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(I)
Als Patricia ihre Augen öffnete, erstrahlte das Zimmer im Sonnenlicht. Sie fühlte sich ausgeschlafen und erholt, trotz der Umstände bereit für den Tag. Die Beerdigung, dachte sie. Davor hatte sie sich gefürchtet, oder nicht? Sie hatte sich davor gefürchtet, hierher zurückzukommen, aber bisher hatte sich ihre Rückkehr völlig anders dargestellt, als sie erwartet hatte.
Mir geht’s fantastisch, dachte sie, sprang aus dem breiten Bett und betrachtete sich im Spiegel über der Kommode. Und ich sehe fantastisch aus. Ihre Haut schimmerte wie das Licht, das durch die Fenster fiel, und ihre Augen wirkten lebendig, strahlend. Ihr nackter Körper war ihr nie gesünder erschienen, die Brüste schwer, aber fest, die Taille schlank, keine Spur vom Bauchansatz des mittleren Alters.
Ich verhungere, dachte sie dann. Der Duft von Kaffee und Speck wehte ins Zimmer und lockte sie. Sie schlüpfte rasch in ihren Bademantel und durchquerte dann den Flur, um duschen zu gehen. Mit einem Handtuch aus dem Wäscheschrank in der Hand öffnete sie die Badezimmertür.
Ein oberkörperfreier Ernie in Bluejeans sah sie an, eine Zahnbürste im Mundwinkel. Seine Augen weiteten sich erschrocken. »Himmel, Patricia«, murmelte er durch den Zahncreme-Schaum an seinen Lippen.
Patricia erstarrte, blinzelte und erschrak dann heftig. Mein Gott, ich bin doch fast nackt! Erst jetzt wurde ihr klar, dass ihr Bademantel weit offen stand und Ernie die komplette Frontalansicht darbot. Ihr Gesicht musste so rot anlaufen wie ihr Haar. Sie raffte den Mantel zusammen und eilte peinlich berührt zurück in ihr Zimmer.
Dort schlug sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich entsetzt dagegen. Was stimmt denn bloß nicht mit mir? Wie kann man nur so ein Idiot sein? Hatte es sie so verstört, herzukommen? Es fühlte sich nicht so an. Tatsächlich hatte sie sich ja, bis sie die Badezimmertür aufgestoßen hatte, noch gewundert, dass es ihr so gut ging und sie sich so klar fühlte. Ernie wird denken, ich sei eine Exhibitionistin!
Dann überlegte sie weiter: Vielleicht habe ich es ja absichtlich getan …
Vielleicht unterbewusst. Sie musste zugeben, dass sie ihn letzte Nacht in gewisser Weise gereizt hatte, als sie sich ohne BH vorgebeugt und ihre Schuhe aufgeschnürt hatte. Sie hatte gewusst, dass er einen Blick in ihre Bluse werfen würde … Und es war ihr recht gewesen.
Und jetzt das.
Er hat gerade alles gesehen …
Jetzt überschlugen sich ihre Gedanken. Es passiert etwas wirklich Seltsames mit mir. Seit ich wieder in der Stadt bin, bin ich geil wie sonst was. Und dann träume ich auch noch von Sex mit einem anderen, vor den Augen meines Mannes – der obszönste Traum, den ich je hatte. Ich habe im Schlaf meinen Pyjama ausgezogen und ich hatte IM TRAUM Orgasmen, und dann … Dann wache ich auf und masturbiere. Und als wäre das noch nicht genug, entblöße ich mich direkt nach dem Aufstehen vor Ernie! Was geht nur in meinem Kopf vor?
Patricia war eine sehr rationale Frau, aber das hier war einfach nur unlogisch. In Agan’s Point bin ich vergewaltigt worden. An alles Mögliche sollte ich hier denken, aber doch nicht an Sex.
Warum war das Gegenteil der Fall?
Das gute Gefühl, mit dem sie aufgewacht war, schwand. Sie wartete, bis Ernie seine Morgentoilette beendet hatte, und duschte dann schnell. Heute achtete sie darauf, auf jeden Fall einen BH zu tragen, dazu ein altes, weites Shirt mit rundem Ausschnitt und einen knöchellangen Rock aus Baumwolle. Altbackene Klamotten, in denen sie sich sehr unsexy vorkam.
