten von Clary aus. Von der Sonne hatte sie Kopfschmerzen und freute sich auf ein lauwarmes Bad und darauf, mit Sybil im Garten zu sitzen und zu nähen. Aber das Meer und die Seeluft hat ihnen gutgetan, sagte sie sich.

***

Rachel kehrte ins Schlafzimmer zurück, das Dr. Carr in der Zwischenzeit auf wundersame Weise von einem Schauplatz improvisierter Nothilfe in einen Raum verwandelt hatte, in dem zwar etwas Ernsthaftes vor sich gehen konnte, das aber ein berechenbares Ende finden würde. Sybil ruhte jetzt auf der Seite, die Knie angezogen, und er legte ihr eine kalte Kompresse auf den Knöchel.

»Mrs. Cazalet macht sich sehr gut«, verkündete er. »Mehr als die Hälfte erweitert, und das Baby ist in der richtigen Lage. Wir werden einige Handtücher zum Unterlegen brauchen, und Sie könnten die Küchenwaage bringen lassen. Und wenn die Wehen kommen, wäre es gut, wenn Sie ihr den Rücken reiben – hier – ganz unten, rechts und links der Wirbelsäule, und ihr sagen, dass sie atmen soll. Je stärker die Wehen, Mrs. Cazalet, desto tiefer müssen Sie atmen. Miss Cazalet, gibt es hier einen Tisch, auf den ich meine Gerätschaften ausbreiten könnte? Und gibt es eine Glocke? Ah! Gut, dann können wir uns bemerkbar machen, wenn wir etwas brauchen. Atmen Sie, Mrs. Cazalet, versuchen Sie, sich zu entspannen, und atmen Sie.«

»Ja«, sagte Sybil. Rachel stellte fest, dass sie bei Weitem nicht mehr so verängstigt aussah und den Arzt mit einem Blick vertrauensvollen Gehorsams betrachtete, der fast an Verehrung grenzte.

Die Handtücher wurden ausgebreitet und ein Tisch mit einem sauberen Tuch abgedeckt, worauf eine Zange, eine Schere und ein Glasgefäß mit Gazetupfern Platz fanden. Peggy brachte die Waage, eigenhändig von Mrs. Cripps geputzt, wie sie ehrfürchtig berichtete, und erhielt den Auftrag, das heiße Wasser in den Eimern alle zwanzig Minuten zu ersetzen, damit es bei Bedarf auch wirklich heiß war. All das vermittelte ein Gefühl von Ordnung und Klarheit, doch als alle Vorbereitungen getroffen waren, rückte das Ziel all dessen wieder in die Ferne. Rachel wusste, dass sie nichts wusste, und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde. Nach einer ersten Geburt ging es doch angeblich schneller, oder nicht? Aber schneller als was? Nach einer unbestimmten, aber sehr langen Zeit untersuchte Dr. Carr Sybil erneut – »Nicht nötig, den Raum zu verlassen, Miss Cazalet« –, und als er fertig war, richtete er sich mit einem kleinen Brummen auf und verkündete, es werde noch eine Weile dauern und er müsse seine Frau Gemahlin anrufen, um sie zu bitten, seinem Partner auszurichten, er möge sich für die Abendsprechstunde bereithalten. Rachel erklärte ihm, wo das Telefon stand, und setzte sich dann wieder neben Sybil, die ruhig auf dem Rücken lag. Ihre Augen waren geschlossen, was ihr zusammen mit dem schweißdunklen Haar, das ihr straff aus der Stirn gebunden war, ein fast maskenhaftes Aussehen verlieh. Sie öffnete die Augen und sagte lächelnd: »Bei Polly hat es ewig gedauert, aber bei Simon ist es ziemlich schnell gegangen. Er kommt doch bald, oder?«

»Das Baby?«

»Der Arzt. Ah, hier kommt es.« Aber es war nicht das Baby, sondern nur eine weitere Wehe. Sie wälzte sich auf die Seite, damit Rachel ihr den Rücken reiben konnte.

Die Duchy hatte alles getan, was ihr zu tun einfiel. Sie hatte Hugh so ruhig wie möglich angerufen und gesagt, er solle nach Hause fahren, um die Babykleidung zu holen und sie dann herzubringen. Ja, ein Arzt sei im Haus. Dr. Carr sei bekannt als sehr erfahrener Geburtshelfer. Und Rachel stehe ebenfalls bereit, alles sei in bester Ordnung. Sie war erneut in die Küche gegangen, wo sie feststellte, dass Mrs. Cripps das gesamte Personal eingespannt hatte. Die Mädchen machten Sandwiches und bereiteten ein kleines Tablett mit Bratenaufschnitt und Salat für den Lunch. Dottie schleppte große Emailkrüge hin und her, um den riesigen Topf und den Kessel auf dem Herd mit Wasser zu füllen, und Mrs. Cripps, deren grünliches Gesicht vor Tatkraft und Schweiß glänzte, polierte inbrünstig die Waagschale der Küchenwaage. Billy hatte den Auftrag bekommen, die Kohleneimer wieder aufzufüllen, um den Herd nachzuschüren. Es herrschte eine Atmosphäre entschlossener Betriebsamkeit. Zuvor hatte Mrs. Cripps die Meinung geäußert, bei Damen sei die Niederkunft heikel und sie mache sich bei Mrs. Hugh auf alles gefasst, woraufhin Dottie dramatisch in Tränen ausbrach und von einem Dienstmädchen eine Ohrfeige bekommen musste, damit sie, wie Mrs. Cripps sagte, einen Grund zum Heulen habe. Sobald die Duchy die Küche betrat, hielten alle in ihrer jeweiligen Tätigkeit inne und blickten zu ihr als der Überbringerin von Nachrichten jedweder Art.

»Bei Mrs. Hugh sieht es sehr gut aus, und der Arzt ist gekommen. Mr. Hugh wird heute Abend eintreffen. Miss Sidney und ich werden im Frühstückszimmer zu Mittag speisen, aber wir werden nicht allzu viel wollen. Wie ich sehe, sind Sie alle sehr beschäftigt, also will ich Sie nicht weiter aufhalten. Ich vermute, dass die Strandausflügler nicht vor vier Uhr zurückkommen werden, Mrs. Cripps, aber die Körbe sollten dann für sie bereitstehen.«

»Jawohl, Ma’am. Und möchten Sie, dass der Lunch jetzt aufgetragen wird, Ma’am?«

Die Duchy blickte auf ihre Armbanduhr, in der das feine Spitzentuch steckte.

»Um halb zwei, bitte, Mrs. Cripps.«

Als sie die Küche verließ, blieb sie in der Halle stehen und überlegte sich, ob sie kurz nach Rachel sehen sollte, wie es ihr ergehe und ob sie etwas brauche. Dann fiel ihr ein, dass sie Sid allein, ohne jegliche Unterhaltung, zurückgelassen hatte, also brachte sie ihr die Times und ein Glas Sherry und sagte, Lunch werde bald serviert, und sie werde gleich wieder da sein. Mittlerweile quälte sie die Sorge, was das Baby denn gleich nach der Geburt tragen solle. Hugh würde kaum rechtzeitig mit der Kleidung eintreffen, und das arme Würmchen musste doch etwas Warmes anzuziehen haben. In ihrem Schlafzimmer mit dem bauschigen weißen Musselin und den zartblau getünchten Wänden suchte sie nach dem weißen Kaschmirschal, den Will ihr von einer seiner Indienreisen mitgebracht hatte. Mit den Jahren und durch das Waschen war er zwar cremefarben geworden, aber immer noch weich und federleicht. Der würde seinen Zweck erfüllen. Sie hängte ihn über das Geländer vor Sybils Zimmer. Dann ging sie zum Lunch nach unten.

