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(I)
Ich wüsste gern, wie er wohl gestorben ist, überlegte sie. Patricia White hätte niemals gedacht, zu derart makabren Gedanken fähig zu sein, nicht mal als Anwältin, aber hier waren sie nun und lauerten ihr auf. Ihre Beförderung war das Letzte, woran sie jetzt dachte, genau wie das zusätzliche Einkommen durch die Gewinnbeteiligung. Nein, da kreisten gerade einzig diese flüchtigen Bilder voller Dunkelheit und Morbidität. Judy sagte, er sei ermordet worden, aber nicht, wie. Als sie wie betäubt eine Reihe von Statuen aus der Ming-Dynastie betrachtete, drängte sich ihr die Frage regelrecht auf: Ich wüsste gern … wie …
Ja. Wie war der Ehemann ihrer Schwester genau umgebracht worden? Unter welchen Umständen? Auf welche Art? Pistole? Messer? Knüppel?
Dann: Ich sollte mich besser zusammenreißen, bevor MEIN Ehemann noch glaubt, ich würde durchdrehen.
Byron saß ihr am Tisch gegenüber und tat so, als bemerkte er ihre Zerstreutheit nicht. Wenn er spürte, dass sie etwas beschäftigte, bemühte er sich normalerweise immer, sie abzulenken. »Ich weiß nicht, ob das hier das beste chinesische Restaurant der Stadt ist«, sagte er, »aber schon jetzt bin ich bereit zu behaupten, dass es das am besten riechende chinesische Restaurant der Stadt ist.«
Patricia war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie es gar nicht bemerkt hatte, bis er es erwähnte. Aber jetzt weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. Schlanke asiatische Kellnerinnen huschten mit großen Tabletts voller Essen hin und her, die regelrechte Duftschwaden durch das Restaurant zogen. »O Byron, wow. Du hast recht. Die Aromen hier sind fast …«
Sein breites Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Erotisch.«
»Das hast du gesagt, Mr. Perverser Restaurantkritiker.«
Er hielt seine Hände über die Suppenschüssel, die bis vor wenigen Minuten noch mit Haifischflossensuppe gefüllt gewesen war. »Gutes Essen muss eine sinnliche Reaktion hervorrufen; das tut es, seit die frühen Menschen mit dem Kochen angefangen haben. Daran ist nichts Perverses .«
Sie konnte nicht anders als sich vorzubeugen und zu flüstern: »Bis auf dieses eine Mal, als wir in L. A. waren und du drauf bestanden hast, das Stück Schoko-Martini-Käsekuchen aus dem Spago’s mitzunehmen und es von meinem Bauch zu essen, als wir zurück im Beverly Hills Hotel waren.«
»Mhm. Und ich glaube, man könnte deine Reaktion darauf als ganz besonders sinnlich bezeichnen. Und vergiss nicht, Mrs. Perverse Superanwältin, was du vorher mit der Sahne angestellt hast.«
Sofort errötete Patricia. Wie hatte sie diesen Teil nur vergessen können? Als die Vorspeisen gebracht wurden, stiegen weitere wundervolle Düfte in ihre Nase: Scharfe Soßen, ausgeklügelte Gewürzkompositionen und Kräuter dampften ihr entgegen.
»Bevor wir uns unserem nordchinesischen Gelage widmen«, sagte Byron, »erzähl mir doch, was dich belastet.«
Sag es einfach. »Ich fühle mich mies«, gab Patricia zu. »Weil ich mich nicht … mies fühle.« Ungewohnt verlegen hob sie den Blick von der üppigen Platte mit dem sautierten Hummer auf Schalotten. »Ergibt das irgendeinen Sinn?«, fragte sie.
