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(I)

Sie will wohl ausschlafen, dachte Patricia. Das schien ihr nachvollziehbar. Patricia war von den Zikaden und dem Zwitschern der Finken früh geweckt worden. Auch in der letzten Nacht hatte sie das Fenster offen gelassen, ein Luxus, an den sie sich langsam gewöhnte – die kühle Nachtluft strich über ihren Körper, während sie schlief, und keine Polizeisirenen oder Krankenwagen störten wie zu Hause. Und anders als am gestrigen Morgen war sie auch nicht mit Schuldgefühlen und Scham erwacht.

Sie erinnerte sich an Ausschnitte aus eindeutig erotischen Träumen, aber dieses Mal hatten ihre Eskapaden nichts damit zu tun, dass sie vor den Augen ihres Ehemannes mit Ernie schlief. Dieses Mal waren es einfach nur Fremde gewesen, und Träume von Fremden hatten nichts mit Untreue zu tun. Nur ein paar dämliche schmutzige Träume, dachte sie. Die hat jeder. Byron auch. Ich muss deswegen kein schlechtes Gewissen haben. Das war ein guter Entschluss, um in den Tag zu starten.

Aber war sie nicht irgendwann in der Nacht aufgewacht und hatte sich vorgestellt, von einem Voyeur durchs Fenster beobachtet zu werden? Sie erinnerte sich auch daran, masturbiert zu haben, bis hin zu einem herrlichen Orgasmus, aber auch das war sicherlich nur ein Traum gewesen.

Und Träume sind völlig harmlos, ich muss mir deswegen also nicht den Kopf zerbrechen.

Nachdem sie sich angezogen hatte, bemerkte sie, dass Ernies Tür offen stand. Das Zimmer war leer. Also ging sie ins Obergeschoss, um nach Judy zu sehen, die nach wie vor fest schlief. Irgendwann gestern Abend war sie einfach umgefallen, aber jetzt, nachdem sie Dwaynes Asche offiziell in alle Winde gestreut hatte, konnte Judy vielleicht ihre Verzweiflung hinter sich lassen und sich auf die schönen Dinge in ihrem Leben konzentrieren. Das hoffe ich zumindest, dachte Patricia und schloss leise die Tür.

Statt sich Frühstück zu machen, ging sie nach draußen in den Garten. Etwas, das sie nicht genau benennen konnte, schien sie aus dem Haus zu treiben, und sie nahm an, dass es dabei um die Verdrängung dessen ging, was »Zuhause« all die Jahre für sie bedeutet hatte. Stattdessen wollte sie lieber die wunderschöne Umgebung bewundern.

Es war das genaue Gegenteil der Stadt, eine erfrischende Abwechslung zu dem, was sie tagtäglich in D. C. zu sehen bekam. Sie trat auf den gepflasterten Weg und ließ sich einen Moment lang von dem Anblick überwältigen. Der Himmel leuchtete wolkenlos blau und die Sonne strahlte. Das Gras zwischen den Blumenbeeten war so grün, dass es regelrecht zu glühen schien, und die Blumen selbst explodierten in glasklaren Rot-, Gelb- und Violetttönen. Ich schätze, dieses Mal ist es nicht so schlimm, nach Hause zu kommen, wie ich dachte … Vielleicht ließ sie ihr Trauma langsam hinter sich und widerlegte Dr. Sallees Ansicht, dass sie Agan’s Point auf jeden Fall meiden sollte.

Heiße Träume, ein unerklärlicher Ausbruch sexueller Energie und viel häufigere Masturbation als sonst? Das sah ihr gar nicht ähnlich, aber mittlerweile beunruhigte es sie weniger.

Sie streifte ihre Sandalen ab, um barfuß über den üppigen Rasen in den Garten hineinzugehen. Keine Ahnung, wohin ich gehe. Das muss ich aber auch nicht wissen, überlegte sie. Endlich mal ein Tag ohne Verpflichtungen.

Dann dachte sie: die Bucht.

Warum nicht? Sie würde den Morgen mit einem Spaziergang um die Bucht verbringen.

Das hypnotisch grüne Gras führte sie fort vom Haus und hohe Bäumen säumten ihren Weg. Die Bucht erschien ihr schöner, als sie sie in Erinnerung hatte, und auch sehr viel größer. Agan’s Point schob sich an einer Seite wie ein sattgrüner Keil in die Chesapeake Bay, während die andere Seite von einem breiten Fluss gesäumt wurde. Sie hüpfte über einige dünne Bäche voller Salamander und Kröten und fand sich auf dem Pfad wieder, der die Flussseite der Bucht markierte. Am anderen Ufer standen mehrere Bürocontainer neben den Fundamenten des Bauprojekts, das der örtlichen Wirtschaft hoffentlich das Geld neuer, gut situierter Einwohner bringen würde.

Heute jedoch schien auf der Baustelle nichts zu passieren: Die Zementmischer standen still, Traktoren und Bagger waren nicht besetzt. Aus einem der Baucontainer trat ein Mann und ging zu einem geparkten Pick-up. An den kurzen, hellblonden Haaren und dem entschlossenen Gang erkannte Patricia den Mann, den sie gestern bei der Beerdigung kennengelernt hatte, Gordon Felps, den Leiter der Baustelle.

Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll, dachte sie. Ihre Schwester fand ihn offenbar sympathisch, aber Patricias erster Eindruck war gespalten. Ein Geschäftsmann, der Judy mit Geld ihr Land abluchsen will. Mir egal, wie reich er ist – ich traue ihm nicht. Halb runzelte sie die Stirn und halb lächelte sie: Allerdings bin ich ja auch Anwältin. Ich muss niemandem trauen, denn niemand traut mir. Am anderen Flussufer hielt Gordon Felps neben seiner geöffneten Wagentür kurz inne, entdeckte sie und winkte. Patricia setzte ihr überzeugendstes falsches Lächeln auf und winkte zurück.

Über ihr krächzten die Krähen und neben dem Flussbett bemerkte sie Schmetterlinge, die auf hohen Grashalmen saßen. Hier unten beim Wasser schwirrten die immerzu hörbaren, aber selten gesehenen Zikaden in unglaublicher Zahl hin und her. Diese Fülle reinster Natur, die Patricia so lange nicht um sich gehabt hatte, überraschte sie. Im selben Moment fielen ihr die Gegensätze auf: Hier die unberührte Natur … und da drüben ein Bauprojekt . So liefen die Dinge nun mal, nahm sie an, und als Immobilienanwältin war sie daran genauso schuld wie Felps.

Mit der Sonne im Gesicht schlenderte sie weiter. Nach einer halben Meile durch den Wald erreichte sie die breiteste Stelle der Bucht – scherzhaft »Squatterville« genannt. Umgeben von Bäumen lag dort die kleine Plantage der Squatter, wenn man so sagen wollte: eine simple, aber eng beieinanderstehende Gemeinschaft von Schuppen, Blechhütten und uralten Wohnwagen. Ganz hinten erhob sich das Stanherd-Haus, das älteste Gebäude der Stadt, was man ihm auch ansah. Es entstammte der Zeit, als es in Virginia noch wirkliche Plantagen gegeben hatte, ehe sich der Staat von der Union lossagte.

Eine klapprige, umlaufende Veranda prägte die Form des Hauses mit seinen schiefen Winkeln und den hohen, spitzen Dächern. Die Wetterkapriolen eines Jahrhunderts hatten die ehemals weißen Holzwände grau gefärbt. Dachziegel, die Sturmwinde herabgeweht hatten, waren mit Zedernholzbrettern und Teer ausgebessert und die meisten Fensterläden schon vor langer Zeit vernagelt worden.

Judy hatte keine Verwendung für das Haus gehabt, also hatte sie Everd Stanherd mit seiner Frau umsonst dort einziehen lassen. Auch ein paar andere ältere Paare der Sippe lebten dort. Tatsächlich berechnete Judy keinem der Squatter Miete und auch keinen Strom – jedes Gebäude verfügte über einen Anschluss – oder Wasser und Abwasser im Gemeinschaftswaschhaus, in dem die Squatter duschen, Wasser holen und die Toilette benutzen konnten. Es war nicht viel, aber es war besser als die Sozialhilfe, und die Squatter selbst schienen ausgesprochen glücklich mit ihrem Leben zu sein, so schlicht es auch sein mochte.

Für mich sieht das sehr nach zufriedener Bescheidenheit aus, dachte sie und betrachtete versonnen die marode Siedlung. Frauen waren damit beschäftigt, die Wäsche an den langen Wäscheleinen aufzuhängen. Dabei plauderten sie und lachten. Patricia kam ins Grübeln. War es wirklich zufriedene Bescheidenheit oder nicht eher Ignoranz und Verdrängung, was sich ihr hier präsentierte? Mit einer elitären Einstellung konnte man die Squatter leicht als Angehörige einer niederen Klasse abtun, ohne Ausbildung und unfähig, jemals im Leben mehr zu erreichen. Vielleicht ist es genau diese zufriedene Bescheidenheit, die sie davon abhält, höhere Ziele anzustreben.

Das war gelinde gesagt eine idealistische Überlegung. Du bist Anwältin, Patricia, schalt sie sich. Tu nicht so, als wärst du Soziologin.

Zwischen den stillen Wohnwagen und Hütten waren keine Männer zu sehen, aber das hätte sie sich denken können: Die meisten männlichen Squatter waren jetzt auf dem Wasser und holten auf Judys Fischerbooten den Fang des Tages ein. Vermutlich ist es so wie überall, ein Geben und Nehmen, überlegte sie. Judy gibt ihnen einen Ort, an dem sie wohnen können, und sie arbeiten, damit Judys Firma Profit macht. Judy gehörten die Boote, das Grundstück, die Fabrik, das Lagerhaus und die Lieferwagen – alles. Und die Squatter bedienten es für sie.

