(II)

Wilfrud und Ethel Hild waren die Rutengänger des Clans. Aber weder suchten sie nach Wasser noch hatten sie gegabelte Äste als Wünschelruten bei sich.

Sie hatten ihre selbst genähten Kleider abgelegt – denn nackt war es leichter, die Erdgeister zu beschwören – und standen nun wie blasse Strichfiguren im weißen Licht des Mondes. Wilfruds Bauch unter den Rippen sah aus, als würde er ihn einziehen, und Ethels Brüste wirkten schlaff. Die Weissagung erforderte dreitägiges Fasten. Da sie in letzter Zeit häufig hatten weissagen müssen, waren sie entsprechend ausgezehrt. Ihre Augen wirkten in den dünnen Gesichtern riesig – und leer in der Trance, in die sie sich versetzt hatten.

»Noch eine oder zwei Minuten«, deklamierte Everd Stanherd von der Seite. »Es braucht ein wenig, bis die Asche ihr Blut erreicht.«

Wilfrud und Ethel waren schon seit ihrer frühen Kindheit Rutengänger, und nun, 50 Jahre später, hatten sie ihre Fähigkeit – die manch einer als Hexerei bezeichnen würde – perfektioniert.

Keine gegabelten Äste. Stattdessen hatten sie den Bauch einer frisch geschlüpften Schlange aufgeschlitzt, sie ausgeweidet und ihre fadenartigen Innereien zusammen mit getrocknetem Sonnenhut, Ackerrosenöl und etwas Stoff in einem kupfernen Rauchfass verbrannt. Der Stoff entstammte einem der Oberteile der Mädchen – etwas häufig Getragenes, das nahe am Herzen lag.

Die anderen sahen zwischen den mondbeschienenen Bäumen zu, als Wilfrud und Ethel die Asche aus dem Rauchfass aßen und sich in Trance begaben. Einige trugen Anhänger aus Stein um den Hals, andere bevorzugten Lao -Beutel und einige hatten grobe Kreuze aus Tierknochen oder getrockneten Reben umgelegt. Sie alle beobachteten stumm die Zeremonie ihres unerklärlichen Glaubens.

Die Rutengänger liefen nackt durch den Wald und die Übrigen folgten. Niemand sprach. Irgendwann hielten sie auf einer kleinen Lichtung am Fluss an und deuteten in die Tiefe.

Everd war der Sawon, der Hüter des Erbes des Clans – und seiner Magie. Seine Frau Marthe stand neben ihm, als seine Stimme durch die Dunkelheit krächzte. »Grabt hier, Männer. Ihr seht ja die frische Erde.«

Sie hatten sich um ein offensichtlich vor Kurzem ausgehobenes Grab versammelt. Die jüngeren Männer hoben ihre Schaufeln, gruben und trugen so den traurigen Haufen ab. Ihre Frauen sahen ihnen dabei zu, einige weinten. Es dauerte nicht lange, bis der bleiche Körper geborgen wurde.

Marthe umklammerte den Arm ihres Mannes und brach in Tränen aus. Das Monster hat sie nicht einmal vorher umgebracht, dachte Everd und hielt seiner Frau die Augen zu. Die Hände der jungen Frau waren nach oben gestreckt. Sie hatte versucht, sich auszubuddeln, bis sie schließlich erstickt war. Ein Monster, o ja, ein Monster. Die Weizenbänder, die um ihre beiden leichenblassen Schenkel lagen, bestätigten, was sie getan hatte. Noch eine war vom rechten Weg abgekommen und hatte sich für Geld prostituiert, statt den sauberen, ehrlichen Weg des Clans zu verfolgen. Und jetzt ist Cynabelle tot. Noch eine fort, ermordet von diesem Monster.

»Zumindest wird es nun enden.« Wilfruds kummervolle Worte hallten durchs Dunkel. »Jetzt, da du dich um den seelenlosen Bastard gekümmert hast.«

»Ich bete darum, mein Freund.«

Sie hatten nicht alle gefunden, die in den letzten Monaten verschwunden waren, und vielleicht hatte Chief Sutter recht mit seiner Annahme, dass sie schlicht die Stadt verlassen hatten, um woanders ihr Glück zu suchen. Aber nicht alle . Die Rutengänger hatten noch vier weitere Leichen gefunden, begraben wie diese. Die Männer ermordet, die Frauen vergewaltigt und ermordet. Everd überließ sie nicht diesen Gräbern. Sie exhumierten sie und begruben sie erneut auf dem Gelände des Clans, in Erde, die Everd selbst gesegnet hatte.

»Ich bete darum«, wiederholte er. »Aber ich fürchte, es wird nicht so sein.«

»Das will ich nicht hören, Everd!« Ethel schrie ihren Widerspruch fast. Sie erwachte gerade aus der Trance. »Dwayne ist tot. Er hat uns gehasst, aber nun ist er tot! Es gibt keinen Grund mehr, dass noch mehr von uns …« Sie erzitterte, als sie den Leichnam der armen Cindy betrachtete. »So enden.«

»Wir fürchten, doch, Liebes«, sagte Marthe mit ihrer rauchig-sanften Stimme. »Es ist dieser Mann Felps. Everd hat es vorausgesehen.«

Der Sawon nickte. Sie alle schwiegen einen Moment, als die Clanleute Cindys Leiche hochhoben und sich damit auf den Weg zurück zu ihrem Grundstück machten. »Er will dieses Land, also lässt er uns töten. Leute erledigen das für ihn, gegen Geld.«

»Aber zu welchem Zweck? Miss Judy würde das Land niemals verkaufen.«

»Sie würde, wenn wir nicht hier wären. Sie würde, wenn wir alle wegzögen. Wenn noch mehr von uns verschwinden, wenn noch mehr von uns ermordet werden, dann werden unsere Leute Angst bekommen. Und sie werden wegziehen.«

Niemand bestritt das.

»Wir müssen es der Polizei sagen.«

»Das verstößt gegen unsere eigenen Gesetze. Und er würde sowieso nicht viel tun, um uns zu helfen. Ich habe Chief Sutter noch nicht einmal erzählt, was ich weiß. Ich lasse ihn in dem Glauben, dass ich denke, die Verschwundenen seien auf eigenen Wunsch gegangen. Wilfrud, wir kümmern uns um die Unseren, so ist es schon, so weit wir zurückdenken können. Wir werden uns niemals an Außenseiter wenden. Wir werden uns immer selbst um uns kümmern.«

Jetzt klang Wilfrud versöhnt: »Und wir können dem Himmel danken, dass du dich um Dwayne gekümmert hast …«