Byrons Essstäbchen schwebten in der Luft. Er hatte gerade einen Streifen kurz gebratenes Seeohr aufnehmen wollen. Sein Gesicht im Kerzenlicht wirkte nachdenklich. »Schatz, in diesem Fall ergibt das durchaus Sinn. Es ist schwer zu formulieren, weil man über die Toten nicht schlecht reden soll. Darum geht es doch, oder?«
»Ja …« Sie legte ihre eigenen Essstäbchen auf das Porzellanbänkchen. Offensichtlich raubten ihnen beiden die Umstände den Appetit. Eine Schande in einem so teuren und für seine exotische Küche bekannten Restaurant. »Ein Teil von mir hat Mitleid mit Judy, aber der größte Teil von mir fühlt … Ach, verdammt noch mal. Ich komme mir so beschissen vor, dass ich es überhaupt nur denke.«
»Lass mich es für dich aussprechen und sag mir, ob ich richtigliege. Der größte Teil von dir freut sich für Judy, weil sie ein zu guter Mensch ist, um mit einem Kerl wie Dwayne verheiratet zu sein. Dwayne war ein ziemlich beschissener Typ. Er war ein Lügner und ein Krimineller und ein Hochstapler, und jetzt ist er tot. Und ein Teil von dir ist froh, dass er tot ist. Und dafür fühlst du dich schuldig.
Mir geht es genauso, auch ich bin froh, dass er tot ist. Niemand konnte ihn leiden. Ich hab ihn nur ein einziges Mal getroffen, aber ich konnte sofort sehen, dass er ein gerissener Prolet war, der deine Schwester nur geheiratet hat, um sich das Leben leichter zu machen.
Er hat ihr so viel Kummer bereitet, das hat sie nicht verdient. Ich meine, er hat sie verprügelt, in Gottes Namen! Das kann er jetzt nicht mehr. Alles in allem ist es gut, dass Dwayne umgekommen ist. Die Welt ist ohne ihn ein besserer Ort und Judy ist ohne ihn besser dran.«
»Ich weiß«, gestand Patricia. »Aber …«
»Aber sie ist deine Schwester«, fuhr Byron fort. »Und du liebst sie, und du weißt, dass du dich nicht darüber freuen solltest, dass ihr Ehemann gestorben ist. Eine Situation wie diese ist niemals einfach.«
»Sie hat die ganze Zeit geglaubt, dass er sich eines Tages ändern würde, dass es nur seine Vergangenheit wär, die ihn so gemacht hat …«
»Natürlich, das musste sie doch glauben, um nicht die Hoffnung zu verlieren. Aber in Wahrheit ändern sich Typen wie Dwayne nicht. Das sind Räuber, bis zum Tag ihres Todes. Das kann man noch so sehr der Umwelt oder der Erziehung oder mangelnder Bildung oder sonst was ankreiden, und sicherlich sind das manchmal entscheidende Faktoren. Aber manchmal eben auch nicht. Dwayne war einfach ein böser Mensch und wäre das immer geblieben.«
Patricia schüttelte den Kopf. »Aber sie hat ihn so sehr geliebt.«
»Liebe macht blind und dumm«, sagte Byron. »Deine Schwester war schon immer ein bisschen unsicher. Sie ist auf Dwaynes falschen Charme reingefallen, und diese raue Bad-Boy-Attitüde. Also hat er sie verarscht. Sie hätte ihn schon nach einem Jahr rausschmeißen sollen, aber da kommt wieder diese Unsicherheit ins Spiel. Das passiert Frauen in ihrem Alter oft; ab 40 glauben sie, sie finden nichts Besseres mehr als den Mann, mit dem sie gerade zusammen sind.«
»Frauen in ihrem Alter?«, fragte Patricia halb anklagend, halb im Scherz. »Sie ist 42. Ich bin 43.«
»Stimmt, aber der Unterschied ist, dass sie mit einem muskelbepackten Redneck verheiratet war und du mit einem kahlen Vielfraß. Ich bin der unsichere Part in dieser Ehe. Die meisten Männer meines Alters haben Bierbäuche.« Byron tätschelte seinen dicken Wanst. »Ich habe einen Foie-Gras-und-Chateaubriand-Bauch.«
Beide lachten, eine mehr als willkommene Abwechslung zu ihrer düsteren Stimmung. Byron war Restaurantkritiker für die Washington Post . Er verdiente gut daran, in den besten Restaurants der Gegend um D. C. essen zu gehen, machte sich aber dennoch ständig über sich selbst lustig. Patricias Gehalt war fünfmal so hoch wie seines, und jetzt, da sie zur Partnerin gemacht worden war, würde sie sogar noch mehr verdienen. Außerdem sah sie, obwohl sie im mittleren Alter war, eher wie eine Frau Anfang 30 aus. Trotz der vielen Arbeit schaffte sie es dreimal die Woche ins Fitnessstudio, und die Natur oder Gott war so freundlich gewesen, ihr übermäßige Falten vom Leib zu halten.