Kinder hüpften zwischen ihren Müttern und Großmüttern herum und quietschten vor unschuldigem Überschwang bei ihrem Fangenspiel im Lakenlabyrinth der Wäscheleinen. Aus dem Wald kamen ältere Kinder mit Händen voller Wildbeeren, Kräutern, Enteneiern und sogar Kaninchen und Eichhörnchen, die sie in den handgemachten Fallen ihrer Väter gefangen hatten. Andere brachten Feuerholz, das sie gesammelt hatten; obwohl alle Hütten und Wagen über Stromanschlüsse verfügten, zogen es die Squatter häufig vor, ihre Mahlzeiten gemeinsam im Freien über Lagerfeuern und in großen Grillgruben zu kochen. Patricia hatte das Gefühl, eine geheime Gemeinschaft zu beobachten, die sämtliche Errungenschaften der modernen Welt an sich vorbeiziehen ließ, ohne sie auch nur zu bemerken. Primitiv, aber unzweifelhaft effizient, anarchisch, aber organisiert. Ein System, das funktionierte.

Sie tappte über einen schmalen Pfad den kleinen Hügel hinab. Als sie um die Ecke des Waschhauses bog, machten sich ein paar Squatter-Jungs – sie schienen zehn oder zwölf Jahre alt zu sein – in die andere Richtung davon, sobald sie sie entdeckten.

Was sollte das denn?, fragte sie sich leicht überrascht. Es war, als hätte sie sie ertappt; sie waren davongelaufen, wie Kinder es taten, wenn man sie bei einem Fehltritt erwischte. Aber was sollte das sein? Sie ging an der weiß gestrichenen Ziegelrückwand des Waschhauses entlang. Die lange, saubere Wand zeigte keinerlei Schäden. Bis auf …

Hmmm …

Doch, da war was. Sie ging näher an die Stelle heran. Was ist das? Ein Fleck an der Wand? Je näher sie kam, desto überzeugter war sie davon, etwas zu hören. Ein stetiges Rauschen.

Und Stimmen?

Patricia war sich nicht sicher.

Sie untersuchte den »Fleck«. Es war ein Loch, keinen Zentimeter breit, das jemand in den Zement zwischen zwei der Ziegelsteine gebohrt hatte.

Das Rauschen stammte von einer laufenden Dusche.

Ein Guckloch, erkannte sie. Sie legte ihr Auge an das Loch und spähte hinein. Drei Squatter-Mädchen um die 20 standen in der offenen Dusche, seiften sich ein und plauderten und kicherten. Das erklärte die flüchtenden Kinder; Patricia hatte sie dabei erwischt, wie sie die älteren Mädchen ausspionierten, und obgleich sie die Jungs nicht kannte, wussten die sicherlich, wer sie war: die Schwester der Frau, die ihnen einen Platz zum Wohnen und ihren Eltern Arbeit gab.

Zweifellos wurde dieses Guckloch schon lange für derartige Späße benutzt; getrocknete Samenspuren klebten an der Wand unter dem Loch. Sie lächelte in sich hinein. Typisch Jungs, dachte sie.

Als sie weiterging, überfiel sie Irritation. Aber weswegen? Das dröhnende Zirpen der Zikaden schwoll in ihrem Kopf an und erinnerte sie an das Rauschen der Dusche.

Gucklöcher. Spanner. Voyeure.

Natürlich war das ganz harmlos – nur ein paar Jungs kurz vor der Pubertät, die ganz normalen hormonellen Zwängen unterlagen. Was störte sie nur so daran?

Mein Traum, dachte sie dann.

Letzte Nacht hatte sie davon geträumt, dass jemand ihr nachspionierte. Sie erinnerte sich nur an Bruchstücke des Traums, das meiste lag in einem Nebel. Ich habe geträumt, dass mich jemand durchs Fenster beobachtet, dachte sie. Während ich mich selbst berührt habe. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer trat es zutage. Ihr fiel ein, wie sehr es sie angemacht hatte, dass ihr jemand zusah. Ihren Voyeur hatte sie nicht erkennen können, aber je länger sie sich beobachtet gefühlt hatte, desto erregter war sie gewesen, und schon nach kurzer Zeit hatte ihr Höhepunkt sie überwältigt.

Einzig die Reihenfolge der Geschehnisse blieb im Dunkeln. Habe ich im Schlaf masturbiert oder nachdem ich aufgewacht bin?

Vermutlich Letzteres, nahm sie an. Lag das an all den schmutzigen Träumen? Sex mit Ernie, während ihr Ehemann zusah? (Noch mehr Exhibitionismus.) Sex mit Fremden? Diese plötzliche sexuelle Übererregung, seit sie angekommen war? Insgeheim konnte sie sich all das jetzt eingestehen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so erotisch aufgeladen gewesen zu sein wie in den letzten beiden Tagen, und es erschien ihr so sinnlos. Agan’s Point stand für ihre Vergewaltigung – das Schlimmste und am wenigsten Erregende, das ihr jemals zugestoßen war. Warum also bin ich so geil, seit ich zurück bin?

Die Gedanken liefen immer weiter. Sie konnte nichts dagegen tun, bekam den Kopf nicht frei davon. Jetzt stellte sie sich vor, selbst in der Dusche der Squatter zu stehen, ganz allein und mit dem Wissen, dass ihr jemand durch das Guckloch zusah. Ein Wissen, das ihre Leidenschaft anfachte.

Die Fantasie entspann sich wie von selbst; sie sah sich nicht nur selbst nackt in dem kahlen weißen Raum stehen, sie spürte regelrecht, wie sie die Seife um und zwischen ihre Brüste rieb, dann ihren Bauch hinab und zwischen ihre Beine. Bald schon war sie in ein Gewand aus weißem Seifenschaum gehüllt, aus dem nur ihre rosa Brustwarzen und das Büschel rötlichen Schamhaares ragten. Ihr Blick fixierte das Loch in der Wand; eine ätherische Macht schien davon auszugehen wie das Totem eines Hexers. Jetzt glitten ihre Hände über ihren ganzen Körper – sie wusch sich nicht länger, sie machte vielmehr Liebe mit sich. Ihre Nerven sangen, die Brustwarzen schwollen an. Dann trat sie wieder unter den kühlen Wasserstrahl und der Schaum wurde von ihr abgewaschen und verschwand im Abfluss zwischen ihren Füßen.

Durch das Loch erkannte sie ein Auge, das nicht blinzelte …

Komm rein, sagte sie keuchend zu dem Loch und spreizte ihre Beine. Mit den Fingern dehnte sie ihr Geschlecht. Wer auch immer du bist, komm rein …

Sie schloss die Augen und wartete, verwöhnte sich dabei selbst mit den Fingern. Fast war sie am Ziel. Ihre Brüste fühlten sich heiß und riesengroß an. Das Stechen und Kribbeln zwischen ihren Beinen ließ sie fast straucheln, und dann, endlich, legten sich von hinten die großen, schwieligen Hände ihres unsichtbaren Beobachters um ihren Körper und auf ihre Brüste. Er knetete sie, und sie …

»Hey Patricia. Du bist ja früh auf.«

Die Fantasie zerplatzte wie eine Seifenblase. Vor Schreck ganz aufgebracht fuhr Patricia herum. Ernie kam in Jeans und Arbeitsstiefeln über den Rasen auf sie zu, einen Werkzeugkasten in der Hand.

»Ernie. Ich hab dich gar nicht kommen sehen«, stammelte sie.

Er hob den Kasten. »War nur kurz unterwegs. Judy hat mich nach Squatterville geschickt, um den Strom an ein paar der Hütten abzustellen.«

Patricia war noch ganz benommen. Das war der lebendigste Tagtraum, den ich je hatte! Sie hob eine Hand an ihre Kehle. Hoffentlich werde ich nicht rot … Die Fantasie hatte nicht lange genug gedauert, als dass sie das Gesicht ihres imaginären Spanners hätte erkennen können.

Hoffte sie insgeheim, dass es Ernie war?

Er lachte leise und sah sie fragend an. »Alles okay?«

»War nur in Gedanken«, murmelte sie. »Was sagst du? Du solltest den Strom ab stellen?«

»Nur bei drei der Squatter-Hütten. Es macht keinen Sinn, wenn wir Strom auf leere Wohnungen verschwenden.«

»Wie meinst du das?«

Er stellte den Werkzeugkasten ab und verschränkte die Arme. »Na ja, es hat sich nich’ viel verändert, seit du weggezogen bist. Damals warn’s noch nich’ so viele Squatter, aber anders als früher scheinen jetzt viele von ihnen wegzugehn.«

»Weggehen wie in – weg aus der Stadt?«, fragte sie.

Ernie nickte. Der Schweißfleck, der sich vorn über sein enges Shirt zog, wirkte irre sexy auf sie, genau wie sein leicht zerzaustes langes Haar, als wäre er gerade erst aufgestanden. »Drei sind letzte Woche weg, und noch acht oder zehn seit Anfang des Monats. Irgendwie komisch … oder vielleicht auch nich’. Nur weil ich so gern hier lebe, heißt das ja nich’, dass es jeder lieben muss. Du zum Beispiel.«

»Aber wo sind diese Squatter denn hingegangen?«, stellte sie die naheliegende Frage.