***

Obwohl seine Mutter mehrmals versichert hatte, alles sei in bester Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen, machte Hugh sich natürlich doch Sorgen. Nur wegen der Aussicht auf Zwillinge, dachte er sich, als er in die Bedford Gardens zurückfuhr. Bei Zwillingen konnte es Komplikationen geben, und es gefiel ihm nicht, dass Sybil nicht ihr eigener Arzt und die vertraute Hebamme zur Seite standen. Wäre es nur gestern passiert, dachte er, oder besser noch, in drei Wochen, wie es berechnet war. Die Arme! Bestimmt hatte sie sich überanstrengt. Wir hätten nicht ins Konzert gehen dürfen, aber es schien ihr so wichtig zu sein. Als er in das Zimmer des alten Herrn ging, um ihm davon zu berichten, lächelte sein Vater und sagte: »Zum Teufel auch!«, aber er wirkte sehr gelassen, und als Hugh ihm sagte, er werde kurz zu Hause vorbeischauen und dann sofort nach Sussex fahren, meinte er brummend: »Frauensache. Da hält man sich besser raus, bis alles vorbei ist, mein Junge.«

Dann warf er einen prüfenden Blick zu seinem ältesten Sohn – der seit dem verdammten Krieg immer wieder grundlos nervös wurde – und sagte, natürlich müsse Hugh fahren, wenn er es für richtig halte. Er werde abends kommen, mit dem üblichen Zug, fügte er noch hinzu.

In den Bedford Gardens war es wunderbar ruhig: Die meisten Anwohner waren mit ihren Kindern auf dem Land. Er parkte, ging den Pfad hinauf und schloss die Haustür auf. Als er sie wieder zufallen ließ, hörte er jemanden durch das Zimmer über sich laufen – sein und Sybils Schlafzimmer. Er legte seinen Hut auf den Flurtisch und wollte gerade nach oben gehen, als Inge auf dem oberen Treppenabsatz erschien. Sie war stark geschminkt und trug das, was er sofort als das rosa Seidenkleid erkannte, das Sybil vor einem Jahr für eine Hochzeit gekauft hatte. Inge starrte ihn an, als wäre er ein Eindringling, bis er sich zu sagen gezwungen fühlte: »Ich bin’s, Inge.«

»Ich dachte, Sie kommen erst abends zurück.«

»Nun ja, bei Mrs. Cazalet haben die Wehen eingesetzt, und ich bin hier, um die Babysachen zu holen.«

»Die sind im Kinderzimmer«, sagte sie und verschwand. Er ging hinauf, die Schlafzimmertür war geschlossen. Vermutlich macht sie fieberhaft Ordnung, dachte er. Er hatte sofort beschlossen, so zu tun, als kenne er das Kleid nicht – jetzt im Moment konnte er ihr nicht kündigen, denn dann müsste er bleiben, bis sie fort war, und das würde ihn über Gebühr aufhalten. Kochend vor Wut betrat er das Kinderzimmer und sah die Babykleidung in einem Korb liegen. Er fand einen Koffer, kippte alles hinein und klappte ihn zu. Die Schlafzimmertür war noch immer geschlossen. Er ging in den Salon, und dort fiel ihm ein, dass er ja die Kamera mitnehmen wollte, um Bilder von Sybil und dem Baby zu machen. Sein Schreibtisch, der an einem Ende des Raums stand, war völlig verwüstet, als wäre er durchsucht worden: Die Schubladen standen offen, überall lagen Papiere verstreut. Himmelherrgott! Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, er musste sie auf der Stelle entlassen.

Es war schlimm genug, dass sie Sybils Kleider anzog und ihr Make-up benutzte, obwohl er nicht davon ausgegangen war, dass Sybil tatsächlich viele Schminksachen besaß – aber seinen Schreibtisch zu durchwühlen! War sie auf Geld aus? Sie verhielt sich wie ein gemeiner Dieb oder Einbrecher oder, und dieser Gedanke bereitete ihm Unbehagen, ein Spion, obwohl es weiß Gott nichts Lohnenswertes auszuspionieren gab. Das war einfach zu lächerlich. Aber nein – sie war doch Deutsche, oder nicht? Er hatte sie nie gemocht und konnte sie jetzt keinesfalls mehr allein im Haus lassen. Sie könnte alles Mögliche anstellen, könnte sich mit allen Wertgegenständen, die sie tragen konnte, davonmachen, sie könnte das Haus anzünden – was immer ihr in den Sinn kam. Er legte die Kamera neben den Koffer und ging wieder nach oben.

Es kostete ihn genau eine Stunde. Alle Kleider Sybils, all ihre Schuhe und ihr Schmuck waren im Raum verstreut. Er sagte ihr, sie solle ihre eigenen Sachen anziehen, packen und das Haus verlassen. Sie müsse in einer halben Stunde fort sein, und als Allererstes solle sie ihm die Schlüssel geben. Sie schob die Unterlippe vor und fluchte leise auf Deutsch, widersprach aber nicht. Er wartete vor dem Zimmer, bis sie ihr eigenes Baumwollkleid angezogen hatte, und blieb im Schlafzimmer stehen, während sie oben packte. Es stank nach Sybils Parfüm, Tweed, das er ihr immer zum Geburtstag schenkte. Er versuchte, etwas Ordnung zu schaffen, hängte ein paar Stücke in den Schrank zurück, aber es herrschte ein derart heilloses Durcheinander, dass er aufgab. Sein Herz hämmerte vor Zorn, Kopfschmerzen stellten sich ein – genau das, was er für die lange Fahrt brauchte. »Beeilen Sie sich!«, rief er die Treppe hinauf. Sie schien Ewigkeiten zu brauchen, aber schließlich trat sie mit zwei unverkennbar schweren Koffern auf den Flur. »Die Schlüssel«, sagte er. Sie sah ihn mit einem Ausdruck abgrundtiefen Hasses an und drückte sie ihm schmerzhaft in die Hand.

Und dann, sehr langsam und mit grausamer Zielgenauigkeit, spuckte sie ihn an. »Schweinehund!«, sagte sie auf Deutsch.

Er blickte ihr starr in die hellen, vortretenden Augen, in denen eine bösartige Kälte lag, und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht; der Hass, den er auf sie empfand, entsetzte ihn. »Verschwinden Sie«, sagte er. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei hole.« Er folgte ihr nach unten und sah zu, wie sie die Tür öffnete und wütend ins Schloss fallen ließ.