Die Wand neben ihrem Tisch, direkt hinter einem eleganten, mit weißen Ziegeln eingefassten Fischteich, war komplett verspiegelt, und als Patricia einen Blick auf sich warf, war sie mehr als zufrieden mit dem, was sie sah. Ihr seidiges, glattes rotes Haar mit dem langen Pony, den sie zur Seite gestrichen hatte, schimmerte. Sie hatte es erst vor wenigen Tagen schneiden lassen, bis zum Schlüsselbein und absolut gerade. Der schmale schwarze Rock betonte ihre schlanke Figur, die von einem ausladenden Busen gekrönt wurde. Die meisten von Byrons Freunden glaubten, sie hätte Implantate, obwohl das nicht stimmte. Sie sah genauso aus wie die fitte, attraktive D. C.-Geschäftsfrau, die sie war.
Byron dagegen war die Verkörperung des Wortes »mopsfidel«, und das wusste er auch. Genau deshalb liebte sie ihn. Er mochte übergewichtig sein, aber er war authentisch, und solche Männer fand man in den Washingtoner Kreisen der Macht viel zu selten.
Sie hatte in der Tat ihren besten Freund geheiratet und sie wusste, dass sie ohne ihn nicht mehr weiterwüsste. Ich habe wirklich Glück, dachte Patricia dankbar. Das wünschte ich Judy auch …
Um sie herum belebte sich das Restaurant. Leise Gespräche wurden untermalt von einer dezenten orientalischen Harfe und weiche Akzente erläuterten die Spezialitäten des Abends: Tintenfisch nach Thai-Art in drei Gewürzen, Pekingente und Rind Szechuan.
Byron wurde ernster, als er sagte: »Es tut mir leid, dass diese Sache dein Festmahl ruiniert. Ich wollte, dass es etwas Besonderes wird.«
Sie drückte unter dem Tisch seine Hand. »Es ist besonders. Wir könnten zu McDonald’s gehen und es wäre etwas Besonderes, solange du bei mir bist.«
Byron lächelte bescheiden. »Wie dem auch sei, lass uns trinken. Auf deine Beförderung.«
Sie stießen mit kleinen Gläsern eines vollmundigen Pflaumenweins an. Patricia war Anwältin für Immobilienwirtschaft, deren Kanzlei gerade offiziell von Platz zwei auf Platz eins in diesem Feld aufgestiegen war. In den letzten zehn Jahren war der Immobilienmarkt in ganz Washington und dem nördlichen Virginia regelrecht explodiert, und nie war es turbulenter zugegangen als jetzt, was für eine erstklassige Anwältin wie sie florierende Geschäfte bedeutete. Die Gewinnbeteiligung durch die Partnerschaft zahlte ihr Sandsteinhaus in Georgetown ab, dessen Wert sich jetzt schon verfünffacht hatte. Sie und Byron hatten schon immer ein gutes Leben gehabt, aber jetzt würde es ein großartiges Leben werden.