Ernie zuckte die Schultern. »Sie ham keine Adresse hinterlassen, wenn du das meinst. Die meisten, die weg sind, waren jünger, um die 20. Freiheitsdrang, schätz ich. Is’ ja nicht ungewöhnlich, dass junge Leute mal was andres sehen wollen.«

Nein, das ist es nicht, dachte sie.

»Ich dagegen«, fuhr Ernie fort und sein langes Haar bauschte sich in einem Windstoß. »Ich liebe es hier. Kann mir nich’ vorstellen wegzugehen. Die Stadt ist nix für mich. Ich war mal in Roanoke, das war kaum zu fassen. Die Luft hat gestunken, der Verkehr war schrecklich, alles war so teuer. Keine Ahnung, wie du’s in D. C. aushältst.«

»Es hat Vor- und Nachteile«, sagte sie. »Aber dieses Mal gefällt es mir hier tatsächlich richtig gut. Das war beim letzten Mal nicht so.«

»Ah, stimmt, das war, als Judy und Dwayne geheiratet haben. Na, das is’ ja jetzt vorbei. Ich hoff, Judy kommt bald aus ihrem Loch raus.«

»Ich auch.«

»Sie hat sich gestern Abend ganz schön volllaufen lassen, aber man hat genau gesehen – so traurig sie auch is’ –, dass sie jetzt viel weniger Sorgen und Probleme hat.«

Es tat gut, das zu hören.

»Machst du ’nen kleinen Morgenspaziergang?«, fragte er.

»Ja. Es ist so lange her, dass ich mich in der Gegend richtig umgesehen habe. Es ist so viel schöner als in meiner Erinnerung.«

»Ich muss runter zum Pier und gucken, ob die neuen Krebsfallen geliefert worden sind. Willst du mitkommen?«

»Klar«, sagte sie und folgte ihm den Pfad hinab.

Sie durchquerten verschiedene Baumgruppen und die Felder hinter Squatterville strahlten grün in der Sonne. Die Umgebung lenkte Patricia ab, aber nicht genug, um die merkwürdige sexuelle Aufladung des Tagtraums abzuschütteln. Sie lief hinter Ernie her und musste sich regelrecht zwingen, ihn nicht anzustarren: seine muskulösen, gebräunten Arme, den wohlgeformten Rücken, die kräftigen Beine. Diese verdammte Gegend ist das reinste Aphrodisiakum, dachte sie. Keine Ahnung, warum. Sie versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen, als sie Ernie weiterfolgte.

»Ich liebe den Geruch der Bucht«, sagte er. »So salzig. Sauber.«

»Mhm«, gab sie zurück und atmete tief ein.

»Nich’ so schmutzig wie überall sonst an der Küste. Herrgott, die Leute in andern Städten scheinen zu glauben, dass die Küste nur dazu da ist, dass sie ihren Müll verklappen können.«

Ja, D. C. zum Beispiel, musste Patricia ihm stumm zustimmen. Zwischen den Bäumen schimmerte nun die spiegelnd-glänzende Fläche des Wassers und am Himmel schwebten statt Finken und Krähen Seemöwen und Pieper.

Nach ein paar weiteren Minuten erreichten sie den Hafen der Stadt, wo ein Dutzend Landungsstege ins Wasser ragten. Vorn standen ein paar hölzerne Gebäude, und mehrere Squatter blickten kurz auf und nickten, ehe sie ihre Arbeit wieder aufnahmen und Taue sortierten oder Körbe stapelten. Ernie ging zu einem der Hafengebäude, schnappte sich ein Klemmbrett und zählte mehrere Dutzend nagelneue Krebsfallen, die dort aufgestapelt standen. Es handelte sich um einfache Drahtkörbe, die mit schwarzem Gummi überzogen waren, damit sie nicht rosteten. Eine zylindrische Kammer im Innern der Falle enthielt den Köder, dann wurde jeder Korb in die Bucht versenkt und mit einer Boje markiert.

Gegen vier Uhr am Morgen fuhren die Boote gemeinhin aufs Wasser, die Männer setzten ihre Fallen ab und holten dann ein paar Stunden lang Austern und Muscheln ein, ehe sie die Fallen wieder hochzogen, leerten und die Krebse nach Größe sortierten. Im Moment waren fast alle Boote ausgefahren, aber Patricia sah ein paar, die am Steg lagen – lange und breite, flache Dingis mit kleinen Motoren.

Sie ging zu Ernie, der nach wie vor die Fallen zählte. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Krebsausbeute an der Küste schlecht ist. Was macht Agan’s Point so besonders?«

Ernie zeigte aufs Meer, wo die Bucht sich mehrere Meilen weit öffnete. »Da draußen ist die Strömung zu stark, da gibt’s nich’ viele Krebse.« Dann deutete er auf eine Reihe Sandbänke, die etwa eine Meile entfernt die Wasseroberfläche durchbrachen. »Aber die Sandbänke verlangsamen die Strömung, ideal für Blaukrebse. Und dann is’ da noch ’n Frischwasserzulauf, der das Wasser kühlt und den Salzgehalt senkt. Deshalb sind die Krebse in Agan’s Point größer und schwerer als überall sonst. Es is’ der ideale Lebensraum.«

»Und warum kommen die großen kommerziellen Fischer nicht her?«

»Das lohnt nich’. Sie müssten zu weit fahren und ihre Boote sind zu groß. Das Wasser vor Agan’s Point ist zu felsig und seicht für ihre großen Schiffe. Also fahren sie lieber nach Süden und lassen uns in Ruhe. Die Squatter benutzen flache Boote, um im seichten Gewässer zu fahren, und sie holen jeden Tag genau dieselbe Menge an Körben ein, nie mehr. Der Rest der Bucht ist leer gefischt, aber Agan’s Point nich’. Die Squatter bleiben beim täglichen Fanglimit und überschreiten es nie; so haben wir immer mehr als genug Krebse. Wir verkaufen das Fleisch nur an die besseren Restaurants und Märkte im County, das ist alles. Und weil die Krebse aus Agan’s Point so viel besser schmecken als das andere Zeug, zahlen unsre Käufer auch mehr für das Pfund.«

»Warum sind sie besser?«, fragte Patricia. Sie hatte sich an die Kante des Stegs gesetzt und hielt ihre Füße in das kühle Wasser.

»Das Fleisch is’ süßer, weil der Salzgehalt perfekt ist und das Wasser kühler und sauberer is’. Ganz einfach.« Ernie legte sein Klemmbrett beiseite, offensichtlich zufrieden mit der Fallenlieferung. »Und außerdem macht die Firma höhere Profite pro Pfund, weil die Ausgaben gering sind.« Er zeigte auf einen anderen Anleger, an dem mehrere Männer neben großen Kühlboxen an Tischen saßen. »Die meisten Krebsfischer benutzen Hühnerhälse als Köder. Aber die Squatter sind keine Verschwender.«

Patricia verstand nicht; sie richtete sich ein wenig auf und musterte die Männer. Jetzt glaubte sie, Schläge zu hören … »Was machen sie?«

»Wie gesagt«, erklärte Ernie und lehnte sich gegen einen Stapel Fallen. »Die Squatter leben von dem, was das Land hergibt. Sie geben keinen Cent für Essen aus, wenn sie nich’ müssen.«

Patricia lehnte sich weiter vor, um zu erkennen, was die Männer an den Tischen taten. »Ich verstehe immer noch …«

»Die Squatter fangen nich’ nur Krebse, sondern alles. Kaninchen, Opossums, Bisamratten, Eichhörnchen. Wenn sie ihren Fang gehäutet und ausgenommen haben, hacken sie die Reste klein. Abfälle, Innereien, Krallen und Schwänze. Und das benutzen sie als Köder für die Krebse.«

Patricia erbebte, als ihr klar wurde, was die Männer machten: Sie schnitten mit Schlachtermessern die Reste und Innereien von Tieren klein und warfen die Stücke in Plastikgläser mit Löchern darin. Die Gläser wanderten anschließend in die Kühlboxen.

»Wenn die Boote morgen in See stechen, legen sie eins der Gläser in jede Falle. Das is’ der beste Köder, den man kriegen kann. Und er is’ umsonst.«

Das klang sehr praktisch – aber auch grausig. »Ich verstehe das mit den Kaninchen und Eichhörnchen – das hab ich auch oft gegessen, als ich aufgewachsen bin«, bemerkte Patricia. »Aber essen die Squatter wirklich auch Bisamratten und Opossums? «

»O ja, klar. Ich auch. Bisam ist nich’ leicht zuzubereiten, aber dann schmeckt’s wie Schinken. Und vom Opossum isst man nur das Rückenfleisch. Wenn man das richtig mariniert, schmeckt’s wie die beste und zarteste Schweinelende. Die Squatter wissen genau, wie das geht.« Er tätschelte ihre Schulter. »Du kannst das gern mal probieren. Dieses Wochenende is’ das Festessen der Squatter. Das is’, als würd man zur Kirmes gehen. Und sie fahren alle möglichen Speisen auf. Die wissen echt, wie man kocht.«

Das Wasser an ihren Füßen entspannte sie. Sie blickte auf und sah ihn stirnrunzelnd an. »Ernie, ich esse gerne mal Eichhörnchen oder Kaninchen, und Krebse sind auch okay, aber jetzt auch noch Bisam und Opossum? Wenn du mich fragst, ist das Zeug, das man von der Straße kratzt.«

»Probier’s einfach«, beharrte er. »Ich erinner mich noch gut dran, dass du immer experimentierfreudig warst.«

»So experimentierfreudig auch wieder nicht«, sagte sie. Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke, dass Ernie, solange sie so am Rand des Stegs saß und er über ihr stand, einen guten Blick auf ihr Dekolleté und vermutlich auch ihre Brustwarzen hatte, so weit, wie ihre helle Bluse geschnitten war. Auch heute trug sie keinen BH, was ihr bis jetzt gar nicht groß aufgefallen war. Aber als sie zu ihm aufblickte, um etwas zu sagen, sah er aufs Meer hinaus, nicht zu ihr.