Sobald sie fort war, ging er ins Bad und wusch sich Gesicht und Hände, hielt sie immer wieder in das fließende kalte Wasser. Danach nahm er zwei seiner Tabletten und prüfte, ob auch alle Türen abgesperrt waren. Das waren sie natürlich nicht – die hintere Küchentür stand einen Spalt offen. Anschließend ging er das Souterrain und das Erdgeschoss ab und überprüfte jedes Fenster. Dann fiel ihm Pompey ein, doch als er den armen Kater fand, lag er tot auf Pollys Bett – erdrosselt mit der Kordel ihres Wintermorgenrocks. Pollys kostbare Katze, das Wesen, das sie am allermeisten auf der Welt liebte. Das war zu viel. Er setzte sich auf das Bett seiner Tochter und schlug die Hände vors Gesicht. Ein paar Sekunden schluchzte er leise, bis eine Botschaft aus frühen Kindertagen ihm sagte, das gehe nicht an, und so riss er sich zusammen und putzte sich die Nase. Pompey lag ausgestreckt da, die Kordel fest um seinen Hals geschnürt. Seine halb geöffneten Augen glänzten noch, sein Fell war warm. Als Hugh die Kordel löste, bemerkte er den fachmännisch ausgeführten Knoten. Es konnte nicht leicht sein, eine Katze zu erdrosseln, ohne dass sie einen Laut von sich gab, überlegte er sich, es sei denn, man hatte Übung. Bei dem Gedanken schauderte ihn vor Abscheu. Aber er musste voranmachen. Er wickelte Pompey in ein Badetuch und trug ihn nach unten, um ihn im Garten zu begraben. Doch nach einem Blick auf die harte, ausgetrocknete, von Iriswurzeln durchsetzte Erde änderte er seine Meinung. Er würde Pompey nach Sussex mitnehmen, den richtigen Moment abpassen, um Polly davon zu erzählen, und ihr helfen, ihn zu beerdigen – die Duchy würde einen guten Platz für ein Grab finden. Er musste Polly auf jeden Fall sagen, dass Pompey tot war, die Umstände würde er jedoch verschweigen. Sie durfte nie erfahren, wie entsetzlich bösartig die Menschen sein konnten – nichts sollte ihre Trauer stören. Ich schenke ihr eine andere Katze, nahm er sich vor, als er den Wagen belud und Pompey in den Kofferraum legte. Ich schenke ihr zwanzig Katzen – alle Katzen der Welt.

***

»Ich fand Adilas Schwester immer sehr viel besser als Adila. Ruhiger, weniger extravagant.«

Sid stimmte mit dieser Ansicht zwar nicht überein – sie erachtete Extravaganz im Gegensatz zur Duchy nicht grundsätzlich als anstößig –, freute sich aber, dass ein Gespräch über Violinisten sich als effektive Ablenkung erwies. Sie waren von ihrer großen gemeinsamen Bewunderung für Szigeti und Huberman zu den d’Arányi-Schwestern gelangt. Jetzt sagte Sid, gemeinsam seien die beiden großartig, denn sie ergänzten sich gegenseitig, perfekt etwa für Bach. Die Augen der Duchy funkelten vor Interesse.

»Haben Sie sie gehört? Das muss großartig gewesen sein.«

»Nicht im Konzert. Aber eines Abends haben sie im Haus eines Freundes spontan beschlossen zu spielen. Ein unvergessliches Erlebnis.«

»Ich finde dennoch, ausgerechnet Jelly hätte niemals den Schumann spielen dürfen. Er wollte eindeutig nicht, dass das Konzert aufgeführt würde, und es erscheint mir falsch, sich seinen Wünschen zu widersetzen.«

»Es ist wohl schwer, der Versuchung zu widerstehen, wenn man das Manuskript gerade entdeckt hat.«

Dann wurde Sid bewusst, dass sie in heikles Fahrwasser geriet – für die Duchy wäre der Umstand, dass einer Versuchung nur schwer zu widerstehen war, absolut kein Grund, ihr nicht zu widerstehen –, und fügte hinzu: »Aber durch das Konzert, das Somervell für Adila schrieb, ist sie natürlich weit häufiger vor Publikum zu hören als ihre Schwester. Die Ungarischen Tänze als Zugabe! Hinreißend, finden Sie nicht? Die Nummer fünf, zum Beispiel.«

Die Duchy pflichtete ihr bei – niemand könne einen Ungarischen Tanz so überzeugend spielen wie eine Ungarin.

Dann tupfte sie sich mit ihrer Serviette den Mund ab und steckte sie zusammengerollt in ihren silbernen Ring. »Haben Sie diesen neuen Jungen gehört – Menuhin?«

»Ich habe sein erstes Konzert in der Albert Hall besucht. Er spielte den Elgar. Eine unglaubliche Vorstellung.«

»Die Sache mit diesen Wunderkindern kam mir nie richtig vor. Es muss sie doch sehr hart ankommen – keine richtige Kindheit, und dann das ständige Reisen.«

Sid dachte an Mozart und schwieg. »Aber ich habe ihn gehört, und er ist großartig«, fuhr die Duchy fort. »Ein derartiges Verständnis für die Musik, und natürlich ist er kein Kind mehr. Aber ist es nicht interessant? All die Leute, von denen wir hier sprechen, ganz zu schweigen von Kreisler und Joachim, sind Juden! Das muss man ihnen lassen, sie sind wirklich erstklassige Geiger!« Dann sah sie zu Sid, eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen. »Liebe Sid, hoffentlich denken Sie nicht …«

Und Sid, die des pauschalen Antisemitismus der Engländer zwar überdrüssig, ihn aber auch gewohnt war, erwiderte mit der heiteren Gelassenheit, die sie sich gezwungenermaßen bereits als Kind angeeignet hatte: »Liebe Duchy, das sind sie aber auch! Ich wünschte, ich könnte ›wir‹ sagen, aber ich mache mir keine Illusionen über mein Talent – vielleicht hat mein nicht jüdisches Blut mich daran gehindert, es bis in die oberste Liga zu schaffen.«

»Das tut meines Erachtens nichts zur Sache. Wichtig ist, dass man sich daran erfreut.«

Und einen bescheidenen Lebensunterhalt damit verdienen kann, dachte Sid, aber das behielt sie für sich.

Die Duchy war noch immer unglücklich über ihren Lapsus, wie sie es für sich bezeichnete. »Liebe Sid! Wir haben Sie alle ins Herz geschlossen. Und Sie müssen wissen, Rachel verehrt Sie zutiefst. Sie müssen ein paar Tage bleiben, damit Sie beide mehr Zeit miteinander verbringen können. Ich hoffe sehr, dass Sie Zeit dafür haben.«

Sie reichte Sid die Hand, und diese ergriff sie, als sei es eine Handvoll wohlschmeckender Brosamen, denen sie nicht widerstehen konnte. »Das ist zu freundlich von Ihnen, liebe Duchy. Ein oder zwei Tage bleibe ich sehr gerne.«

Der direkte, bekümmerte Blick der Duchy klarte sich auf, sie tätschelte Sid die Hand. »Und vielleicht könnten wir zusammen etwas spielen – die Amateurin und die professionelle Geigerin? Edwards Gagliano liegt hier.«

»Das wäre zu schön.« Edwards Gagliano war erheblich besser als ihre eigene Geige. Er spielte nie mehr. Sie lag in dem Kasten, auf dem aus Edwards Schulzeit immer noch Cazalet junior stand, und wurde hier in Home Place aufbewahrt.

Die Duchy klingelte, damit Ellen den Lunch abtrug, und erhob sich vom Tisch.