»Eins gefällt mir allerdings nicht. Es wirkt sexistisch.« Byron schnappte sich ein Stückchen Rumaki und ging wieder zu leichteren Themen über. »Deine Kanzlei meine ich, McGinnis, Myers und Morakis. Du bist jetzt Partnerin. Sollte es dann nicht McGinnis, Myers, Morakis und White heißen?«
»Mieser Klang, Byron«, antwortete sie. »Das würde den typischen Sound zerstören, die drei M. Meiner Meinung nach muss mein Name nicht an der Tür stehen. Und das Erste, was ich mit meinem Bonus anstelle, ist, meinen wunderbaren Ehemann nach Hongkong zu bringen, damit du dein Gourmet-Buch beenden kannst.«
»Es mag wie ein törichter Luxus klingen, dass ich diesen unmäßigen Traum habe, aber du musst wissen, dass ein derart hervorragender Kritiker wie ich unbedingt den Tao-Fu-Fa-Räuchertofu und die Fischkopfsuppe im besten kantonesischen Restaurant der Welt probieren muss …«
Sie lächelte ihn an. »Was immer dich heißmacht, Schatz. Ich liebe deine Leidenschaft. Ich finde gutes Essen auch toll, weiß es aber nicht ganz so sehr zu schätzen.« Sie deutete auf ihren Teller. »Das hier zum Beispiel. Es ist großartig. Vermutlich sind das die besten Shrimps, die ich je hatte …«
Reflexhaft runzelte Byron die Stirn. »Schatz, das sind keine Shrimps. Das sind Kaisergranate aus der Morton Bay in Australien. Absolut keine Shrimps, sondern tatsächlich eine Art Hummer.«
Patricia nickte abwesend. »Gut. Aber für einen wenig ausgefeilten Geschmackssinn wie meinen sind es Shrimps, und sie sind köstlich, aber ich habe einfach nicht deine Fähigkeit, das anderen Leuten zu erklären. Ich teile nicht deine Hingabe dafür. Du würdest sie vermutlich beschreiben als …«
Ehe sie ihren Satz beenden konnte, schnappte sich Byron einen Hummerschwanz von ihrem Teller, schob ihn sich genießerisch in den Mund und sagte: »Eine rätselhafte Verschwörung authentischer Gewürze, die die Süße dieses fernen und so exotischen Krustentieres unterstreichen. Der wilde Biss der zarten Schalotten wurde durch genau das richtige Maß an Hitze ausreichend gezähmt, um diese fabelhafte Köstlichkeit zu vermitteln, die einem amerikanischen Gaumen viel zu selten zuteilwird. Insgesamt gleicht dieses Gericht einem kulinarischen Poem.«
»Genau so«, sagte sie und lachte. »In Hongkong wirst du definitiv in deinem Element sein, und ich kann es kaum erwarten, das zu erleben.« Das stimmte. Sie waren schon seit 20 Jahren zusammen und Byron hatte zahllose Überstunden gemacht, während Patricia Jura studiert und als Assistentin gearbeitet hatte. »Du hast mir geholfen, meinen Traum wahr zu machen«, sagte sie nun leiser. »Und ich weiß, dass es oft so wirkt, als hätte ich das vergessen.«
»Unsinn. Es ist unser Traum und wir leben ihn gemeinsam«, widersprach Byron.
Jetzt fühlte sie sich noch schuldiger. Die meiste Zeit war sie zu beschäftigt, außergerichtliche Anhörungen vorzubereiten, um wahrzunehmen, dass auch sie Teil dieses Lebens war. Ich werde das alles wiedergutmachen, und ich fange sofort damit an, versprach sie sich und hoffte, dass das nicht nur eine weitere lahme Beteuerung war.