Was macht mein Hirn denn jetzt schon wieder?, fragte sie sich. Es ist ja fast so, als wollte ich, dass er mich angafft. Wenn er es nicht tut, bin ich enttäuscht. Ich bin echt völlig durch! Dann erst wurde ihr klar, was er gerade gesagt hatte. »Du sagst, sie veranstalten ein Fest essen?«

»Ja. Jeden Monat – jeden halben Mond, was auch immer das heißen soll. Sie haben ’n paar komische Traditionen.«

Die Squatter waren bekannt für ihren Aberglauben, aber … Halber Mond? »Was feiern sie denn?«

»Das Leben, schätz ich – auf ihre Art. Natur, die Krebsfischerei, die Nahrung, die der Wald ihnen gibt. Wenn man sich’s recht überlegt, isses ’n bisschen wie unser Thanksgiving.«

Patricia stimmte dem zu. Alle Gesellschaften, auch heute noch, schienen irgendeinem Ritual zu frönen, um für den üppigen Reichtum des Landes zu danken. »Welcher Religion gehören sie eigentlich an?«, fragte sie dann. »Das habe ich nie so recht verstanden.«

»Ich hab Everd mal gefragt, und er sagte, dass sie die Natur und die Liebe anbeten oder so. Mehr hat er nich’ gesagt. Aber viele von ihnen tragen Kreuze zu dem ganzen Schnickschnack und den Steinen um ihren Hals. Vielleicht ihre eigene Art Christentum, das sie mit anderm Zeug vermischen.«

Interessant. Wie die Santería Kubas oder die Obeah der Karibik, Religionen, die alte afrikanische Magiepraktiken mit Spuren des römischen Katholizismus und des Protestantismus vermengten. Selbst der haitianische Voodoo nahm Anleihen bei der christlichen Heiligenverehrung und Ikonografie. Jetzt, da Ernie es erwähnt hatte, warf sie noch einen Blick auf die Männer, die die Köder vorbereiteten, und bemerkte, dass einer von ihnen ein Kreuz um den Hals trug, das aus kleinen Tierknochen gefertigt war.

»Schau mal dort«, sagte Ernie und zeigte auf die Bucht.

Patricia blickte aufs Wasser. Nahe einer der Sandbänke beim Eingang zur Bucht ragte ein Brett aus dem Wasser. Jemand hatte ein Kreuz darauf gemalt.

»Everd segnet die Bucht jeden Morgen«, sagte Ernie.

Patricia blickte immer noch aufs Meer. Tatsächlich standen da zwei Bretter. Das zweite steckte direkt in der Sandbank, aber darauf war kein Kreuz gezeichnet, sondern ein verschnörkeltes Muster. »Was ist mit dem anderen da?«

»So ein Glückssymbol der Sippe«, sagte Ernie. »Das weiß ich nich’ so genau.«

Wieder so ein Aberglaube, dachte Patricia.

Einer der Squatter kam zu ihnen, ein Mann in seinen Fünfzigern, mit knubbeligen Knien, einem sonnengegerbten Gesicht und dem typischen dichten, kohlschwarzen Haar der Squatter.

Er hielt einen großen Korbdeckel wie eine Kellnerin ein Serviertablett.

»Hey, Regert«, grüßte Ernie.

Regert, dachte Patricia. Komischer Name.

Der Mann hielt seinen Blick gesenkt wie ein Diener, der seinen Herrn nicht direkt ansehen darf. Das war noch so eine Sache, die Patricia immer merkwürdig erschien. »Miss Patricia, Mr. Ernie«, sagte er mit einem knappen Nicken. Er stellte den Korbdeckel auf den Tisch am Steg. »Wir haben Ihnen beiden ein Clan-Frühstück bereitet. Wir hoffen, dass es Ihnen schmeckt. Es ist ein Geschenk des Landes.«

»Das is’ sehr nett von euch, Regert«, sagte Ernie und wandte sich an Patricia. »Das is’ toll, komm und bedien dich.«

Patricia stand auf. Auf dem Tablett standen zwei Blechtassen mit Flüssigkeit und daneben ein Teller mit ausgelösten Austern und eine Schüssel mit …

Was ist das denn?, fragte sie sich. Pflaumen? Feigen?

»Kosten Sie unser selbst gebrautes Ald, Miss«, sagte Regert und reichte ihr eine der Tassen.

»Danke, Regert«, sagte sie. In dem Becher schwammen Eiswürfel in einer dünnen rosa Flüssigkeit.

Auch Ernie nahm sich einen Becher. »Man könnte das auch Highball nach Squatter-Art nennen.«

Patricia verdrehte die Augen. »Ich werde sicherlich nicht um neun Uhr am Morgen einen Cocktail trinken!«

Aber Regert antwortete ernst: »Der Clan trinkt nicht, Miss. Unsere Körper sind ein Geschenk des Himmels, Tempel unseres Geistes. Everd der Sawon sagt es, und wir befolgen sein Wort. Wir verderben unsere Körper nicht mit Alkohol, dem Elixier des Teufels.«

Patricia war belustigt. Der Kerl klingt wie ein Baptistenprediger.

»Da is’ kein Alkohol drin«, versicherte ihr auch Ernie. »Sie machen’s aus Wurzeln und Rinde und so.«

Es sah nicht besonders appetitlich aus. »Na gut, du hast gesagt, ich bin abenteuerlustig«, sagte sie und nahm einen Schluck.

Sie verzog die Lippen. Es sieht nicht lecker aus – und es schmeckt, wie es aussieht.

Ernie lachte und leerte seinen Becher auf ex. Patricia wollte Regerts Freundlichkeit nicht beleidigen, also sagte sie nur: »Es ist sehr … interessant.«

»Anfangs schmeckt es wie Kreide, aber warte einen Moment.«

Patricia würde definitiv länger warten. Nun bemerkte sie, dass Regert wie einige der anderen Squatter einen Kreuzanhänger trug, der aus kleinen Weinreben gefertigt zu sein schien, und einen dunklen Stein, der an einer zweiten Kette baumelte. Sie musste einfach fragen: »Das ist ein interessantes Kreuz, Regert. Sind Sie Christ?«

Regert nickte, immer noch ohne Blickkontakt. »Ja, Miss, der Clan glaubt an Gottes einzigen Sohn und an die Welt, die er uns geschenkt hat, und an die Erlösung, die er uns verspricht. Und an die Erde, das Wasser und das heilige Universum.«

Wenn DAS mal nichts ist, dachte Patricia und musste sich das Lachen verkneifen. Das heilige Universum?

»Und vorhin nannten Sie Everd einen – wie sagten Sie? Einen Sawon? Heißt das, er ist so etwas wie der Anführer des Clans?«

»Nein, Miss. Nur Gott ist unser Anführer. Everd ist unser Seher.«

Die Bemerkung weckte ihre Neugier. »Sie meinen wie ein Medium, ein Hellseher? Kann er die Zukunft vorhersagen?«

Plötzlich wirkte Regert wachsam, nicht mehr so beflissen, zu antworten. »Nein, Miss. Der Sawon sieht die Pfade, die Gott uns für unser Leben bereitet, und er zeigt uns diese Pfade.«

Patricia wollte ihn gerade bitten, das näher auszuführen, aber er nickte nochmals mit gesenktem Blick und entschuldigte sich: »Gottes Segen sei mit Ihnen, aber ich muss mich wieder an die Arbeit begeben, die ein Geschenk des Himmels ist.«

Und mit diesen Worten entfernte er sich.

»Danke, Regert«, rief Ernie ihm nach.

Patricia beobachtete, wie er zurück zu einem der Hafengebäude ging.

»Ja, die leben wirklich auf ihre ganz eigene Art«, kommentierte Ernie.

Patricia stimmte ihm zu. »Sie sind sehr freundliche Leute, aber …« Sie schob ihren Becher weg. »Ich KANN nicht mehr davon trinken.«

»Dann nimm wenigstens ’n paar Austern«, sagte Ernie und musterte mit strahlenden Augen den Teller. »Erinnerst du dich noch, wie wir gewettet haben, wer von uns mehr davon essen kann, als wir noch klein waren?«

Die Erinnerung rührte Patricia. »Natürlich.«

»Und du hast immer gewonnen, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ja, das hab ich wohl.« Austern, genau wie Krebse, hatte sie schon immer gern gegessen. Sie war sozusagen damit aufgewachsen. »Die sind riesig«, sagte sie mit einem Blick auf die 15 Zentimeter messenden Schalen auf dem Teller.

»Die Squatter holen jeden Morgen ’n paar Körbe rein.« Ernie schlürfte gleich drei der rohen Muscheln von ihren Schalen. »Wir verkaufen sie für zwei Dollar das Dutzend an die lokalen Händler und die verkaufen sie für vier weiter.«

Patricia schlürfte ebenfalls eine. Sie war so frisch und salzig, dass sich ihr die Zehen krümmten. »In D. C. verlangen sie im Restaurant an die 20 Dollar für ein Dutzend Austern. Und diese hier sind zehnmal so gut.« Als sie die nächste Schale anhob, um das Austernfleisch herauszuschlürfen, lief ihr der Saft über Kinn und Hals. Toll. Jetzt werde ich den ganzen Tag nach Austern riechen.