»Ich denke, ich sehe oben nach, ob etwas gebraucht wird. Können Sie bitte die Ohren offen halten für den Fall, dass die Strandausflügler schon heimkehren?«

»Das mache ich.«

Als die Duchy fort war, zündete sie sich eine weitere Zigarette an und schlenderte hinaus zu den Korbsesseln auf dem Rasen. Von dort hatte sie die Auffahrt und die Pforte im Blick. Die üblichen widerstreitenden Gefühle brodelten in ihr: Empörung, dass Menschen aus religiösen Gründen alle in einen Topf geworfen wurden, eine unangenehme und gleichzeitig unwiderstehliche Dankbarkeit, als Ausnahme von der Regel anerkannt zu werden – die Sichtweise des Mischlings, vermutete sie. Aber sie hatte noch einen anderen Grund, sich nach Akzeptanz, wenn nicht gar Zuneigung zu sehnen; einen Grund, von dem weder die Duchy noch ein anderer aus der Familie und auch nicht ihre Kollegen erfahren würden und auch sonst niemand, wenn sie es verhindern konnte, vielleicht mit Ausnahme von Evie – wegen Rachel, ihrer teuren, kostbarsten und geheimen Liebe. Wollte sie Rachel nicht verlieren, musste es ein Geheimnis bleiben, und ein Leben ohne Rachel lag jenseits ihrer Vorstellung. Evie wusste zwar nichts Konkretes, aber sie ahnte etwas und setzte bereits ihre abscheuliche Intuition zu Manipulationszwecken ein – wie diese schrecklichen zwei Wochen am Meer, die ihrer Ansicht nach für sie beide unerlässlich waren. Evie spürte sofort, wenn die Aufmerksamkeit nicht allein ihr galt, und je nach Ursache wurden ihre Ansprüche immer einfallsreicher. Und diese Ursache, diese große Ursache in Sids Leben, barg große Sprengkraft. Wäre ich nur ein Mann, dachte sie, dann wäre das alles nicht nötig. Aber sie wollte kein Mann sein. Nichts ist einfach, dachte sie. Doch, eine Sache schon: Sie liebte Rachel von ganzem Herzen, und nichts konnte einfacher sein als das.

***

Sybil lag mit gespreizten Beinen und angezogenen Knien auf dem Bett. Ihr gewaltiger Bauch verbarg Dr. Carrs Kopf zur Gänze, bis auf den blassrosa glänzenden Scheitel, als er sich vorbeugte, um zu überprüfen, wie es voranging. Eine ganze lange Weile war gar nichts vorangegangen: Die Wehen kamen und gingen, aber der Muttermund öffnete sich nicht weiter, es war, als wäre Sybil stecken geblieben. Dr. Carr hatte eine bewundernswert beruhigende Art, aber sie war so müde und hatte die Schmerzen so satt, dass sie sich nur wünschte, sie würden aufhören. In der letzten Stunde – den letzten Stunden oder wie lang auch immer – war es ihr vorgekommen, als fände es nie ein Ende. Noch während der Untersuchung begann eine weitere rasende Woge von Schmerz, gigantisch wie eine Monsterwelle, und sie versuchte, vor ihr zurückzuweichen, doch das gelang ihr nicht, weil Dr. Carr ihre Beine festhielt.

»Pressen Sie, Mrs. Cazalet, drücken Sie nach unten, pressen Sie jetzt.« Sybil presste, aber dann wurden die Schmerzen nur noch größer, also brach sie ab. Schwach schüttelte sie den Kopf, spürte die Schmerzen verebben und all ihre Kraft mit sich nehmen. Sie wimmerte – es war nicht gerecht, sie festzuhalten, was alles noch schlimmer machte, wo sie doch einfach zu müde war, um noch mehr zu ertragen. Matt sah sie zu Rachel, aber Dr. Carr sprach mit ihr, und sie stand zu weit weg. Sybil fühlte sich verloren, von beiden verlassen.

»Jetzt kommen Sie sehr gut voran, Mrs. Cazalet. Wenn die nächste Wehe einsetzt, möchte ich, dass Sie tief einatmen und richtig fest pressen.«

Sie fragte, ob endlich etwas passiere. »Ja, ja, Ihr Baby ist unterwegs, aber Sie müssen ihm helfen. Kämpfen Sie nicht gegen die Wehe an, sondern gehen Sie mit ihr mit. Gehen Sie mit, bald haben Sie’s geschafft.« Zweimal schaffte sie es noch, und dann, gerade vor dem dritten Mal, spürte sie, wie sich der Kopf des Babys, der wie ein schwerer runder Stein in ihr steckte, wieder bewegte, und sie schrie auf, aber nicht vor Schmerzen, sondern vor Aufregung darüber, dass ihr Kind aus ihr heraus in die Welt kam. Die letzten zwei oder drei Wogen, die dann noch folgten, zerrissen sie zwar mit einem noch schrilleren Schmerz, verschlangen sie aber nicht mehr wie zuvor: Ihre ganze Wahrnehmung war auf das unglaubliche Gefühl gerichtet, auf den Kopf des Babys, der sich nach unten, nach draußen bewegte. Sie sah Rachel mit einem kleinen weißen Gazebausch über ihr stehen und schüttelte den Kopf – die Ankunft dieses Babys wollte sie sich nicht nehmen lassen, nicht wie die beiden Male zuvor – und richtete sich auf, sodass sie alles verfolgen konnte. Der Arzt blickte mit einem Kopfschütteln zu Rachel, woraufhin diese den Bausch fortlegte. Sybil stieß einen langen, seufzenden Atemzug aus, und dann war der Kopf heraus – die Augen fest geschlossen, die dunklen Haarsträhnen feucht –, es folgten die zerknitterten Schultern, und schließlich lag auch der Rest des kaulquappenartigen Körpers auf dem Bett. Dr. Carr band die Nabelschnur ab und durchtrennte sie, hob das Baby an den Füßen hoch und gab ihm einen sanften Klaps auf den glitschigen, blutverschmierten Rücken. Das Gesicht des Babys verknautschte sich, wie in Trauer darüber, seine nasse Umgebung verlassen zu haben, es öffnete den Mund und machte mit einem dünnen, zitternden Schrei den ersten Atemzug. »Ein wunderhübscher Junge«, sagte Dr. Carr. Er lächelte. Sybil nahm den Blick, ein wortloser Appell, nicht von seinem Gesicht. Er betrachtete sie mit zärtlicher Herzlichkeit, fast, als wären sie Liebende, und legte ihr das Baby in den Arm. Rachel beobachtete Sybils Ausdruck, als sie das kleine, blutverschmierte Wesen – das jetzt laut schrie – entgegennahm, und merkte, dass sie weinte. Das Zimmer war erfüllt von freudiger Aufregung und Liebe.

Dann wurde Dr. Carr ganz praktisch. Rachel bekam den Auftrag, eine kleine Wanne mit warmem Wasser zu füllen und das Baby zu baden, während er sich um die Nachgeburt kümmerte. Rachel band sich eine Schürze um und nahm Sybil das Baby vorsichtig aus dem Arm. Sie hatte panische Angst, es zu verletzen. Dr. Carr bemerkte das. »Es ist nicht aus Glas, es geht nicht kaputt«, sagte er energisch, nahm ihr das Kind ab und legte es auf den Rücken in die Wanne. »Stützen Sie seinen Kopf ab und spülen Sie ihn mit dem Schwamm ab. So«, und damit wandte er sich wieder Sybil zu.

Das Baby, das mittlerweile zu weinen aufgehört hatte, rekelte sich in der kleinen Wanne, seine schiefergrauen, jetzt geöffneten Augen wanderten umher, seine Finger spreizten und schlossen sich wieder zu Fäusten. Seine Füße ragten im rechten Winkel von den Beinen ab, aus einem seiner Nasenlöcher kam ein Schleimpropfen. Dr. Carr, dem offenbar nichts entging, sah zu ihm und säuberte die Nasenlöcher mit einem Baumwolltupfer. Das Baby verzog das Gesicht, drückte den Rücken durch, sodass seine winzigen Rippen vortraten, und begann wieder zu schreien. Seine Haut in der Farbe winziger rosa Muscheln war weich wie eine Rose. Er machte mal mit einem Arm, dann mit einem Bein eine langsame, zufällige Bewegung, und manchmal schien er Rachel anzusehen, aber sein Blick war undurchdringlich. Behutsam, fast demütig wusch sie ihn – er kam ihr so verletzlich und doch so Achtung gebietend vor.