Er hatte schon immer nach Hongkong fahren wollen – wegen des Essens –, und in all den Jahren hatte sie niemals »Zeit dafür« gehabt. Sie war immer zu »beschäftigt« gewesen. Jetzt nicht mehr, beschloss sie. Ich gehöre jetzt zu den Chefs. »Wie gesagt, das Erste, was ich als Partnerin machen werde, ist, mit dir nach Hongkong zu fahren.« Aber dann fiel ihr das Problem wieder ein. »Na ja, ich meine, das Zweite …«
»Natürlich, die Beerdigung«, sagte Byron ernüchtert. »Warum kann ich nicht mitkommen? Es ist eine lange Fahrt.«
»Es sind doch nur drei Stunden oder so.«
»Das meine ich nicht. Du willst doch nicht allein zu diesen Leuten und in so eine Situation.«
Sie wusste, was er meinte. Sie hatte sich in Agan’s Point immer fehl am Platz gefühlt, weil sie dort schlicht fehl am Platz war . Die denken alle, ich sei eine eingebildete Kosmopolitin … Was ich vermutlich auch bin. »Judy mag mich«, versicherte sie. »Und was die anderen angeht – die sollen zur Hölle fahren.« Das war eine der seltsamen Ansichten der Menschen ihrer Heimatstadt: Nur undankbare Leute verlassen ihren Geburtsort, um in die Stadt zu ziehen, Leute, die glauben, besser zu sein als alle anderen. »Ganz ehrlich, ich habe keine Lust hinzufahren. Von mir aus können sie Dwaynes Leiche in eine Grube kippen und mit Dreck zuschütten, ganz ohne Beerdigung. Aber …«
Byron nickte. »Aber du willst für Judy da sein. Natürlich willst du das. Jeder normale Mensch würde das.«
Sie schämte sich für ihre eigenen Gedanken und das, was Byron ihr in den Mund gelegt hatte. Ich war niemals für sie da, als sie mich WIRKLICH brauchte, oder? Familiäre Loyalität und Karriereziele befanden sich oftmals in einem regelrechten Krieg – typisch für moderne Familien –, und in Patricias Fall hatte die familiäre Loyalität den Kürzeren gezogen. Tief drinnen hat Judy mir nie vergeben, dass ich nicht geblieben bin und mir ein College in der Nähe gesucht habe, als Mom und Dad starben …
Zwischen dem Leben, wie sie es führte, und dem, was man als familiäre Verantwortung interpretieren mochte, herrschte ein regelrechter Krieg. Patricia lenkte lieber ab. »Ich will auch einen Blick auf die Unternehmenszahlen werfen, falls Dwayne hinter ihrem Rücken irgendeinen Schaden angerichtet hat. Eigentlich sollte sie sich um die Buchhaltung kümmern und Dwayne einfach nur das Personal überwachen, aber ich habe so meine Zweifel. Es würde mich nicht überraschen, wenn er Bestechungsgelder von den Krebsfischern genommen hätte.«
»Wechsel nicht das Thema. Ich finde immer noch, dass ich dich begleiten sollte«, beharrte Byron.
Sie seufzte. Es kam nicht infrage. Seine Familienkrisen hatten nie Auswirkungen auf sie gehabt, also bestand sie darauf, dass es umgekehrt genauso war. »Du sollst dir nicht wegen so was freinehmen«, sagte sie.
»Meine monatliche Kolumne ist schon fertig – das Stück über die lokalen Kaviar-Lounges – und ich könnte die Kritik für diese Woche noch heute Abend raushauen. Unter diesen Umständen zurück nach Agan’s Point zu fahren muss verdammt schlimm für dich sein. Lass mich mitkommen – wenigstens die ersten paar Tage. Vielleicht mindert das den Stress ein bisschen.«
Patricia wünschte, sie könnte es zulassen – sie wollte es so gern. Aber das wäre ihm gegenüber nicht fair. In dem Hinterwäldler-Kaff fühlt er sich doch genauso unwohl wie ich. »Nein«, erklärte sie. »Du bleibst hier und machst deinen Job. Du bist der beste Restaurantkritiker dieser Zeitung. Ich kann nicht zulassen, dass du meinetwegen pausierst.«
»Aber …«
»Nein«, wiederholte sie. Dann beugte sie sich vor und flüsterte: »Aber lass uns noch großartigen Sex haben, bevor ich fahre.«
Byrons rundes Gesicht wurde kurz starr, dann zuckte er die Achseln und sagte: »Kein Problem.«
Im dämmrigen Licht des Morgens wirkte die Straße trostlos. Es sah ganz und gar nicht nach einem Sommer in der Stadt aus. Einzig ein paar dünne Sonnenstrahlen schafften es durch den Smog, der noch schlimmer werden würde, sobald die Rushhour einsetzte. Zumindest das bliebe ihr heute Morgen erspart.