Jetzt kommt der harte Teil … Sie konnte nicht den ganzen Tag hier sitzen. Was soll ich nur sagen? Und noch schlimmer: Ob er wohl Judy erzählt hat, was ich gemacht habe?
Und was würde er seinen Kumpels erzählen? Sie wusste, wie Männer redeten, wenn sie unter sich waren. Sie konnte es im Geiste regelrecht hören: Echt, Jungs, ich schwör’s bei Gott, die kam einfach rein un ’ ihr Bademantel war offen, sodass ich alles sehn konnt! Die Titten standen vor – Mann, ham mir fast ’n Auge ausgestochen! Un ’ dann dieser rote Bär? Au ja!
»Ach, bitte«, murmelte sie.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging in die Küche.
»Guten Morgen, meine liebe große Schwester!«, sagte Judy zur Begrüßung. Sie saß am Tisch und goss breit lächelnd Orangensaft ein.
»Hey, Judy«, sagte sie trübselig.
»Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Ja, alles gut …«
Ernie stand am Herd und wendete die Eier. Er blickte mit einem leichten Lächeln über die Schulter. »Morgen, Patricia.«
Sie stieß ein frustriertes Seufzen aus. »Ernie, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ach, mach dir deshalb doch keine Sorgen«, sagte er abwehrend. »Warst sicher noch müde, als du aufgestanden bist, un’ hast vergessen, dass du nich’ in deinem Haus bist. Kein Ding.«
»Worüber redet ihr zwei?«, fragte Judy.
»Ach, nichts, Judy«, sagte er schnell und wechselte dann das Thema. »Wie magst du deine Eier, Patricia? Judy mag sie auf beiden Seiten gebraten und ich nehm Spiegeleier.«
Zum Glück hat er ihr nicht erzählt, was für eine IDIOTIN ich bin. »Ich nehme auch ein Spiegelei.«
»Ernie macht die besten Eier«, sagte Judy stolz. »Er lässt sie regelrecht in Butter und Schinkenfett schwimmen.«
»Weißt du, Patricia, hier aufm Land kümmern wir uns nich’ um so ’nen Städter-Blödsinn wie Kollosteron oder wie zur Hölle das heißt.«
»Ist mir recht. Mein Cholesterinspiegel war schon immer niedrig.« Patricia setzte sich neben ihre Schwester. »Wie geht es dir?«
Judy biss in einen knusprigen Buttertoast. »Um ehrlich zu sein, geht’s mir viel besser, als ich erwartet hätte. Das liegt allein daran, dass du hier bist. Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du gekommen bist …«
»Hör auf, so zu reden.«
»Und es tut mir wirklich leid, dass ich gestern so fertig war …«
»Das ist okay, Judy.«
»Ach, ich war betrunken und verheult und hab den Großteil des Tages verschlafen. Ich schäme mich, dass ich dich so begrüßt habe.«
»Hör auf, habe ich gesagt«, befahl Patricia. Judys Stimmung war ermutigend. Sie wird heute die Asche ihres Ehemannes verstreuen. Ich hätte eigentlich gedacht, dass sie ein totales Wrack ist, aber … nun gut.
Während des Frühstücks plauderten die drei. Hauptsächlich erzählte Judy von ihrem Geschäft, welche Einheimischen gestorben waren, geheiratet hatten oder die Stadt verlassen hatten. Irgendwann entschuldigte sich Ernie, weil er vor der Beerdigung draußen noch ein paar Dinge zu erledigen hatte.
Patricia konnte ihre Augen kaum von ihm abwenden, als er nach draußen ging.
»Tja, ich fürchte, Ernie ist nie so richtig über dich hinweggekommen«, sagte Judy und nahm einen Schluck Kaffee.
Patricia grinste schief, mehr über sich selbst als wegen des Kommentars.
