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(I)
Natürlich hatte Patricia es vergessen. Es waren immerhin fünf Jahre gewesen.
Fünf Jahre, seit sie zuletzt in Agan’s Point gewesen war.
Der Cadillac glitt ruhig und leise dahin, aber als die Stadt hinter ihr verblasste und die Highways langen, gewundenen und sehr ländlichen Straßen wichen, begann die Heimsuchung:
O Gott, Mädchen. Wie konntest du das nur zulassen?
Es waren die Worte ihres Vaters, keine Woche nach ihrem 16. Geburtstag …
Sein Blick und die Formulierung, die er gewählt hatte. Als wäre es MEINE SCHULD gewesen, dachte sie jetzt und ihre Stimmung verdüsterte sich. Als hätte ich es GEWOLLT …
In ihrem ganzen Leben war sie nicht so schlimm verletzt worden.
Sie hatte sich doch gut gefühlt, oder? Als sie losgefahren war, hatte sie sich wider Erwarten gut gefühlt, obwohl sie genau wusste, wohin sie unterwegs war. Ihre wundervolle, gar selbstsüchtige Liebesnacht mit Byron hatte dazu beigetragen, zweifellos, dennoch hatte sie sich gut gefühlt. Zu sehen, wie die Sonne immer höher stieg, auf der Interstate 95 das Verdeck des Cadillac zu öffnen und immer weiterzufahren, all das schien ihren Kopf vom Lärm der Stadt und dem endlosen Stress der Arbeit zu befreien. Tatsächlich fühlte sich Patricia klar, neu; sie fühlte sich gereinigt. Bis …
Nach und nach sank ihre Laune. Sie wusste, was sie hier tat. Ich schiebe es auf. Aber ich KANN es nicht weiter aufschieben. Alles, was ich tun kann, ist rumzutrödeln und Zeit zu verschwenden.
Sie hatte das historische Viertel in Richmond durchquert und eine Stunde damit verbracht, ein Café zu suchen, in dem sie frühstücken konnte. Dasselbe in Norfolk, als es ums Mittagessen ging. Sie hatte die dreistündige Fahrt in einen Tagestrip verwandelt, als würde es ihr Unwohlsein mildern, wenn sie später in Agan’s Point ankam. Aber sie wusste, dass dem nicht so war. Ich quäle mich doch nur selbst, dachte sie.
Stunden später tauchten die ersten vertrauten Straßenschilder auf. Sie zeigten an, dass sie weniger vor ihrem anstrengenden Leben in Washington davonfuhr als vielmehr etwas sehr viel Anstrengenderem entgegen . Auf der wenig befahrenen Route 10 flogen die Schilder nur so an ihr vorbei. Orte mit Namen wie Benn’s Church, Rescue oder Chuckatuck. Ihre Laune verschlechterte sich zusehends.
DISMAL SWAMP – 10 MEILEN stand auf einem Schild.
Dann folgten mehr Schilder mit noch seltsameren Bezeichnungen:
LUNTVILLE – 6 MEILEN
CRICK CITY – 11 MEILEN
MOYOK – 30 MEILEN
Mein Gott, dachte Patricia.
Übelkeit stieg in ihr auf, und mit der Übelkeit kam eine Erinnerung. Sie hatte schon ewig nicht mehr an den Psychologen gedacht, einen verkrampften, kahlen Mann mit tiefen Falten namens Dr. Sallee. Schließlich hatte sie ihn nur einmal gesehen, nämlich vor fünf Jahren, kurz nachdem sie von ihrem letzten Besuch in Agan’s Point zurückgekehrt war und ihre Verzweiflung nicht mehr hatte ertragen können.