»Jetzt können Sie ihn abtrocknen, und dann wiegen wir ihn. Etwas über dreitausend Gramm, oder ich fresse einen Besen, aber wir müssen es genau wissen. So, und da sind wir, Mrs. Cazalet.« Plötzlich hing der Geruch von warmem Blut in der Luft. Es war Viertel vor fünf.

***

Hugh kam erst rund zwanzig Minuten nach der Geburt seines Sohnes in Home Place an. Er war mit einer Reifenpanne liegen geblieben, und das Rad hatte sich nur mit Mühe vom Wagen lösen lassen. Als er eintraf, setzte die Duchy Rachel gerade Sandwiches und Tee vor. Die Hebamme Mrs. Pearson war gekommen, und Dr. Carr war nach einer schnellen Tasse Tee zur Geburt des zweiten Babys zu seiner Patientin zurückgekehrt – es waren tatsächlich Zwillinge –, aber er ging davon aus, dass es nicht allzu lange dauern würde. Rachel begleitete Hugh zum Wagen, um die Babykleidung zu holen.

»Ich würde Sybil gerne sehen. Meinst du, ich könnte zu ihr hineinschauen?«, fragte er, als sie zum Haus zurückgingen.

»Mein lieber Hugh, das weiß doch ich nicht. Wie hast du es denn sonst gehalten?«

»Nun ja, Sybil mag mich nicht sehen, bevor sie nicht wieder tipptopp in Ordnung ist, aber dieses Mal ist alles anders.«

»Also, wir müssen sowieso die Kleidung nach oben bringen. Dein Sohn muss sich im Moment mit einem Kaschmirschal begnügen.«

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Er ist wundervoll!«, sagte sie mit derartigem Nachdruck, dass er sie mit einem kleinen Lächeln ansah. »Ich wusste gar nicht, dass Tanten dermaßen entzückt sein können von einem Neugeborenen!«

»Na, ich war ja dabei. Mrs. Pearson konnte nicht gleich kommen, also habe ich so gut wie möglich geholfen.«

»War es schlimm für sie?«

»Ich glaube, ein Honigschlecken ist es nie. Sie war großartig, sehr tapfer. Dr. Carr sagte allerdings, das zweite würde recht schnell kommen«, fügte sie rasch hinzu für den Fall, dass sie zu negativ geklungen hatte.

»Ach, schön. Auf dich ist doch immer Verlass, Rachel. Ob sie mich wohl zu ihr lassen – nur einen Moment?«

Aber als sie vor der Tür standen, öffnete Mrs. Pearson sie einen Spalt, sagte etwas zu Sybil und drehte sich dann wieder um mit der Auskunft, Mrs. Cazalet lasse ihn grüßen, würde ihn aber lieber erst später sehen. Und Hugh, der überzeugt war, dass seine Frau Mrs. Pearson brauchte, wagte nicht zu fragen, ob er seinen Sohn sehen könne.

***

Sybil, die jetzt wieder von heftigen Wehen zerrissen wurde, sehnte sich nach Hugh, aber es stand außer Frage, dass er sie auch nur einen Moment in diesem Zustand sah. Sie steckte fest, und das erste Baby hatte sie zerrissen, und trotz Dr. Carrs Beteuerungen hatte sie das Gefühl, dass es ewig so weitergehen würde, oder bis ihre Kräfte erlahmten. In Wirklichkeit zog es sich weitere eineinhalb Stunden hin, bis sich herausstellte, dass dieses Kind nicht mit dem Kopf voraus kommen würde – es würde eine Steißgeburt werden. Dr. Carr musste die Zange einsetzen, um die Beine des Babys zusammenzuhalten, und zu dem Zeitpunkt war Sybil froh über das Chloroform. So sah sie nicht das gequetschte und geschundene kleine Wesen, das mit der Schnur um den Hals herauskam und nicht dazu gebracht werden konnte zu atmen. Sie ließen Sybil betäubt, bis die Nachgeburt gekommen und sie selbst gewaschen und genäht war, und dann saß Dr. Carr bei ihr, bis sie zu sich kam und er ihr sagen konnte, dass das Baby tot war. Sie bat, es sehen zu dürfen, und sie zeigten es ihr. Sie betrachtete den winzigen, schlaffen, weißen Körper und berührte ihn am Kopf. »Ein Mädchen. Hugh wird sehr traurig sein.« Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie war zu erschöpft, um zu weinen.

Kurz herrschte Stille, dann sagte er sanft: »Sie haben einen wunderschönen Sohn. Soll jetzt Ihr Mann kommen, um Sie beide zu sehen?«

Eine halbe Stunde später stieg Dr. Carr müde in seinen alten Ford. In der Nacht zuvor war er zu einem Notfall gerufen worden, hatte morgens in der Praxis gearbeitet und fünf Hausbesuche absolviert, bevor er Mrs. Cazalet entband, und er war schließlich nicht mehr der Jüngste. Trotz seiner vierzig Jahre Erfahrung berührte ihn die Geburt eines Kindes immer wieder aufs Neue, und er fühlte sich Gebärenden auf eine Art verbunden, wie er es bei Frauen sonst nicht kannte. Verdammtes Pech, dass das zweite Kind tot zur Welt gekommen war, aber wenigstens lebte das eine. Und er hatte bei dem zweiten weiß Gott sein Bestes versucht – sie würde nie wissen, wie sehr er sich bemüht hatte. Noch minutenlang nachdem er erkannt hatte, wie aussichtslos es war, hatte er auf die kleine Brust gedrückt und sie wieder losgelassen. Mrs. Pearson wollte es einwickeln und außer Sichtweite legen, aber er wusste, dass die Mutter es würde sehen wollen. Als er nach unten ging, gaben sie ihm ein Glas besten Whisky, und er warnte Mr. Cazalet, dass seine Frau sehr erschöpft sei und er nicht lange bei ihr bleiben solle, sie brauche jetzt vor allem eine gute Tasse Tee und Schlaf. Er wollte noch »und keine gefühlvollen Szenen« hinzufügen, aber ein Blick auf den Vater sagte ihm, dass es ohnehin keine geben würde. Mr. Cazalet machte einen zurückhaltenden und verständnisvollen Eindruck – nicht wie andere, die launige Sprüche rissen, sarkastisch wurden und sich betranken. Und jetzt musste er zu Margaret zurück. In den alten Tagen war er voller Geschichten über die Geburt nach Hause gekommen, aufgeregt, überschäumend gar wegen des immer wieder gleichen Wunders. Aber nachdem sie ihre beiden Söhne im Krieg verloren hatten, wollte Margaret das alles nicht mehr hören, und so behielt er es für sich. Sie war ein Schatten ihrer selbst geworden, gottergeben und teilnahmslos, nur noch zu banalen Äußerungen über das Haus und das Wetter imstande und wie wenig acht er auf seine Kleidung gab. Dann hatte er ihr einen kleinen Hund geschenkt, und seitdem redete sie endlos über den. Mittlerweile war er ein dicker, verhätschelter Schoßhund, aber sie tat immer noch, als wäre er ein niedlicher Welpe. Mehr hatte er nicht für sie tun können, denn ihm wurde nicht das gleiche Maß an Kummer zugestanden wie ihr. Und auch darüber beklagte er sich nie. Aber wenn er, wie jetzt, allein im Wagen saß, nach einem Schluck Whisky, dann dachte er an Ian und Donald, über die zu Hause kein Wort gesprochen wurde und die, so schien es ihm manchmal, völlig vergessen waren außer in seiner Erinnerung und durch ihre Namen auf dem Denkmal, das im Dorf stand.