»Aber ich freue mich, dass du mit Byron das Leben gefunden hast, das du wirklich willst.« Judy kicherte. »Ernie ist ein attraktiver Mann, aber so gar nicht dein Typ.«
»Er wird schon noch die Richtige finden«, sagte Patricia, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. »Ich liebe Byron sehr, und ich bin sicher, dass sich das nie ändern wird.« In Gedanken jedoch ergänzte sie: Wenn ich Byron so liebe, warum hab ich dann Sexträume mit Ernie? Sie fragte sich, was ihr ehemaliger Psychologe Dr. Sallee wohl dazu sagen würde. Midlife-Crisis vermutlich …
Später gingen sie in den Garten, der in Sonnenlicht und Blütenpracht strahlte. Ab und an flog schwerfällig eine Zikade an ihnen vorbei, auf der Suche nach einem Baum, in dem sie sich verstecken konnte. Sie schlenderten den Steinweg entlang, der sich über das Gelände zog. Judy wirkte nachdenklich.
»Ich weiß, was alle glauben«, sagte sie und zupfte die kleinen gelben Blütenblätter von einem Rührmichnichtan.
»Was meinst du?«
»Alle freuen sich, dass Dwayne tot ist.«
Patricias Gedanken froren ein. Da hast du recht, dachte sie, sagte aber: »Das ist doch lächerlich.« Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihre Schwester aufmuntern konnte, ohne dass es aufgesetzt klang. »Dwayne war schwer zu durchschauen. Er war missverstanden und …« Achtung!, dachte sie. »Er hatte eine schwere Kindheit. Wenn man mit so viel Negativität aufwächst, dann hat das negative Auswirkungen.«
»O nein. Alle glauben, dass Dwayne ein schlechter Mensch war und das auch genau so wollte.« Judy packte den Arm ihrer Schwester. »Aber das war er nicht. Er war ein guter Mann. Er hat mir so sehr geholfen. Er hat mich geliebt .«
Er hat das Haus geliebt, in dem du ihn hast wohnen lassen, dachte Patricia. Er hat es geliebt, dein Essen zu essen und dein Geld auszugeben. »Ich weiß, Judy. Ich bin sicher, dass er ein guter Mann war.«
»Und die zwei, drei Mal, die er mich betrogen hat?« Judy sah sie groß an. »Das war meine eigene Schuld.«
Patricia biss die Zähne zusammen. »Judy, wie kann das denn deine …«
»Ich hab ihm keine Wahl gelassen. Eine Ehefrau hat mehr Verantwortung gegenüber ihrem Mann als nur ein Geschäft zu führen. Ich hatte nie genug Zeit für ihn. Ich war so mit der Firma beschäftigt, dass ich meine ehelichen Pflichten vernachlässigt habe.«
Patricia wollte am liebsten schreien. Dwayne hatte sicherlich mehr als »zwei, drei« Seitensprünge gehabt. »Mach dich jetzt nicht fertig deswegen«, sagte sie nur.
»Und wenn er mich geschlagen hat«, Judy schüttelte heftig den Kopf, »hatte ich das verdient.«
Jetzt musste Patricia widersprechen. »Judy, keine Frau hat das je verdient . Keine Frau sollte jemals von ihrem Mann geschlagen werden.«
»Du verstehst das nicht, Patricia. Ich weiß, dass ich ihn geärgert habe, und wenn ich trinke … Ich kann verstehen, warum er das getan hat.«
Das hier führte nirgendwohin. Sei Anwältin, befahl Patricia sich selbst. Judy ist die Klägerin und hat gerade ihren Prozess verloren. Halte dein Plädoyer. »Es mag sein, dass viele der Leute hier Dwayne nicht mochten, aber das liegt nur daran, dass ihn niemand richtig kannte. Nur du allein kanntest den echten Dwayne, Judy. Du weißt, dass er ein guter Mensch war. Du weißt, dass er ein guter Ehemann war. Er ist gestorben, bei einem schrecklichen Unfall. Das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, sein Andenken zu ehren, indem du dich nicht darum kümmerst, was andere Leute denken könnten. Erinnere dich an Dwayne als die positive Kraft in deinem Leben und erinnere dich an all das Glück, das er dir geschenkt hat.«
Patricia erstickte fast an diesen Worten, aber sie schienen zu wirken. Judys Sorge wich und sie verstummte zufrieden, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Patricia hielt ihre Hand, als sie weiter durch Blumenbeete und Hecken spazierten. Sie schämte sich für ihren nächsten Gedanken. Gott, ich bin so froh, dass dieser Ex-Knacki-Arsch tot ist. Vielleicht findet meine Schwester jetzt zur Abwechselung mal einen Mann, der gut für sie ist …
Am Ende des Pfades setzten sie sich auf eine Steinbank. In einem Vogelbad tollten Sperlinge. Um sie herum und zwischen den Bäumen stand die Luft still. Patricia erhaschte das Glitzern des Flusses, der am Stadtrand in die Bucht mündete. Es ist wirklich schön hier, dachte sie. Das Summen der Zikaden pulsierte.