Patricia kam sich sehr allein vor, als Byron ihr Gepäck in den Kofferraum des sportlichen Cadillac SRX lud. Im Dämmerlicht wirkte die aufwendige dunkelrote Lackierung des Wagens schwarz.
Byron sah sie irritiert an. »Du weißt schon, dass du massenhaft Unfälle verursachen wirst, wenn du mit offenem Verdeck fährst.«
Sie erwiderte seinen Blick genauso irritiert. »Was?«
»Aber ich muss zugeben, der Gedanke, dass mich die ganzen Virginia-Rednecks beneiden, gefällt mir irgendwie.«
»Byron, was redest du?«
»Dein BH. Oder sollte ich sagen, das Fehlen eines solchen?«
Sie berührte kurz ihre Brust und fuhr schockiert auf. Eigentlich trug sie fast immer einen BH und konnte sich nicht daran erinnern, dass sie an diesem Morgen beim Anziehen absichtlich darauf verzichtet hatte. Ihre üppigen Brüste unter der einfachen weißen Bluse würden auf dem Highway sicherlich alle Blicke auf sich ziehen. »Ich wollte das Verdeck sowieso zumachen, wegen der Sonne, Byron. Das eifersüchtige Sex-Monstrum in dir kann sich also entspannen. Vermutlich ist meine Schwester sowieso die Einzige, die ich heute treffe.«
»Da bin ich erleichtert«, sagte er in scherzhaftem Ton. »Glaub mir, dieses Cabrio und diese Bluse und deine Möpse würden definitiv eine Massenkarambolage auslösen.«
»Siehst du? Ich denke nur an die öffentliche Sicherheit.«
Hinter ihnen ragte hoch das Mietshaus auf. Byron lächelte. Sein spärliches Haar stand wild ab und ein Bartschatten verdunkelte sein Gesicht. »Letzte Chance. Ich könnte mich schnell umziehen und mit dir fahren.«
Sie umarmte ihn, ein bisschen zu verzweifelt vielleicht. »Nein, Schatz. Ich mache das allein und du hältst hier die Stellung. Mit Glück bin ich in einer Woche zurück.«
»Richte deiner Schwester mein Beileid aus. Ich bestelle nachher Blumen und lasse sie liefern. Oh, und ich will nicht unsensibel klingen, aber … Könntest du mir ein paar von ihren Krebsküchlein mitbringen?«
Patricia kicherte. Der Vertrieb von Krebsfleisch mochte nach einem eher wenig lukrativen Geschäft klingen, aber Judy hatte tolle Arbeit geleistet, das Familienunternehmen aufzumöbeln, nachdem Patricia ihr ein wenig Startkapital zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatte alles mit Zinsen zurückgezahlt und die Firma wuchs nach wie vor. Judy hatte ihr Ding gefunden. Die idealen Bedingungen im Wasser vor Agan’s Point ließen dort Unmengen außergewöhnlich großer Blaukrebse gedeihen, deren Fleisch so besonders süß war, dass die Restaurants des ganzen Landes sich allein der hohen Qualität wegen darum rissen. Entsprechend wuchs das Geschäft unaufhaltsam. Selbst Byron mit seiner pingeligen Einstellung gegenüber Essen musste zugeben, dass die besten Krebsküchlein, die er je gegessen hatte, die von Patricias Schwester waren. »Ich bringe dir eine Kiste mit«, versprach sie.
Die leere Straße verschluckte das gedämpfte Geräusch, mit dem Byron den Kofferraum schloss. Da fiel Patricia etwas ein: »Ich bin so ein Siebhirn. Ich hab meinen Laptop vergessen …«
»Willst du in Agan’s Point etwa arbeiten?«, fragte ihr Mann amüsiert.