***

»Ich habe sie ja gefragt, aber sie sagte nur: ›Mach dir keine weiteren Gedanken darüber.‹« Zornig sah Louise über die Lichtung zu ihrer Mutter, die sich rauchend und lachend mit Onkel Rupert und einer Frau namens Margot Sidney unterhielt. Sie, Polly und Clary hatten sich vom Picknick abgesetzt – das sowieso schon länger vorbei war –, um sich ernsthaft darüber zu unterhalten, wie genau das mit dem Kinderkriegen ging, aber sie kamen einfach nicht weiter. Clary zog ihre Bluse hoch, befingerte skeptisch ihren Nabel und meinte, das könne die Stelle sein, aber Polly, die insgeheim entsetzt war ob dieser Vorstellung, widersprach sofort, der sei nicht groß genug. »Wisst ihr, Babys sind ziemlich groß, ungefähr wie eine mittelgroße Puppe.«

»Im Nabel sind aber alle möglichen Falten. Er könnte sich dehnen.«

»Es wäre viel besser, wenn sie einfach Eier legen würden.«

»Menschen sind für Eier zu schwer. Beim Brüten würden sie zerbrechen, und dann wäre überall Rührbaby verteilt.«

»Du bist eklig, Clary. Nein, ich glaube, es ist …«, Louise beugte sich zu Polly und wisperte, »… zwischen den Beinen.«

»Nein!«

»Es ist aber die einzige Stelle.«

»Und wer ist jetzt eklig?«

»Ich nicht. Ich habe das nicht so eingerichtet. Das ist gesunder Menschenverstand«, fügte sie überlegen hinzu im Versuch, sich an den grauenvollen Gedanken zu gewöhnen.

»Das ist kranker Menschenverstand«, sagte Clary.

»Ich glaube«, sagte Polly verträumt, »dass es nur eine Art Kern ist, ziemlich groß im Vergleich zu einer Grapefruit, und der Doktor legt ihn in eine Wanne mit warmem Wasser, und dann explodiert er – so, wie die japanische Wunderblume – und wird zu einem Baby.«

»Du bist so was von blöd. Warum glaubst du, dass sie so dick werden, wenn es nur ein Kern ist? Schau dir doch Tante Syb an. Kannst du dir wirklich vorstellen, dass da nur ein Kern in ihrem Bauch ist?«

»Außerdem kann es ja auch gefährlich sein«, sagte Clary mit einem ängstlichen Gesicht.

»So gefährlich kann es gar nicht sein – schaut euch doch an, wie viele Menschen es gibt«, begann Louise, dann fiel ihr Clarys Mutter ein, und sie fügte eilig hinzu: »Aber vielleicht hast du doch recht mit dem Kern, Polly, ich glaube, das stimmt«, und sie zwinkerte Polly übertrieben zu, damit sie die Botschaft verstand.

Bald darauf kam Tante Rachel und sagte, dass Tante Sybil einen kleinen Jungen bekommen habe und ein kleines Mädchen, das gestorben sei, und sie sei sehr müde, würden sie also alle leise nach Hause gehen und keinen Krach machen? Simon, der oben in einem Baum saß, sagte »Bravo«, ließ sich kopfüber von einem Ast baumeln und forderte die Leute auf zu gucken, aber Polly lief zu Tante Rachel und sagte, sie wolle gleich zu ihrer Mutter und das Baby sehen. Alle freuten sich, nach Hause zu kommen.

Gegen sechs Uhr schlüpften Rachel und Sid zu einem Spaziergang aus dem Haus. Sie gingen hastig, fast verstohlen die Ausfahrt hinunter zur Pforte in den Wald für den Fall, dass jemand sie sah und mitkommen wollte. Sobald sie den Wald erreichten, verlangsamten sie ihren Schritt und schlenderten den Pfad zwischen den Bäumen entlang, der zu den Wiesen und Feldern führte. Rachel war sehr müde, und der Rücken tat ihr weh, weil sie sich so lange über Sybils Bett gebeugt hatte. Die Nachricht von dem tot geborenen Baby hatte sie tief getroffen. Als sie zu dem Trittsteig am Anfang der Wiese gelangten, die sanft zu einer Anhöhe anstieg, schlug Sid vor, nur bis zu der ausladenden Eiche zu gehen, die ganz allein wenige Meter jenseits des Waldrands stand, und sich dorthin zu setzen. Dankbar stimmte Rachel zu. Aber wenn ich einen sieben Kilometer langen Gewaltmarsch vorgeschlagen hätte, dachte Sid, hätte sie, so erschöpft sie ist, auch zugestimmt. Bei dem Gedanken stieg zärtliche Erbitterung in ihr auf. Rachels Selbstlosigkeit nötigte ihr großen Respekt ab, erforderte von ihrer Seite aus aber oft auch subtilstes Einfühlungsvermögen.

Rachel fand einen Platz, um sich bequem an den Stamm der Eiche zu lehnen, und ließ sich von Sid eine Zigarette geben, die sie ihr mit dem kleinen silbernen Feuerzeug anzündete, das Rachel ihr vor fast zwei Jahren geschenkt hatte, zu ihrem ersten Geburtstag nach ihrem Kennenlernen. Eine Weile rauchten sie schweigend. Rachel blickte unverwandt auf die grüne und goldene Wiese, in der Mohnblumen, Margeriten und Hahnenfuß blühten, aber so, als würde sie das alles gar nicht wahrnehmen. Sid beobachtete ihr Gesicht. Ihre feinen Züge mit den hohen Wangenknochen waren blass und abgespannt, ihre blauen Augen umwölkt und dunkel vor Erschöpfung. Ihre Lippen zitterten, und sie presste sie entschlossen aufeinander, als habe sie Angst zu weinen. Sid nahm ihre Hand. »Es wird leichter, wenn du’s mir erzählst.«

»Es kommt mir so grausam vor! Die ganzen unglaublichen Qualen und die Anstrengung, und dann kommt der arme kleine Wurm tot zur Welt! Das ist doch ein schreckliches, entsetzliches Unglück!«

»Aber ein Baby zumindest lebt. Das ist doch viel besser, als hätte es nur das eine tote gegeben.«

»Natürlich. Aber glaubst du nicht, dass ihm sein Zwilling immer fehlen wird? Heißt es nicht, dass sie auf besondere Weise miteinander verbunden sind?«

»Ich glaube, nur wenn es eineiige Zwillinge sind.«

»Ja, das stimmt, das hatte ich vergessen. Das Schlimme ist, ich bin einfach froh, dass ich beim zweiten nicht dabei war. Ich hätte geflennt.«

»Liebling, du warst nicht dabei, und wärst du dabei gewesen, hättest du aus Rücksicht auf Sybil vermutlich nicht geweint. Und wenn doch, wäre das auch nicht das Ende der Welt gewesen. Weißt du, zu weinen ist kein Verbrechen.«

»Nein. Aber wenn man mein Alter erreicht, schickt es sich nicht.«

»Wirklich?«

Mit einem Blick auf Sids zärtlichen, spöttischen Gesichtsausdruck sagte Rachel nachdenklich: »Nun ja, uns wurde beigebracht, dass Erwachsene nicht weinen. Außer bei Musik und patriotischen Anlässen und derlei.«

»Du meinst, Elgar ist so gesehen ein Volltreffer?«Darüber musste Rachel lachen. »Genau. Ich frage mich, was die Cazalets vor Elgar machten, wenn ihnen nach Weinen zumute war!«

»Wir brauchen nicht das finstere Mittelalter der Cazalets zu erörtern.«

»Das brauchen wir in der Tat nicht.« Sie tupfte sich mit dem kleinen weißen Taschentuch, das an ihrem Handgelenk steckte, die Augen ab. »Wie albern man doch ist!«

Dann kamen sie auf sich selbst zu sprechen. Rachel fragte nach dem Urlaub am Meer, der Evie vorschwebte, und Sid sagte, dass sie gar keine Lust dazu habe, verschwieg aber, dass sie sich die zwei Wochen nur mit größter Mühe leisten könnten – Rachels Wohlstand und Sids Mangel daran war ihnen beiden peinlich –, und Rachel fragte, ob sie glaube, fahren zu müssen, weil Evie den Urlaub dringend brauche, und ob sie in dem Fall nicht nach Hastings fahren könnten? Denn dann könnten sie beide zum Lunch oder etwas in der Art nach Home Place kommen. Aber Sid erwiderte, sie habe Angst, Evie könne das mit ihnen – mit Rachel und ihr – herausfinden.