»Es wird schwer … ohne Dwayne«, sagte Judy. »Ich meine die Firma und all das.«
Patricia lächelte. »Man muss einen Verlust erst mal verarbeiten, aber du schaffst das.« Ihr Ton wurde nachdrücklicher. »Deine Firma wirft zehnmal so viel Profit ab, wie Mom und Dad damals rausgeholt haben. Du bist eine erfolgreiche, eigenständige Geschäftsfrau.«
»Ach, das ist doch albern. Das Geschäft läuft nur so gut, weil du mir Geld für neue Schiffe und Ausrüstung geliehen hast.«
Sie bemitleidet sich, merkte Patricia. Das war wohl zu erwarten gewesen. Die Zukunft und die Arbeit in der Firma müssen gerade überwältigend wirken . »Judy, du hast mir das Geld doppelt so schnell zurückgezahlt, wie nötig gewesen wäre, mit Zinsen. Der Erfolg der Firma verdankt sich allein deinem Grips und deiner harten Arbeit. Du wirst das schaffen.«
Judy schien noch zu zweifeln. »Ohne Dwayne wird es so viel schwerer. Manchmal glaube ich …«
»Was?«
»Ich glaube, das habe ich dir nie erzählt. Du hast die Baustelle auf der anderen Seite des Flusses gesehen, oder?«
Patricia erinnerte sich von der Herfahrt daran. »Ja. Sieht aus wie Wohnungen an der Uferpromenade. Judy, so laufen die Dinge nun mal. Alles wird größer. Das ist gesellschaftliches Wachstum. Diese Wohnungen werden einfach nur mehr Einwohner bringen – reiche Leute übrigens –, die hier mehr Geld ausgeben. Damit wird auch dein Geschäft weiterwachsen.«
»Das weiß ich, aber ich hab dir noch nicht von dem Angebot erzählt, weil es erst vor Kurzem kam.«
»Angebot? Will jemand die Krebsfabrik kaufen?«
»Nein, das Grundstück. Die ganze Bucht. Ein Bauunternehmer. Er heißt Gordon Felps. Er will die ganze Bucht zu einem Wohnviertel machen. Eine Million für alles, und vergiss nicht, die Hälfte des Landes gehört dir, das stand in Daddys Testament. Du würdest die Hälfte des Geldes kriegen. Und es ist eine Menge Geld.«
Patricia verdrehte die Augen. Meine arme Schwester ist so ein Landei. »Judy, eine Million für dein Unternehmen und das ganze Grundstück ist nicht annähernd genug. Selbst mit drei oder vier Millionen wärst du noch dumm, zu verkaufen. Wo willst du denn hingehen, was würdest du machen? Ich weiß, dass es dir gefällt, die Firma zu leiten, das hast du oft genug gesagt.«
Judy schien ihre Zweifel zu haben. »Ich weiß, aber ich werde zu alt dafür.«
»Du bist erst 42!«, rief Patricia aus. »Was denn, willst du etwa alles verkaufen und dich zur Ruhe setzen? Das ist doch lächerlich. Warte, bis du 62 bist und alles für 20 Millionen verkaufen kannst! Dann setzt du dich zur Ruhe, Schwesterlein.« Patricia wollte noch weiterprotestieren, aber dann dachte sie einen Moment nach. Sie trauert noch. Sie wird ein paar Wochen neben sich stehen und dann wieder zur Vernunft kommen. »Und außerdem«, fuhr Patricia fort. »Was ist mit den Squattern? Man hat dir früher schon Angebote gemacht und du hast nicht verkauft. Erinnerst du dich noch, wie du mich deswegen das letzte Mal angerufen hast? Du hast gesagt, du würdest das Grundstück nie verkaufen, weil dann die Squatter vertrieben würden und nicht wissen, wo sie hinziehen sollen. Diese Leute beten dich an, sie sind wie deine Kinder. Sag jetzt bloß nicht, dass du es dir anders überlegt hast.«