»Ich will nur mit meinen Kollegen in E-Mail-Kontakt bleiben, außerdem muss ich meine Unterlagen bei mir haben, falls es einen Notfall im Büro gibt«, sagte sie und eilte zurück in die Wohnung.
Der Wert des alten, anheimelnden Steingebäudes mit den insgesamt sechs großen Wohneinheiten war in den zehn Jahren, die sie jetzt hier lebten, in die Höhe geschossen. Patricia nahm den Aufzug nach oben. Sein Summen klärte ihren Kopf und bestärkte sie in dem Beschluss, heute »nach Hause« zu fahren.
Was die Inneneinrichtung der Wohnung anging, hatte sie sich Byrons modernem, städtischem Geschmack gebeugt – man konnte es als »Post-Art-déco« bezeichnen. Das störte sie keinesfalls, besonders in Anbetracht der wenigen Zeit, die sie hier verbrachte; wie für so viele Anwälte in der Stadt fühlte sich das Büro mehr wie ein Zuhause an.
Sie durchquerte das spärlich möblierte, in hellen Farben gehaltene Wohnzimmer, um ins Schlafzimmer zu gehen – der einzige Raum der Wohnung, den sie nach ihrem Geschmack eingerichtet hatten. Schwere Wandverkleidungen, dunkle Vollholzmöbel und ein ausladendes Himmelbett. Der Kolonialstil, obgleich er aus der Mode war, hatte ihr schon immer gefallen. Sie nahm an, dass er sie an ihre Kindheit in Agan’s Point erinnerte, was merkwürdig war, denn weder mit ihrer Kindheit noch der Stadt verband sie gute Erinnerungen. Eine verschlossene, bettelarme Gemeinde, in der sie und ihre Schwester von mürrischen, lieblosen Eltern aufgezogen worden waren. Gott sei ihrer Seele gnädig, dachte sie kurz. Ihr knarrendes altes Haus auf dem Hügel war in einem ähnlichen Stil eingerichtet gewesen.
Als sie an der Kommode vorbeiging, um sich ihren Computer und die Tasche zu holen, hielt sie inne und betrachtete das gerahmte Foto von sich und ihrer Schwester, auf dem sie lächelnd auf der breiten Veranda mit dem klobigen Geländer standen. Vor dem Haus, in das sie heute zurückkehren würde. Als das Foto gemacht wurde, war sie 15 gewesen und Judy 14. Beide trugen die bescheidenen Sommerkleider, die sie in den heißen Monaten im südlichen Virginia so oft angehabt hatten. Beide hatten trotz ihrer hellen Haut und der leuchtend roten Haare keine Sommersprossen, und etwas an dem Bild ließ sie noch jünger aussehen, als sie waren. Ein Blick in eine lange vergangene Jugend. Hinter ihnen sah man die enorme Eingangstür, über deren Schwelle Patricia in drei oder vier Stunden treten würde. Sie fragte sich, was für Erinnerungen wohl dahinter warteten.
Ein anderes Bild auf der Kommode zeigte ihre Mutter und ihren Vater im Garten. Sie waren erst mit Ende 30 Eltern geworden – so spät, dass Patricia sich fragte, ob sie und Judy nicht in Wahrheit Unfälle gewesen waren. Die harte Arbeit in der Krebsfischerei hatte ihre Eltern vorzeitig altern lassen. Der Blick ihres Vaters auf dem alten Foto wirkte hart, der ihrer Mutter gelangweilt. Beide waren früh grau geworden, und genau wie auf diesem Bild hatten sie auch im echten Leben nur selten gelacht. Ein ganz profaner Verkehrsunfall hatte sie in dem Jahr das Leben gekostet, in dem Patricia das College abschloss. Sie bedauerte, dass sie nicht lange genug bei ihnen gewesen waren, um den Erfolg ihrer Töchter zu erleben. Aber dass sie auch nicht lange genug gelebt hatten, um zu sehen, wie Judy Dwayne heiratete, bedauerte sie eindeutig nicht .