Ernie aß noch ein paar. »Hätt nie gedacht, dass es stimmt, was alle sagen.«

Die Bemerkung irritierte Patricia. Die ganze Zeit grübelte sie darüber, dass Agan’s Point einen seltsam aphrodisierenden Effekt auf sie ausübte, und jetzt erwähnte Ernie – von dem sie bereits einen Sextraum gehabt hatte – die angeblich identische Wirkung von Austern. Wollte er auf mehr hinaus? Er war jahrelang in mich verliebt, dachte sie. Und er hat nie etwas versucht. Wir haben uns nicht mal geküsst. »Ich glaube, das ist ein Ammenmärchen«, sagte sie schließlich. Die nächste Auster verschüttete mehr Saft auf ihr. »Himmel!«

»Du kleckerst mehr, als dass du isst«, sagte Ernie und lachte.

Dieses Mal lief der Saft ihr Kinn hinab und direkt in ihren Ausschnitt. Einen Augenblick lang verlor sie sich in einer Fantasie: Ernie zog ihr wortlos die Bluse aus und leckte den köstlichen Saft von ihren Brüsten. Dann stellte sie sich vor, wie sie vollkommen nackt auf dem Pier lag. Mehr und mehr Saft lief in salzigen Bächen über ihren Bauch, füllte ihren Nabel, tropfte hinab …

Und Ernie leckte alles auf.

Herrgott, dachte sie und spürte, wie sie rot wurde.

Sie hatten alle Austern gegessen und Ernie wandte sich dem letzten Snack auf dem Korbdeckel zu. »Keine Ahnung, was mit Austern is’, aber wenn du die Squatter fragst, is’ das hier das beste Aphrodisiakum der Welt.«

Patricia war dankbar für die Ablenkung. Sie musterte die Schüssel. »Feigen?«

»Nee. Das sind in Pfeffer geröstete Zikaden. Und die 17-Jahres-Viecher, die wir hier haben, sind die größten von allen. Sie wälzen sie einfach in wildem Pfeffer und frittieren sie.«

Patricia schüttelte den Kopf. »Ernie, ich werde keinesfalls JEMALS eines dieser Dinger probieren. Das ist Ungeziefer . Ich esse kein Ungeziefer

Ernie nahm eine Handvoll aus der Schüssel und kaute darauf herum. Sie knackten wie frittierte Wan-Tans. »Ah, jetzt sei mal kein Feigling. Glaub’s oder nicht, aber sie schmecken ein bisschen nach Spargel, nur knusprig.«

»Käfer schmecken nicht nach Spargel; Spargel schmeckt nach Spargel«, sagte Patricia. »Ich esse keine Käfer.«

Ernie überging ihren Einwand. »Du nimmst eine am Flügel, so.« Er hob eines der Tiere auf. »Dann ziehst du sie mit den Zähnen ab. Aber iss nich’ die Flügel. Die sind wie Draht.« Er zeigte es ihr, indem er eine weitere aß, und hielt ihr dann eine hin, direkt vor ihren Mund.

Patricia schüttelte heftig den Kopf. »Nein!«, insistierte sie und presste die Lippen fest zusammen.

»Komm schon. Wie die Squatter sagen: Das is’ Gottes Großzügigkeit. Sei kein Feigling. Es bringt dich nich’ um, mal was Neues zu probieren.«

Patricia verzog das Gesicht. Scheiße. Ich kann nicht fassen, was ich gleich tun werde, dachte sie. Dann aß sie das nach einem Kothaufen aussehende Ding aus seiner Hand. Es knirschte zwischen ihren Zähnen, schmeckte aber erstaunlicherweise interessant und absolut nicht abstoßend. »Nicht schlecht«, gab sie zu.

»Gut. Nimm noch eine.«

»Nein! Ein Käfer ist meine Obergrenze! Lass uns gehen!«

Ernie kicherte, als sie den Steg entlanggingen. Hinter ihnen glitzerte die Sonne auf dem Wasser. »Was ist das für ein Gebäude?«, fragte sie. Neben dem Steg stand ein lang gestrecktes weißes Haus. »Noch ein Waschhaus?«

»Nee, das is’ das Band.«

»Das was?«

»Das neue Gebäude fürs Ausnehmen der Krebse. Wir nennen’s das Band.«

Patricia bemerkte kleine Fenster und ein paar Klimageräte. »Sieht neu aus.«

»Drei, vier Jahre alt. Ich glaub, Judy hat mal erzählt, dass du ihr das Geld geliehen hast, um ’n paar Sachen zu reparieren. Da hat sie das bauen lassen. Du erinnerst dich doch noch an die alte Ausnehmhütte, die dein Daddy hatte, oder?«

»Ja, und jetzt, wo du’s erwähnst, es war wirklich eine Hütte«, sagte sie und dachte an das alte, baufällige, offene Gebäude. Drinnen hatten immer die Squatter-Frauen an langen Holztischen gesessen und jeden Tag das Fleisch aus den Schalen von Hunderten von Krebsen gepult. »Können wir einen Blick reinwerfen?«

»Klar. In gewisser Weise gehört’s ja dir.« Er öffnete die Metalltür, und kühle Luft wehte ihnen entgegen.

Mit einem Blick erkannte Patricia, warum man das Haus »das Band« nannte. Es ist wie ein Fließband, dachte sie.

Mehr als ein Dutzend Squatter-Frauen – von 18 bis 60 – saß an den langen Holztischen. Gekochte Krebse wurden in die Mitte des Tisches geschüttet und die Frauen schälten die stachligen, grellorangen Tiere und holten das Fleisch heraus. Jede der Frauen hatte ein kleines, stumpfes Messer, mit dem sie das weiße Fleisch aus den schmalen Öffnungen der Schalen lösen konnte. Das Fleisch landete in Plastikeimern, die jeweils ein Pfund aufnahmen. Wenn sie voll waren, trug ein jüngeres Mädchen sie in einen Kühlraum. Ein weiteres Mädchen huschte hin und her und entsorgte die Schalenabfälle.

»Sie sind ja so schnell«, bemerkte Patricia.

Die Hände der Frauen öffneten und entfleischten jeden Krebs in wenigen Minuten.

»Sie haben viel Erfahrung«, sagte Ernie. »Ich kann auch recht schnell ’n Pfund auslösen, aber kein Vergleich zu ihnen. ’n paar unsrer Mädchen können ’nen Pfundeimer in zehn Minuten füllen. Wir haben versucht, sie zum jährlichen Krebspuler-Wettbewerb nach Maryland zu schicken, aber sie wollten nich’. Eine Schande, sie hätten garantiert gewonnen.«

»Warum wollten sie nicht?«

»Sie sagten, das sei gottlos oder so. Für sie sind die Krebse, wie alle Nahrung, eine Art Geschenk des Himmels. Man sollte daraus keinen Sport machen.«

Noch so eine schräge Ansicht, dachte Patricia.

Sie konnte sich keine ermüdendere Arbeit vorstellen. Jeden Tag Krebsfleisch auslösen? Trotzdem hätten die Frauen nicht zufriedener wirken können. Sie unterhielten sich ruhig, während ihre Hände und Finger über die Arbeit huschten. Im Hintergrund – kaum zu verstehen – murmelte ein Radio evangelikale Reden von Gott.

»Warte nur das Squatter-Festmahl ab«, versprach Ernie. »Sie haben ihre eigenen Rezepte für Krebsküchlein, Pasteten und ’ne Krebsrahmsuppe, die besser is’ als alles, was du je gegessen hast. Sogar besser als in diesen feinen Lokalen in D. C.«

Das glaubte Patricia gern, und sie konnte sich sogar vage aus ihrer Kindheit daran erinnern.

Ernie schloss die Tür und brachte sie zurück zum Pfad. »Ich schätz, wir gehen besser zurück zum Haus – also, ich sollte zumindest. Muss den Rasen mähen. Was hast du denn heute so vor?«

»Eigentlich nichts. Ich komme mit und sehe nach Judy. Dann gehe ich vielleicht in die Stadt oder mache einen Spaziergang im Wald.« Noch so ein erfrischender Aspekt ihrer Rückkehr: Es gab keinen Tagesplan. Aber sie sollte zumindest ihre E-Mails lesen und kurz in der Firma anrufen. Und Byron! Ich hab ihn schon seit anderthalb Tagen nicht mehr angerufen! Tatsächlich hatte sie seit ihrer Ankunft nur ein- oder zweimal mit ihm gesprochen. Er macht sich bestimmt Sorgen … Als sie die Taschen ihrer Shorts abklopfte, merkte sie, dass sie ihr Handy in ihrem Zimmer vergessen hatte.

Der von Bäumen umstandene Pfad wand sich bergauf; die Sonne warf durch die Äste über ihnen Hitzeflecken auf ihr Gesicht und ihre Brust.

»Da is’ noch was«, sagte Ernie, ohne stehen zu bleiben, und deutete im Vorbeigehen auf einen Baum.

Patricia hielt inne.

Wie eine grobe Dekoration war ein kleines, weiß angemaltes Brett an den Baum genagelt worden. Aber hier draußen im Wald?

Das war eigenartig. Ein einfaches, aber kunstvoll ausgeführtes Muster verzierte das Brett, ein paar Schnörkel und Striche. Auf eine ungeordnete Art wirkten sie symmetrisch.

»Noch so ein Glückssymbol?«, fragte sie.