»Ich weiß es nicht. Die Dinge verändern sich. Es gibt Gerüchte, die mich zum Nachdenken bringen.«
Patricia runzelte die Stirn. »Was denn für Gerüchte?«
»Na ja, dass die Squatter bösartig werden. Einige von ihnen hätten angefangen, Drogen zu nehmen, und ein paar der Mädchen verkaufen ihre Körper und so was.«
Patricia musste lachen. »Judy, der einzige Unterschied zwischen den Squattern und den Amish ist, dass die Squatter sogar noch puritanischer sind. Gegen die sind die Amish die reinsten Partylöwen.«
»Ich weiß nicht«, wiederholte ihre Schwester. »Ich glaube einfach, dass sie meinetwegen schlecht werden.«
Patricia wollte ihre Schwester am liebsten packen und schütteln. »Okay, lass mich mal zusammenfassen. Du gibst ihnen Arbeit. Du stellst ihnen mietfrei einen Platz zum Leben zur Verfügung, kostenlosen Strom und kostenloses Wasser. Wie sollen sie denn deinetwegen schlecht werden? Du bist das Beste, was ihnen passieren konnte.«
Judy tat die Überlegung mit einer Handbewegung ab. »Ich komme mir vor wie ein wohlmeinender Diktator. Klar gebe ich ihnen Arbeit, aber nur zum Mindestlohn. Die Männer fahren raus und fangen die Krebse, und die Frauen pulen sie. Es ist ausbeuterische Arbeit, und die meisten haben nur Blechhütten, in denen sie wohnen. Es spielt keine Rolle, dass ich keine Pacht für das Grundstück will. Sie leben nicht mehr als ein Gettoleben und ich halte den Köder. Die meisten von ihnen glauben, dass es gar nichts anderes gibt, dass sie nirgendwo ein besseres Leben führen können.«
Patricia zuckte die Achseln. »Für Menschen wie sie ist das vermutlich auch so. Die Squatter leben in ihrer eigenen kleinen Gesellschaft. Sie leben von ihrer Hände Arbeit und sind damit zufrieden. Sie haben keine besondere Schulbildung und keine Ausbildung. Du kannst nicht jeden retten. Alles, was zählt, ist, dass sie das Beste aus dem machen, was sie haben, und dass sie glücklich sind. Sie beten dich regelrecht an – du bist so was wie ihre Königin. Ich will damit nicht sagen, dass du nur um ihretwillen das Grundstück behalten sollst, wenn du lieber verkaufen willst. Es gibt nur keinen guten Grund dafür.
Und um Himmels willen, Judy, du hältst sie doch nicht von einem besseren Leben fern, indem du ihnen Vollbeschäftigung gibst. Wenn sie nicht hier wären, würden sie bei der Wohlfahrt anstehen und in Obdachlosenheimen wohnen. Wenn sie glauben, dass das Leben woanders besser ist, dann können sie doch gehen. Aber sie tun es nicht, denn sie wissen genau, dass das vermutlich eben nicht so ist. Es sind einfach Leute mit einfachem Leben voller Arbeit. Genau wie die Amish, genau wie die Quäker, genau wie Leute in den Appalachen. Du unterdrückst sie doch nicht, indem du sie anstellst.«
Nach diesem philosophischen Monolog war Patricia außer Atem. Außerdem war sie frustriert. Wie kommt sie nur auf so unsinnige Ideen?