Ohne nachzudenken, drehte sie das Foto zur Wand. Ihre Aufrichtigkeit in dieser Angelegenheit hatte sie immer gestört. Sie fühlte sich schuldig. Patricia hatte ihre Eltern wohl geliebt, aber besonders gemocht hatte sie sie nie. Ihre Jugend war eine endlose Reihe unschöner Episoden.
Eine neue Erinnerung überfiel sie, als sie sich gerade umwandte, um wieder nach draußen zu gehen. Du böses, gieriges Mädchen, dachte sie. Das hohe, mit Vorhängen behängte Bett, das sie mit Byron teilte, war von der ausschweifenden Orgie der letzten Nacht noch unordentlich. Vielleicht lag es am Pflaumenwein im Restaurant, überlegte sie. Da war eindeutig etwas gewesen, etwas, das sie auch jetzt noch zum Beben brachte. Byron war nicht der attraktivste Mann der Welt, aber Patricia wusste, dass es in ihrem Alter erregender war, sich beim Sex mit einem anderen Menschen wohlzufühlen, als es Muskeln, gemeißelte Kiefer oder andere Sinnbilder von Männlichkeit je sein könnten.
Sie errötete: Er hatte ihre Lust schon den ganzen Abend gespürt, und kaum dass sie zu Hause waren, hatte er ihr Kleid bis über die Hüften nach oben geschoben, ihr Höschen runtergezogen und sie zum Bett gedrängt. Er wusste, was ihr gefiel, und er hatte keine Zeit verloren, es ihr zu geben, hatte nicht mal seine eigene Kleidung ausgezogen, ehe er sich einer oralen Exkursion ihres Körpers gewidmet hatte, die mehr als eine Stunde dauerte. Erst zart und federleicht, aber nach und nach zu wilder Raserei gesteigert. Patricia kam wieder und wieder und biss sich dabei in die eigenen Knie, als wären es Äpfel. Mehrfach hatten ihre Lustschreie durch die Wohnung gehallt.
Zum Glück haben die Nachbarn nicht die Polizei gerufen, dachte sie jetzt. Dann kam ihr ein roherer Gedanke und vertiefte ihre Schuldgefühle: Letzte Nacht habe ich im Grunde das Gesicht meines Ehemanns wie einen Fahrradsattel benutzt. Und ich habe danach nicht mal was für ihn getan. Ihre Orgasmen hatten sie derart ausgelaugt, dass sie sofort eingeschlafen war …
Ich erzähle ihm ständig, dass jetzt, wo ich Partnerin bin, endlich er an der Reihe ist. Sie runzelte die Stirn. Toller Anfang, Patricia. Du bist eine selbstsüchtige Schlampe.
Sie überprüfte ihre Erscheinung ein letztes Mal im Spiegel, froh, dass ausgebleichte Jeans, Sneaker und eine alte Bluse für die Fahrt nach Hause vollkommen ausreichten. Gut, die Tatsache, dass sie keinen BH trug, überließ nur wenig der Fantasie, aber das kümmerte sie nicht. Vielleicht hab ich absichtlich keinen angezogen und es nur nicht gemerkt, überlegte sie. Immerhin würden ihre Brüste, die den Stoff der Bluse ausbeulten, und die dunklen Umrisse ihrer Nippel ihrem Mann noch einen letzten erotischen Kick verschaffen, ehe sie losfuhr.
Fertig, dachte sie, atmete tief ein und schaltete das Licht aus. Dann ging sie zurück nach draußen, küsste ihren liebenden Ehemann zum Abschied und machte sich auf die dreistündige Fahrt, die sie zurück ins Herz ihrer Kindheit führen würde …
… und zur unwillkommenen Erinnerung an das schreckliche Erlebnis, das ihr vor so langer Zeit zugestoßen war.