»Aber meine Liebe, da gibt es doch nichts herauszufinden!«

Was, wie Sid wusste, sowohl stimmte als auch nicht stimmte. »Sie ist sehr eifersüchtig«, sagte sie. »Besitzergreifend.«

»Du bist der einzige Mensch, den sie auf der Welt hat. Ich kann es verstehen.«

Sie macht mich zum einzigen Menschen, den sie hat, dachte Sid, sagte es aber nicht. Wie viele, die andere kritisierten und zu mehr Freimütigkeit drängten, behielt sie selbst zahlreiche Geheimnisse sorgsam unter Verschluss. In diesem Fall nannte sie es Loyalität Evie gegenüber: Rachel, der manipulatives Verhalten völlig fremd war, würde es bei anderen schlicht nicht wahrnehmen. Dann seufzte Rachel zufrieden. »Es ist wunderschön, dass du jetzt hier bist«, sagte sie mit derart inniger Zuneigung, dass Sid sie in die Arme nehmen und ihr zum ersten Mal an diesem Tag einen Kuss geben konnte, was für beide eine exquisite, wenngleich sehr unterschiedliche Wonne war.

***

Hugh war entsetzt über Sybils Anblick, hoffte aber, dass man ihm seinen Schock nicht ansah. Sie lag unter einem sauberen Laken flach auf dem Rücken, ihr Haar offen über das weiße Kissen gebreitet, und vor dem vielen Weiß nahm sich ihr Gesicht grau und wächsern aus. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sieht aus, als läge sie im Sterben, dachte er, aber Mrs. Pearson, die ihm die Tür geöffnet hatte, sagte munter: »Ihr Mann ist gekommen, Mrs. Cazalet«, als wäre alles in bester Ordnung. »Ich gehe nur kurz nach unten und hole eine Tasse Tee für Sie«, hatte sie hinzugefügt und das Zimmer verlassen.

Hugh zog einen Stuhl ans Bett.

Bei Mrs. Pearsons Stimme hatte Sybil die Augen geöffnet und sah ihn jetzt ausdruckslos an. Er nahm ihre Hand und küsste sie. Sybil runzelte ein wenig die Stirn, schloss die Augen wieder, und zwei Tränen liefen herab. »Es tut mir leid. Es waren Zwillinge. Ich bin ausgerutscht. Es tut mir leid.« Sie bewegte sich ein wenig und fuhr zusammen.

»Mein Liebes, es ist alles gut.«

»Nein! Er hat versucht, sie zum Atmen zu bringen. Aber sie hat nie geatmet. All das, und dann hat sie nicht gelebt.«

»Ich weiß, mein Liebling. Aber was ist mit dem großartigen Jungen? Darf ich ihn sehen?«

»Er liegt da drüben.«

Hugh betrachtete das Profil seines Sohns, der auf der Seite lag und mit ernstem Gesichtchen tief und fest schlief. »Bei ihm ist alles in Ordnung, ihm fehlt nichts!«, sagte Sybil und fügte dann hinzu: »Aber ich weiß, dass du dir eine Tochter gewünscht hast.«

Er kehrte zu ihr zurück. »Er sieht fabelhaft aus. Und ich habe schon eine wunderbare Tochter.«

»Sie war so viel kleiner! Winzig, richtig jämmerlich. Als ich sie berührte, war ihr Kopf noch warm. Niemand wird sie je gekannt haben – außer mir. Weißt du, was ich mir gewünscht habe?«

»Nein«, sagte er gepresst.

»Ich wünschte mir, sie wäre wieder in mir – dort hätte ich sie beschützen können.« Tränenüberströmt sah sie ihn an. »Das habe ich mir gewünscht.«

»Ich möchte dich in den Arm nehmen«, sagte er, »aber das ist nicht so einfach, wenn du flach auf dem Rücken liegst.« Unfähig, sich zu beherrschen, schluchzte er einmal auf und drückte ihre Hand an seine Wange.

Sofort richtete sie sich auf und umarmte ihn. »Es ist alles gut. Ich wollte, dass du es weißt, aber ich wollte dich nicht … sei nicht traurig! Es ist ja nicht so, als ob … Wenn er aufwacht, wirst du sehen, wie wunderschön er ist … du darfst nicht traurig sein, denk an Polly, mein Liebling …« Erst als sie ihn in den Armen hielt und über ihren eigenen Kummer hinwegtröstete, wurde ihm dessen Ausmaß klar, und sein Mitleid mit ihr löste sich durch ihre Liebe auf. Er schloss sie in die Arme, legte sie sacht aufs Kissen zurück, streichelte ihr übers Haar, küsste sie zärtlich auf den Mund, sagte ihr, dass sie recht habe, sie hätten Polly, und dass er sie und seinen neugeborenen Sohn liebe. Als Mrs. Pearson mit dem Tee zurückkam, hielten sie sich an der Hand.

***

Sobald die anderen Kinder hörten, dass Polly und Simon ihr neugeborenes Brüderchen sehen durften, das eigens zu dem Zweck in seinem Korb in Hughs Ankleidezimmer gestellt wurde, bettelten sie darum, es ebenfalls zu sehen. Später ging Villy zu Lydia, um ihr Gute Nacht zu wünschen, und hörte zufällig, wie sie und Neville sich über das Baby unterhielten.

»Mir hat er nicht gefallen«, sagte Neville gerade. »Ich weiß nicht, wie er irgendjemandem gefallen kann.«

»Ein bisschen rot war er. Rot und verhutzelt – wie ein winziger uralter Mensch.«

»Wenn er jetzt schon so aussieht, wie wird er dann erst später aussehen?«

»Das will ich mir gar ausmalen.«

»Das willst du dir gar nicht ausmalen«, äffte er sie nach. »Ich male mir nichts aus, ich finde ihn einfach nur hässlich. Da hätte ich lieber einen Labrador …«

»Neville! Immerhin ist er ein Menschenkind.«

»Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.«

An der Stelle setzte Villy ein neutrales Gesicht auf und unterbrach die beiden.

***

Nachdem Polly ihren neugeborenen Bruder gesehen hatte, sagte Hugh, er wolle sich mit ihr unterhalten.

»Jetzt?« Eigentlich hatte sie sich mit Louise und Clary zum Monopoly verabredet.

»Ja.«

»Hier?«

»Ich dachte, wir könnten in den Garten gehen.«

»In Ordnung. Dad, ich muss nur den anderen Bescheid sagen. Ich bin in einer Minute in der Halle.«

Er ging mit ihr zur Bank beim Tennisplatz, und sie setzten sich. Kurz herrschte Stille, sodass Polly etwas bang zumute wurde.