Ernie hatte nun auch angehalten und sah zu ihr zurück. »Ja. Die findet man immer mal wieder hier im Wald. Für die Squatter sind die Wälder heilig.«

Patricia betrachtete das Muster genauer. »Das sieht sehr … ungewöhnlich aus, findest du nicht?«

»Schätze, schon«, sagte Ernie ohne großes Interesse. »Wenn du mich fragst, isses eher unheimlich als irgendwas.«

Unheimlich … Ja, das fand sie auch. Die Farbe, mit der das Muster gemalt worden war, kam ihr ebenfalls seltsam vor: bräunliches Pulver. Ist das überhaupt Farbe?, überlegte sie und berührte das Brett. Ein fast schwarzer Fleck blieb an ihrem Finger zurück. Fühlt sich nicht wie Farbe an. Eher wie Kreide.

Dann wurde ihr klar, woran sie all das erinnerte. Gestern Abend … Die Notiz, die sie im Mülleimer gefunden hatte, die für Dwayne. Sie hatte nicht mehr an das seltsame Stück Papier gedacht, das sie gefunden hatte, das Stück Papier mit dem einzelnen Wort darauf …

WENDEN .

War es ein Name? Sie könnte im Telefonbuch nachschlagen, aber … Warum? Das Ganze ging sie nichts an, warum also grübelte sie jetzt darüber? Das Wort auf dem Papier hatte ausgesehen, als wäre es mit dünner Kreide geschrieben worden, genau wie dieses Glückssymbol am Baum.

»Was machst du?«, fragte Ernie mit einem Lächeln. »Hoffst du, dass das Glück der Squatter auf dich abfärbt?«

»Vielleicht«, sagte sie und ging weiter.

Ernie hatte recht. Das Muster war … unheimlich.

Ein flacher Bach durchschnitt den Pfad, sein kristallklares Wasser plätscherte; Ernie überquerte ihn mit einem langen Schritt, dann hüpfte Patricia darüber hinweg. Sie seufzte wohlig, als ihr Geist sich leerte – ein seltener Luxus für eine Anwältin in der Großstadt –, und konzentrierte sich nur auf das Brummen der Zikaden, die murmelnden Bäche um sie herum und das gleichmäßige Knirschen von Ernies Stiefeln. Diese einzigartige Mischung von Geräuschen und Eindrücken wirkte auf sie so beruhigend wie Valium.

Ernie blieb stehen und wandte sich um. »Jetzt haben wir ’n Problem.«

»Warum?«

Noch ein Bach unterbrach den Pfad. Dieser war mehrere Meter breit und voller kantiger, algenüberwachsener Steine.

Patricia war barfuß.

»Du wirst dir an den Steinen die Füße zerschneiden«, sagte Ernie.

Patricia lachte. »Ernie, ich bin nicht die Stadt-Mimose, für die du mich zu halten scheinst. Es wird mich schon nicht umbringen, barfuß durch einen Bach zu waten.« Sie grinste und wollte einen ersten vorsichtigen Schritt auf die Steine machen. »Aber natürlich könntest du mich auch tragen.«

Sie hatte das als Scherz gemeint, aber er packte sie einfach und hob sie hoch. »Das war nur ein Witz!«, rief sie.

»Kein Ding.« Er kicherte und legte sie über seine Schulter. »Wir Landburschen sind stark. Außerdem kommt’s mir vor, als würdest du eh nich’ mehr wiegen als ’n Sack mit Erdnussschalen.«

»Du bist ein Charmeur, Ernie«, gab sie scherzhaft zurück. »Hättest du gesagt, dass ich mehr als ein Konzertflügel wiege, hätte ich gewusst, dass ich jetzt zu den Weight Watchers muss.«

Er trug sie mit Leichtigkeit, einen Arm an ihrem Rücken und den anderen unter ihren Oberschenkeln. Bei jedem seiner Schritte wippten ihre Füße in der Luft. Sie hatte den Arm fest um seine Schultern gelegt.

»Hoffentlich kommt noch ein Bach«, sagte sie, immer noch scherzend. »Dann probieren wir’s huckepack.«

»Führ mich nich’ in Versuchung.«

Das Schaukeln lullte sie ein und so legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er packte sie fester, was die Reibung zwischen ihren Beinen verstärkte – eine angenehme, aber auch aufreizende Empfindung –, und in ihrer Position rieb ihre rechte Brust an seiner.

Wurden die Rufe der Zikaden lauter? Sie fühlte sich trügerisch entspannt in seinem Arm, schaukelte, schaukelte, mit jedem Stein, auf den er trat; sie hätte jeden Moment einschlafen können. Strähnen seines langen Haares streiften ihr Gesicht. Ihr V-Ausschnitt verrutschte und sie bemerkte schlaftrunken, dass eine ihrer Brustwarzen zu sehen war.

Sie tat so, als bemerkte sie es nicht.

O Gott, stöhnte sie in Gedanken.

Das Brennen der aufgestauten Begierde und ihre gemütliche Faulheit ergaben eine merkwürdige Mixtur. Das Brummen der Zikaden füllte ihren Kopf und die schaukelnde Bewegung stimulierte ihr Geschlecht und ihre Brüste. Aber er war ganz der perfekte Gentleman; es war unmöglich, dass er ihre Brustwarze nicht registriert hatte. Sie kribbelte, fühlte sich an, als würde sie anschwellen …

»Und da sind wir. Das macht zehn Cent für die Fahrt …«

Am anderen Ufer des Baches setzte er sie ab, und sie presste sich, ohne groß nachzudenken, an ihn, griff um ihn herum, knetete seinen Hintern und küsste ihn. Es war kein freundschaftlicher Kuss. Es war ein hungriger Kuss, ein Kuss, der von einer Leidenschaft befeuert wurde, die sie nicht verstand. Ein Kuss aus dem sexuellen Verlangen heraus, das ihre Vernunft fortspülte und nur zuckende Nerven und rohe, animalische Instinkte zurückließ.

Ernie versteifte sich erschrocken und sank rückwärts gegen einen Baum, seine geöffneten Hände ausgestreckt – vielleicht aus einem moralischen Instinkt heraus: Denn auch wenn er es hier mit einer Frau zu tun hatte, in die er vor so langer Zeit verliebt gewesen war, war sie nun doch verheiratet und damit unantastbar.

Aber Patricia drängte sich nur dichter an ihn, drang mit der Zunge in seinen Mund ein und knetete seinen Hintern noch fester. Schließlich begann sich sein Widerstand aufzulösen. Sie stöhnte in seinen Mund, legte einen Arm um seine Taille und presste ihre Lenden an seine.

Patricias Gedanken rasten in einem verzweifelten Delirium. Sie saugte seine Zunge in ihren Mund. Ohne es zu merken, knöpfte sie ihre Bluse auf und entblößte ihre Brüste. Fast brutal packte sie sein langes Haar und zwang ihn tiefer.

Er legte seine Lippen um einen bereits geschwollenen Nippel und saugte daran. »Fester« war das einzige Wort, das sie herausbrachte. Sie zuckte wie jemand, der ein heißes Jucken verspürt und verzweifelt nach Erleichterung sucht – aber ihr heißes Jucken kam nicht von einem Ausschlag, sondern vielmehr von einem schmerzhaften Verlangen, roher Geilheit, die sämtliche klaren Gedanken verdrängte und einfach nur Befriedigung verlangte.

Ihr Stöhnen klang kaum noch weiblich, als ihre Fantasie vom Steg wahr wurde: Nachdem er jede Brustwarze nahezu wund gesaugt hatte, leckte er über ihren Hals, ließ seine Zunge zwischen ihre Brüste gleiten und nahm den Saft der Auster auf, mit dem sie sich bekleckert hatte.

Wieder stöhnte sie tief in ihrer Kehle. Dann nahm sie seine kräftige Hand und führte sie vorn in ihre Hose und unter den Slip, immer tiefer, damit er sie dort berührte. Ohne Zögern fuhr ihre eigene Hand zwischen seine Beine und legte die Finger um seine bereits pulsierende Erektion …

Dann wollte sie seine Hose herunterziehen und ihn zu Boden drängen, damit er sie jetzt und hier unter der strahlenden Sonne nahm.

Sie wusste nicht, was sie tat.

Sie stand völlig neben sich …

Wenn man sich diese Abkehr von ihren traditionell monogamen Werten als Gegenstand vorstellte, zerfiel dieser Gegenstand schon eine Sekunde später in tausend Scherben, als sie gerade seine Hose geöffnet hatte.

Ihre Hand erstarrte, dann riss sie die Augen weit auf und öffnete den Mund in einem stummen Schrei.

O mein Gott, o mein Gott! Was MACHE ich?

Rasch zog sie sich von ihm zurück und stolperte dabei fast über eine Wurzel.

Ernie funkelte sie an. »Was zum Teufel?«

»Es tut mir leid, es tut mir leid!«, stammelte sie. »Ich, ich, ich … kann nicht! «

Erschüttert und mit offener Hose stand er vor ihr. »Du willst mich wohl verarschen! Was zum Teufel stimmt nich’ mit dir, dass du so ’ne Scheiße abziehst?!«

Patricia sank in sich zusammen. Ihr Gesicht war vor Scham knallrot. Ungeschickt knöpfte sie ihre Bluse zu. »Es tut mir leid«, sagte sie kläglich.

»Verdammt!« Er schloss seine Jeans, eindeutig wütend. »Patricia, du kannst doch ’nen Mann nich’ dermaßen anmachen und es dir dann anders überlegen!«

»Ich weiß. Es tut mir leid«, sagte sie nochmals.