»Wir begraben Traumata«, hatte er ihr erklärt. »Wir tun das auf die unterschiedlichsten Arten, aber das Ergebnis bleibt gleich. Manche Leute konfrontieren sich sofort mit ihren Traumata und vergessen sie dann, aber andere kommen besser zurecht, wenn sie sie zuerst vergessen und sich niemals mit ihnen konfrontieren, weil es einfach keinen Grund dafür gibt. Das ist es, was Sie machen, Patricia, und daran ist nichts Falsches. Es gibt keinen Grund für eine Konfrontation, weil Sie sich von den Örtlichkeiten Ihres Traumas entfernt haben.«
Die Örtlichkeiten des Traumas, dachte sie. Eine seltsame Wortwahl. Aber er hatte recht gehabt: Ich bin abgehauen, so schnell ich konnte.
»Was Ihnen zugestoßen ist, wird immer da sein«, fuhr er fort und spielte dabei mit einem Briefbeschwerer in Form einer blauen Pille mit der Aufschrift STELAZIN . »Ich bin Verhaltenstherapeut und daher nicht so frei, was meine Einschätzung der menschlichen Psyche angeht. Andere Experten würden Ihnen vielleicht raten, Ihre Traumata nicht hinter sich zu lassen, weil sie sich in Ihrer Psyche festsetzen, ohne dass Sie es merken. Das passt aber nicht zu der Art, wie wir in unserem Leben, der Gesellschaft und der Welt im Allgemeinen zu funktionieren haben.
Wenn Sie diese Funktionalität aufrechterhalten können, indem Sie schlicht nicht in Agan’s Point leben, dann haben Sie genau das Richtige getan. Ihr Trauma wird neutralisiert, unbedeutend – es wird zu etwas, das Sie nicht weiter beeinflusst. Es hat keine Bedeutung mehr für Ihr Leben und wird auch nie wieder eine haben … es sei denn, Sie lassen das zu. Sie brauchen keine Tonnen von Antidepressiva und teurer Psychotherapie, um mit Ihrem Trauma klarzukommen. Sie müssen sich nur von dem Ort fernhalten, an dem es geschehen ist. Ihr Leben jetzt gerade ist die Bestätigung dafür. Sie sind eine ausgesprochen erfolgreiche Anwältin und genießen eine erfüllende Karriere und eine wunderbare Ehe. Stimmt’s?«
Patricia breitete auf der Couch ihre Hände aus. »Ja.«
»Sie sind nicht traumatisiert von dem, was Ihnen zugestoßen ist, als Sie 16 waren, oder? Sie sind kein hoffnungsloser Psychofall; dieses Ereignis in Ihrer Vergangenheit hat Sie nicht zerstört . Diese 25 Jahre zurückliegende Tragödie überschattet nicht immer noch Ihre Existenz, oder etwa doch? Würden Sie das sagen?«
Patricia musste fast lachen. Er brachte sie dazu, sich etwas einzugestehen, das ihre nagende Verzweiflung durch frivole Heiterkeit ersetzte. »Nein, Doktor, das würde ich nicht sagen.«
Er sah sie ausdruckslos an. »Was ist also Ihr Problem?«
Sie musste zustimmen. »Sie haben recht. Ich habe überhaupt kein Problem mehr.«
Er hob einen Finger. »Nähe zum Auslöser Ihres Traumas ist Ihr einziges Problem. Wann immer Sie nach Agan’s Point zurückkehren, wird auch Ihre Verzweiflung zurückkehren. Wenn Sie allerdings nicht in Agan’s Point sind, funktioniert Ihr Geist, als hätte es das traumatische Erlebnis niemals gegeben. Wir wissen, dass das stimmt, weil jeder einzelne Aspekt Ihres Lebens es bestätigt. Lassen Sie es mich in der elaboriertesten, klinischsten Terminologie ausdrücken, die mir zur Verfügung steht, Patricia: Fuck Agan’s Point. Scheißen Sie auf Agan’s Point. Zum Teufel mit Agan’s Point. Wie klingt das?«
Jetzt lachte Patricia laut.