»Worum geht es denn, Dad?« Sein Gesicht sah zerfurcht aus, wie immer, wenn er müde war. »Doch um nichts Schlimmes, oder?«

»Leider doch.«

Sie packte ihn am Ärmel. »Aber es ist doch nichts Schlimmes mit Mummy, oder? Du hast mich nicht zu ihr gelassen! Sie … Ihr … ihr ist doch nichts passiert, oder?«

»Nein, nein«, sagte er, erschrocken über ihr Gesicht. »Nein. Mummy ist nur furchtbar müde. Sie ist eingeschlafen, und ich wollte nicht, dass wir sie wecken. Morgen früh siehst du sie wieder. Nein, es ist …« Und er erzählte ihr seine sorgsam vorbereitete Geschichte: wie er nach Hause gefahren war, um die Babysachen zu holen, und wie er, als er vom Kinderzimmer herunterkam, Pompey auf dem Bett liegen sah und ihn streicheln wollte und dann feststellte, dass er tot war – offenbar einfach im Schlaf gestorben, was natürlich sehr traurig war, aber seiner Meinung nach der beste Tod für eine Katze. »Er hat überhaupt nichts gespürt, Poll – er ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Das ist«, sagte er mit einem ernsten Blick auf sie, »für dich natürlich viel schlimmer als für ihn.«

»Aber es ist natürlich besser als andersherum«, sagte sie. Sie war weiß geworden, ihre Lippen zitterten. »Aber wie schrecklich für dich! Ins Zimmer zu kommen und ihn so liegen zu sehen! Armer Dad!« Bitterlich weinend schlang sie die Arme um ihn. »Ach, der arme Pompey ist tot! Aber so alt war er doch noch gar nicht – warum ist er einfach so gestorben? Glaubst du, er dachte, ich würde nicht mehr wiederkommen, und …«

»Das glaube ich ganz bestimmt nicht. Wir wissen ja auch gar nicht, wie alt er wirklich war. Wahrscheinlich viel älter, als er aussah.« Polly hatte ihn in einer Tragetasche von Selfridges bekommen – ein Geschenk ihrer Patentante Rachel zum neunten Geburtstag. »Er war schon erwachsen, als er zu dir gekommen ist.«

»Ja. Das muss ganz furchtbar für dich gewesen sein.«

»Das war es auch. Ein Taschentuch?«

Sie putzte sich zweimal die Nase. »Er muss seine neun Leben aufgebraucht haben. Dad! Du hast ihn … doch nicht einfach weggeworfen, oder?«

»Guter Gott, nein! Ich habe ihn mitgebracht. Ich dachte, du möchtest ihn vielleicht richtig begraben.«

Sie sah ihn mit derart strahlender Dankbarkeit an, dass sein Herz einen Schlag aussetzte. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, das würde mir gut gefallen.«

Auf dem Rückweg zum Haus unterhielten sie sich über Pompeys bemerkenswertes Leben – oder vielmehr, seine vielen Leben: dreimal überfahren, einmal zwei Tage in einem Baumwipfel festgesessen, bis die Feuerwehr ihn herunterholte, einmal Gott weiß wie viele Tage im Weinkeller eingeschlossen … »Aber das sind nur fünf«, sagte Polly traurig.

»Wahrscheinlich hatte er schon ein paar aufgebraucht, bevor du ihn kanntest.«

»Das muss der Grund sein.«

Als sie zum Haus zurückgingen, sagte sie: »Dad! Jetzt habe ich mir überlegt, dass es vielleicht nicht neun Leben als dieselbe Katze sind, sondern immer ein Leben als neun verschiedene Katzen. Also hat er noch acht.«

»Das ist gut möglich. Also«, schloss er, »wenn du ein Kätzchen siehst, das aussieht, als könnte es Pompey in einem anderen Leben sein, gib mir Bescheid, und dann schenke ich es dir.«

»Ach, Dad, würdest du das wirklich tun? Ich halte auch fest Ausschau.«

***

Das war der Beginn dieses Sommers, der in der Erinnerung vieler mit anderen Sommern verschwamm. Im Gedächtnis blieb er vor allem als der Sommer, in dem der kleine William geboren wurde, und dann war da noch die traurige Sache mit dem anderen Baby. Polly blieb er vor allem als der Sommer in Erinnerung, in dem Pompey starb und prunkvoll beerdigt wurde. Dem alten William Cazalet als der Sommer, in dem er den Kauf der Mill Farm besiegelte, die ein Stück die Straße hinunter lag. Edward als der Sommer, in dem er im Büro für Hugh einsprang und Diana kennenlernte. Louise als der Sommer, in dem sie ihre Tage bekam. Teddy als der Sommer, in dem er sein erstes Kaninchen erlegte und seine Stimme komisch wurde. Lydia als der Sommer, in dem sie von den Jungen in den Obstkäfig eingeschlossen und vergessen wurde, weil sie dann Fahrradhockey spielten und zum Lunch gingen und sie, Lydia, erst beim Essen vermisst wurde (es war Nans freier Tag) und sie sich ausgerechnet hatte, dass sie verhungern würde, wenn sie erst einmal alle Stachelbeeren aufgegessen hatte. Sid blieb er in Erinnerung als der Sommer, in dem ihr endgültig klar wurde, dass Rachel ihre Eltern nie verlassen würde, aber dass andererseits sie, Sid, Rachel nie verlassen könnte. Neville als der Sommer, in dem sein loser Zahn ausfiel, als er auf seinem verzauberten Fahrrad unterwegs war, von dem er nur absteigen konnte, wenn er in etwas hineinfuhr, also verschluckte er den Zahn und traute sich nicht, jemandem davon zu erzählen, sondern wartete angstvoll, dass der Zahn ihn innerlich biss. Rupert blieb er in Erinnerung als der Sommer, in dem ihm bewusst wurde, dass er durch die Heirat mit Zoë jede Chance aufgegeben hatte, ein ernsthafter Maler zu werden, und Lehrer bleiben musste, um ihr wenigstens das bieten zu können, was sie als das bloße Minimum bezeichnete. Villy als der Sommer, in dem ihr derart langweilig wurde, dass sie sich das Geigenspiel beibrachte und ein maßstabsgetreues Modell der Cutty Sark baute, das zu groß war, um in eine Flasche zu passen; ein Missgeschick, das ihr bereits im vergangenen Sommer mit einem kleineren Schiff passiert war. Simon als die Ferien, in denen Dad ihm das Autofahren beibrachte und er die Auffahrt im Buick hinauf- und hinunterkurven durfte. Zoë blieb er in Erinnerung als der Schreckenssommer, in dem ihre Regel drei Wochen zu spät kam und sie glaubte, schwanger zu sein. Der Duchy als der Sommer, in dem die Strauchpfingstrose zum ersten Mal blühte. Clary als der Sommer, in dem sie sich beim Sturz von Joeys Rücken, als Louise ihr eine Reitstunde gab, den Arm brach und in dem sie ins Esszimmer schlafwandelte, als alle dort beim Dinner saßen, und sie dachte, sie träume, und Dad sie wieder ins Bett trug. Rachel als der Sommer, in dem sie die Geburt eines Kindes miterlebte, aber auch der Sommer, in dem ihr Rücken zum ersten Mal wirklich Probleme machte und ihr für den Rest ihres Lebens nur noch kurze Phasen ohne Schmerz bescheren sollte. Und Will, dessen erster Sommer es war, blieb er überhaupt nicht in Erinnerung.