Sein Blick verfinsterte sich. »Dachteste, es würd Spaß machen, den großen, dummen Landjungen aufzugeilen und dann hängen zu lassen?«

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Tränen schossen in ihre Augen. »Nein, nein. So etwas würde ich nie tun, weder mit dir noch sonst irgendjemandem.«

»Was dann? Was zum Teufel is’ dein Problem?«

»Ich … Ich bin verheiratet …«

»Verheiratet? Ja, ich weiß, dass du verheiratet bist! Du warst auch schon vor ’ner Minute verheiratet, als du meine Hand genommen und in dein Höschen gesteckt hast! Du hast meinen Kopf gepackt und zwischen deine Brüste gedrückt! Wirkte auf mich nich’ grad, als hättest du dir da Sorgen gemacht, dass du deinen Ehemann betrügst!«

Ihre Scham steigerte sich ins Unermessliche. Sie suchte fieberhaft nach einer logischen Erwiderung, aber was an der ganzen Situation war schon logisch? Sie verstand sich selbst nicht. Ich wollte Sex mit ihm, genau hier, am helllichten Tag. Ich hatte das WIRKLICH VOR … »Ernie, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist einfach … einfach über mich gekommen.« Sie rieb sich über die Augen. »In letzter Zeit ist alles so … merkwürdig. Und ich weiß nicht, woran es liegt. Seit ich hergekommen bin. Ich bin nicht ich selbst, und ich habe keine Ahnung, was das alles soll. Die letzten paar Minuten hab ich nicht mal nachgedacht. Es war, als wäre ich gar nicht bei mir.«

»Na, du bist wirklich nich’ ganz bei dir, wenn du mit ’nem Mann so rumspielst«, murrte er. Immerhin schien seine Frustration abzuflauen. Er setzte sich an den Baumstamm und schüttelte den Kopf.

Auch Patricia war frustriert. Ihre Brüste, Nippel und Scham schienen protestierend zu pochen, als hätte ihr Geist ihren Körper betrogen. All die Lust, die sich aufgebaut und immer weiter aufgebaut hatte, kurz vor der Erfüllung gestanden hatte und nun durch diese Guillotine spontaner Moral brutal gekappt wurde. »Es tut mir wirklich leid, Ernie«, bat sie erneut um Entschuldigung.

Sein Frust löste sich in einem Lachen, als er sich langsam beruhigte. »Immerhin wissen wir’s jetzt.«

»Wissen was?«

»Dass es wahr ist, was man über Austern und frittierte Zikaden sagt.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Komm, lass uns zurückgehen. Ich verspreche auch, dich nicht zu belästigen.«

Aber Ernie war bereits aufgestanden; er schien sie gar nicht zu hören. »Was is’ das denn …« Er fixierte einen Punkt hinter dem Hügel.

»Hm?«

»Da.«

Ihr Blick folgte seinem Fingerzeig.

Der Polizeiwagen des Ortes stand mit zuckendem Blaulicht vor dem Stanherd-Haus.

»So was hab ich noch nie gesehn«, sagte Sergeant Trey, den sie im Foyer des Stanherd-Hauses trafen. Patricia war schon so lange nicht mehr in dem heruntergekommenen Plantagenhaus gewesen, dass nicht einmal jetzt Erinnerungen wachgerufen wurden. Keine der Möbel waren ausgetauscht worden, sondern immer nur repariert, und zwar so gründlich, dass sie das Gefühl hatte, durch ein Zeitloch direkt ins Jahr 1850 gereist zu sein.

»Und ich versicher Ihnen, dass weder in Squatterville noch sonst wo in Agan’s Point jemals so was passiert ist«, fuhr Trey fort. »Bis auf Dwayne letzte Woche hatten wir hier noch keinen Mord. Schon gar nich’ einfach so.«

Es waren zu viele Informationen in zu kurzer Zeit. Sie und Ernie waren zum Haus gerannt, wo ihnen Sergeant Trey mitgeteilt hatte, dass zwei der Älteren des Clans, Wilfrud und Ethel Hild, ermordet worden waren. Patricia glaubte, sich an die Namen zu erinnern, konnte ihnen aber beim besten Willen keine Gesichter zuordnen.

»Das is’ doch verrückt«, murmelte Ernie.

Das alte Haus roch nach Räucherwerk, Potpourris und selbst gezogenen Kerzen. Es war totenstill, als beobachtete sie jemand argwöhnisch. Am einen Ende des Flurs führte eine breite Holztreppe nach oben in die Dunkelheit, aber Trey brachte sie in ein Wohnzimmer mit zahlreichen Teppichläufern und einer verblassten, fein gemusterten Tapete, das vom Sonnenlicht durch staubige Bogenfenster schwach beleuchtet wurde.

»Ist niemand da?«, fragte Patricia.

»Nur Marthe«, sagte Trey.

Everds Frau, dachte Patricia. »Haben die Hilds auch hier gewohnt?«

»Ja, zusammen mit ein paar andern älteren Paaren. Die Männer sind alle noch mit den Booten draußen. Everd auch. Und die Frauen ham sich versammelt, um das Picknick zu planen, das am Wochenende stattfinden soll. Das wird jetzt kein schönes Picknick. Scheiße.«

Er führte sie weiter durch das Erdgeschoss des Hauses, das komplett in von der Sonne durchbrochener Dunkelheit lag. An den Wänden hingen seltsamerweise keinerlei Bilder, aber alle möglichen unerklärlichen Dekorationen: Blumen aus Maishülsen, Mosaike aus Austernschalen und natürlich Kreuze, von denen einige aus den Knochen kleiner Tiere gemacht zu sein schienen. In mehreren Rahmen steckten weitere der verschnörkelten Muster, die mysteriösen Glückssymbole des Clans.

Im hintersten Zimmer machte Chief Sutter Bilder mit einer Polaroidkamera und schrieb Notizen. Er sah aus, als hätte er Magenschmerzen.

»Haben Sie’s ihnen gesagt?«, fragte er Trey.

Sein Deputy nickte.

»Verdammter Mist. Morde. Ausgerechnet in Squatterville.«

Patricia runzelte irritiert die Stirn. »Chief, ich verstehe das nicht ganz. Die Hilds wurden ermordet? Wo sind dann ihre Leichen?«

»Nein, nein, sie wurden nicht hier umgebracht. Ihre Leichen wurden ein paar Meilen entfernt gefunden. Der alte Halm ist bei seinem Morgenspaziergang über sie gestolpert. Also haben Trey und ich das überprüft.« Er legte sein Notizbuch neben die Kamera und setzte sich auf ein mindestens 50 Jahre altes, großes Himmelbett. Über dem Bett hing ein violetter Stein an einem Stück rotem Garn und auf dem Nachttisch stand ein Schraubglas mit etwas, das wie eingelegte Eier aussah.

»Was ist in dem Glas?«, fragte sie. »Eier?«

»Sie nennen sie Bacheier«, erklärte Ernie. »Das sind normale Hühnereier, die sie ’n paar Monate lang in ’nem Bachbett vergraben, bis sie schwarz werden. Die sollen Krankheiten fernhalten. Noch so ’n Clan-Hokuspokus.«

»Verrottete Eier«, murmelte Sutter. »Was für eine Bande von Irren.«

»Stinkt ganz schön fies, wenn man das Glas aufmacht.«

Ekelhaft, dachte Patricia.

Der Rest des Zimmers war so spartanisch eingerichtet wie das ganze Haus: ein Korbstuhl und ein kleiner Walnussschreibtisch. Ein Schrank voller Kleider. Eine Kommode mit Klauenfüßen und ein paar Kerzen in metallenen Ständern.

Am Kopfende des Bettes hing ein Kreuz aus zusammengeklebten Eicheln und darunter noch mehr der Glückssymbole.

Die scheinen ihnen nicht besonders viel Glück gebracht zu haben.

»So eine Scheiße. Die arme Marthe sitzt völlig schockiert im Nebenzimmer.« Sutter rieb sich das breite Gesicht. »Hat kein Wort gesagt, als ich sie befragt hab. Trey, geh und sieh nach, ob sie okay ist.«

Trey nickte wieder und verließ das Zimmer.

»Sie haben Fotos gemacht«, bemerkte Patricia.

»Ja, Beweisfotos. Wir sind nur ein Kleinstadtbüro, Patricia. Wenn hier ein Kapitalverbrechen verübt wird, dann können wir einfach nur einen Bericht schreiben und alles an Beweisen sammeln, was wir finden, um das Ganze dann an den Countysheriff weiterzugeben. Die leiten dann die Untersuchung. Jetzt gerade ist der Gerichtsmediziner des Countys draußen und holt die Leichen ab.«

»Aber wenn die Hilds mehrere Meilen entfernt getötet wurden … Warum behandeln Sie dann dieses Schlafzimmer wie einen Tatort?«

»Weil’s einer ist.« Er machte eine müde Geste zum Schrank und einigen offenen Kommodenschubladen. »Die Hilds wurden umgebracht, wie’s die Drogenleute in der Stadt tun. Sind Sie zimperlich?«

»Lassen Sie’s drauf ankommen«, sagte Patricia.

»Ethel wurde nackt ausgezogen und an der Hüfte mit einer Axt halbiert. Wilfrud wurde an einen Baum gefesselt und erstochen. Und er hatte ein paar Tüten Crystal Meth in der Tasche.« Wieder deutete er auf Schrank und Kommode. »Und nun sehen Sie mal, was ich hier gefunden habe.«

Unter einigen Leinenlaken in der Kommode lagen Dutzende kleine Plastiktüten mit gelblichen Körnern und Klumpen, die wie Steinsalz aussahen.