Zum Abschluss erklärte er: »Ihre Verzweiflung überfällt Sie erst, wenn Sie nach Agan’s Point zurückkehren. Mein professioneller Rat lautet also, dass Sie das nie wieder tun sollten. Sie müssen ja auch nicht. Sie müssen überhaupt nichts tun, was Sie nicht wollen. Wenn Sie Ihre Verwandten sehen wollen, können die ja Sie besuchen. Sie müssen nicht zu ihnen fahren. Agan’s Point ist ein Exkrement, das Sie bereits vor Jahren die Toilette hinuntergespült haben. Die Lösung dazu? Klettern Sie nicht in den Abfluss.«
Und das war es gewesen. Dr. Sallees Scharfsinn hatte ihr nicht nur einen guten Lacher beschert, sie hatte auch nur dieses eine Mal zu ihm gehen müssen, um wieder zurechtzukommen. Als sie nach der Hochzeit ihrer Schwester nach Hause gekommen war, war alles wieder über sie hereingebrochen – und zwar wirklich so wie eine überlaufende Toilette. Hier, weit weg von diesem Höllenloch … fühle ich mich klasse.
Und auch danach hatte sie sich klasse gefühlt … bis sie durch Judys Anruf erfahren hatte, dass deren Mann ermordet worden war.
Ich klettere gerade in den Abfluss, dachte sie in Erinnerung an die Metapher des Arztes, während der Caddy sie immer näher und näher heranbrachte. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Sie ist meine SCHWESTER …
Es war das Einzige, was sie tun konnte, das war ihr vollkommen klar. »Ich muss einfach das Beste draus machen«, sagte sie zu sich. »Es ist doch schon so lange her. Ich benehme mich wie ein Baby.« Das zuzugeben fiel ihr leichter als zuzugeben, dass ihr Optimismus erzwungen war.
Fast schon zu still und sanft glitt der Cadillac weitere Straßen entlang, die immer ländlicher wurden. Immer mehr Biegungen führten sie weg von ihrer urbanen Welt. Die Wildnis des südlichen Virginia war ein komplett gegensätzliches Universum – Farmen statt Wolkenkratzer und alte Pick-ups und Traktoren, die ruhige Alleen entlangratterten; ganz anders als die hektischen Verkehrsströme der Stadt. Ihre Heimat kam näher, was sie an immer verräterischeren Schildern erkannte: AGAN’S POINT KREBSKUCHEN warb ein Imbiss am Straßenrand. Dann folgte ein Lebensmittelgeschäft: WIR VERKAUFEN KREBSFLEISCH AUS AGAN’S POINT . Das Krebsfleisch, das ihre Schwester produzierte, war in der Gegend berühmt.
Irgendwann schaffte es die Landschaft, Patricias Nerven zu beruhigen, und sie lächelte sogar. Konnte sie ihr jahrzehntealtes Trauma wirklich vergessen? Vielleicht ist ja alles verblasst, hoffte sie.
AGAN’S POINT – 3 MEILEN stand auf einem weiteren Schild.
Sie straffte sich. Keine große Sache, keine große Sache. Ich bin DRÜBER WEG!
Dann suchten sie die furchtbaren Worte erneut heim. Ja, die Worte ihres eigenen Vaters …
Wie konntest du das nur zulassen?
Plötzlich stiegen Patricia Tränen in die Augen.
Sie konnte sich nicht beherrschen, wusste nicht einmal mehr, was sie tat. Ihre Sinne schwanden, als würden sie ihr entrissen. Ohne es wirklich wahrzunehmen, fuhr sie den Cadillac an den Straßenrand und stieg aus. Ihr Herz raste und Schweiß klebte ihren roten Pony an ihre Stirn. Ein Passant hätte sie für eine Verrückte gehalten, die im Wald Amok lief.
Die Tränen verschleierten ihren Blick und ihre Füße trugen sie blindlings fort vom Auto. Ein paar Minuten später fiel sie auf die Knie, blickte keuchend und schluchzend auf und bemerkte das kleinere Schild direkt an der Abzweigung zu einem schmalen Feldweg. Sie musste die Augen gegen die Tränen zusammenkneifen, damit sie das Schild lesen konnte. Unter einem nach rechts deutenden Pfeil stand ›Bowen’s Field‹.
Patricia schrie auf, übergab sich ins Gras und verlor das Bewusstsein.