Judy dachte einen Moment lang nach, dann sagte sie: »Du hast vermutlich recht. Ich bin nur seltsam drauf.«
»Du hast auch gerade viel zu viel im Kopf. Konzentrier dich einfach auf heute.«
Ein besserer Rat fiel Patricia nicht ein. Dieser Felps, dachte sie dann. Vielleicht erzählt er ihr ja diesen ganzen Unsinn. »Erzähl mir von diesem Bauunternehmer und seinem Angebot.«
»O ja, Gordon Felps. Er ist sehr erfolgreich, hat überall an der Ostküste Luxushäuser gebaut. Und er ist sehr nett.« Judy errötete und senkte den Blick auf ihre Knie. »Er wollte mich sogar ausführen, als er das erste Mal in der Stadt war. Er wusste natürlich nicht, dass ich verheiratet war, bis ich es ihm gesagt habe. Aber er ist wirklich nett.«
Patricia hatte schon das Gefühl, Falten zu kriegen, so oft, wie sie die Stirn runzelte. Sie ist so verdammt naiv, dass ich es KAUM FASSEN KANN! »Judy, du besitzt eine Menge wertvolles Land. Du musst aufpassen, wenn du Leute ›nett‹ findest, besonders wenn sie niedere Motive haben könnten. Zum Beispiel deinen Besitz für einen Bruchteil dessen zu kaufen, was er wirklich wert ist!«
Judy hörte ihr gar nicht zu. »Du wirst ihn heute bei der Beerdigung kennenlernen. Ich glaube, er und Dwayne waren Freunde. Ich hab ein paarmal gesehen, dass sie sich unterhalten haben. Sie schienen sich gut zu verstehen.«
Naiv, naiv, naiv! »Ich freue mich schon drauf, Mr. Felps zu treffen«, sagte sie. Darauf kannst du wetten.
Judy behielt ihre weiteren Gedanken für sich. Erleichtert entspannte sich Patricia in der Sonne und bewunderte die Schönheit des weitläufigen Gartens. Der Gesang der Zikaden schien jetzt aus weiterer Ferne zu kommen. Er lullte sie ein. Eine Weinschorle wäre jetzt schön, dachte sie, aber dann sah sie auf die Uhr. Noch eine Stunde, dann mussten sie sich für die Beerdigung umziehen.
Dann hörte sie … etwas.
Was ist das?
Ein schneidendes Tack, tack, tack!
Der Lärm kam näher.
»Da kommt Ernie«, sagte Judy.
Patricia blickte sich um und entdeckte Ernie, der mit freiem Oberkörper die Zürgelbaum-Büsche am Rand des Rasens mit einer Heckenschere bearbeitete.
Tack, tack, tack!
»Er macht so tolle Arbeit mit dem Garten«, bemerkte Judy mit einem schläfrigen Lächeln.
Der Anblick traf Patricia unvorbereitet. »O ja, ähm, ja, das tut er.« Ihre Konzentration lag woanders, nicht auf Ernies Arbeit an der Hecke, sondern auf Ernie.
Auf Ernies Körper.
Seine definierten Rückenmuskeln spannten sich bei jedem Schnitt mit der Schere an. Dann änderte er seine Stellung; sie konnte nun seine Brust sehen, die gut ausgebildeten Muskeln, sein Sixpack, über das der Schweiß lief. Er pausierte kurz und wischte sich mit einem geschwollenen Bizeps über die Stirn. Dann nahm er seine Arbeit wieder auf.
Ach, um Himmels willen, dachte Patricia.
Sie konnte ihren Blick kaum von ihm abwenden, von seinem wundervollen Äußeren, und ihr Geist driftete wieder zum Traum der letzten Nacht.
Der wundervolle Sex.
Patricia konnte nur den Kopf über sich schütteln. Unaufhörlich fixierte sie Ernies schweißgebadete Brust. Ich werde noch zu einem sexbesessenen Flittchen!
Das würde ein verdammt langer Tag werden.