»Crystal Meth«, sagte Sutter. »Redneck Crack. In der Stadt ist Crack die Droge der Wahl, aber hier im Hinterland? Hier isses das Zeug. Sie schniefen es, rauchen es, spritzen es – so ein Tütchen kostet ein paar Dollar in der Herstellung und wird für 20 verkauft. Es ist so was wie Super-Speed, macht einen für acht Stunden high. Und es macht genauso abhängig wie Crack.«

Patricia betrachtete die Tütchen verwirrt. »Die Hilds haben dieses Zeug genommen?«

»Nicht genommen, verkauft. Zumindest sieht’s so aus. Sehen Sie das ganze andere Zeug im Schrank?«

Auf dem Boden des Schranks lag eine große Plastiktüte. Patricia öffnete sie und betrachtete den Inhalt ungläubig.

»Streichhölzer?«, fragte Ernie, als auch er hineinblickte.

In der Tüte mussten Hunderte von Streichholzbriefchen sein. Ganz normale, alltägliche Streichholzbriefchen. »Was hat das mit …«

»Das gehört zum Herstellungsprozess. Meth-Produzenten legen die Streichhölzer in irgendein Lösungsmittel, um eine bestimmte Chemikalie zu erhalten – nicht von den Streichhölzern selbst, sondern von den Reibeflächen an den Briefchen. Und dadrüber steht die Hauptzutat.«

Auf dem Regalbrett lagerten ein halbes Dutzend Flaschen mit Allergie- und Erkältungsmitteln, die man in jedem Laden ganz legal kaufen konnte.

»Sie mischen die Erkältungsmittel mit Alkohol, kochen sie und filtern sie«, erklärte Sutter. »Das wird die Basis für das Crystal Meth. Dann mischen sie das mit dem Zeug aus den Streichholzbriefchen und packen eine Art Jodverbindung dazu, dann wird das alles eingekocht und destilliert. Ich kenne das genaue Verfahren nicht, es ist ziemlich kompliziert. Aber jeder Cop der Welt kann Ihnen sagen, dass es genau das war, was Wilfrud und Ethel gemacht haben.«

»Nich’ zu glauben«, sagte Ernie. »Ich hab Wilfrud und Ethel mein ganzes Leben lang gekannt. Klar, sie waren seltsam, aber Drogendealer?«

»Nicht einfach nur Dealer«, korrigierte Sutter. »Produzenten. Es gibt immer solche und solche, Ernie, und manchmal – eigentlich sogar meistens – sind die Leute nicht das, was sie zu sein scheinen.«

Patricia wusste, dass er damit richtiglag. Manchmal veränderten sich die Menschen, wurden verdorben, und kaum etwas verdarb die Werte eines Menschen gründlicher als Armut. Aber das hier war dennoch schier unfassbar. Mit ihrer Ausbildung und all den Erfahrungen, die sie durch das Leben in der Großstadt gesammelt hatte, war Patricia überzeugt gewesen, das Wesen der Menschheit und der Welt im Allgemeinen zu kennen. Jetzt kam sie sich unwissend vor, regelrecht dumm.

Das hier war eine andere Welt als ihre.

Chief Sutter erhob sich und ging zum offenen Fenster. Seine nächsten Worte passten auf unheimliche Art zu den Gedanken, die Patricia gerade gehabt hatte. »Da draußen gibt’s eine geheime Welt, die Leute wie Sie und ich nicht sehen können oder einfach vergessen, weil sie uns nichts angeht.« Er blickte auf die Grenzen von Squatterville, den abgelegenen Teil von Judys Grundstück, auf dem sich Hütten und Wohnwagen tummelten. »Und die Welt des Crystal Meth ist direkt da draußen, direkt vor unserer Nase. In den letzten Jahren wird immer mehr von dem Zeug in unsere Gegend geschwemmt. Verdammt, gerade neulich haben Trey und ich ein paar Penner von außerhalb geschnappt, die genau dieses Zeug hier verkaufen wollten. Crystal Scheiß Meth.« Er zeigte nach draußen. »Und da können Sie sehen, warum man’s Redneck Crack nennt. Jede dieser kleinen Hütten und Trailer könnte ein Methlabor sein.«

Patricia wusste, dass sie dem Chief glauben musste; alles andere wäre naiv. Wie wird Judy reagieren, wenn sie erfährt, dass ein paar ihrer Squatter harte Drogen verkaufen?

»Sie glauben also, dass Wilfrud und Ethel von andern Drogendealern umgebracht wurden?«, fragte Ernie.

»So muss es sein«, antwortete Sutter. »So gehen diese Leute vor – echt krank. Die Machenschaften der Hilds müssen jemand anderem in die Quere gekommen sein.«

»Genau wie es in der Stadt bei den Crack-Gangs passiert.« Zumindest so viel wusste Patricia. Gerade einen Monat zuvor hatte sie in der Post gelesen, dass Drogendealer die Freundinnen von rivalisierenden Dealern entführten und zerstückelten. »In der Geschäftswelt kauft man die Konkurrenz auf, aber in der Drogenwelt tötet man die Konkurrenz.«

»Genau«, stimmte Sutter zu. »So war’s schon immer. Vermutlich sind die Hilds irgendwem auf die Zehen getreten und der hat sie aus dem Weg geschafft.«

Draußen erklang das Schlagen von Autotüren.

»Jetzt geht der Spaß los«, sagte Sutter. »Sie zwei sollten besser zu Judy gehen. Das ist der Countysheriff, und wenn der den ganzen Kram im Schrank sieht, ruft er sofort die Rauschgiftfahnder.«

»Glauben Sie, es wird Durchsuchungen in den Häusern der Squatter geben?«, fragte Patricia.

»Aber sicher. Hoffen wir, dass das hier eine einmalige Sache ist. Wenn andere Squatter mit den Hilds gemeinsame Sache gemacht haben, können wir uns alle auf was gefasst machen.«

Sutter begleitete Patricia und Ernie zurück zum Eingang. Die Tür zu einem der anderen Zimmer stand offen; drinnen befragte Sergeant Trey gerade eine völlig aufgelöste Marthe Stanherd. Die dünne Frau wirkte wie eine gebeugte Vogelscheuche, als sie ihre Antworten auf Treys Fragen flüsterte.

Wolken überm Paradies, dachte Patricia. Düstere Wolken …

Sie und Ernie gingen nach draußen. Chief Sutter würde die ankommenden County-Beamten auf den neuesten Stand bringen. Sie erklommen den Hügel – die Sonne strahlte noch immer am Himmel und die Zikaden sangen ihren Chor – und Patricia warf noch einen Blick auf die bescheidenen Hütten und Schuppen Squattervilles. Sie fragte sich, ob die brutalen Morde der letzten Nacht ein Zufall waren oder womöglich nur der Anfang.

An den Rändern von Squatterville lagen kleine, unregelmäßige Gemüsebeete, um die sich die Kinder des Clans kümmerten, hauptsächlich Frühlingszwiebeln, Sojabohnen und Rettich. Am Rand des Feldes stand eine Vogelscheuche, die Patricia sofort wieder an Marthe Stanherd denken ließ; die Puppe bestand aus alten, mit Stroh ausgestopften Kleidern und einem grinsenden Kartoffelsack-Gesicht unter einem schäbigen Hut. Das gekreuzigte Ding schien mit seinen Skeletthänden aus dünnen Zweigen nach ihnen zu greifen.

Um ihren Hals hing kein Kreuz, aber ein kleines Holzbrettchen, auf das verschnörkelte Muster gemalt waren …

»Patricia! Dem Himmel sei Dank!« Judy eilte zu ihr, als sie die Küche betrat. Trotz des vielen Schnapses, den sie letzte Nacht konsumiert hatte, und der mentalen Belastung nach der Beerdigung ihres Ehemannes wirkte Judy energiegeladen und dynamisch. Ihre gräulich-rote Mähne umfloss ihr Gesicht. »Byron hat angerufen, er ist krank vor lauter Sorge um dich! Warum hast du dich denn nicht bei ihm gemeldet?«

Die Bemerkung traf Patricia unvorbereitet. »Byron hat angerufen?«

»Ja«, antwortete Judy ernst. »Vor einer Weile. Er sagte, er habe seit gestern Nachrichten auf deinem Handy hinterlassen.«

O Gott …

Judy hob anklagend den Finger. »Wehe du vernachlässigst deinen wundervollen Ehemann!«

Ernie unterbrach sie. »Ähm, Judy, können wir bitte kurz reden? Die Polizei ist gerade im Stanherd-Haus. Letzte Nacht ist etwas passiert …«

Patricia zog sich zurück und überließ es Ernie, ihrer Schwester die schlimme Nachricht vom Mord an den Hilds zu überbringen. Zurück in ihrem Zimmer schnappte sie sich sofort ihr Handy, um Byron anzurufen.

»O Gott, ich hab mir solche Sorgen gemacht, Schatz«, sagte er sofort. »Geht es dir gut?«

»Ja, Byron, ich bin okay.«

»Ich hab dir auf die Mailbox gesprochen, aber du hast nicht zurückgerufen, also dachte ich …«

»Alles okay, Schatz«, sagte sie und kam sich vollkommen idiotisch vor. Was konnte sie als Entschuldigung vorbringen? »Hier war einfach zu viel los mit der Beerdigung und dem Empfang und all den Leuten. So viele Menschen hier erinnern sich an mich, das hatte ich irgendwie nicht erwartet.«

»Aber das war doch alles gestern, oder?«

»Nun, ja …«

»Warum hast du dann nicht heute Morgen angerufen?«

Patricia erschrak und warf einen Blick auf die Uhr: Es war fast Mittag. »Es tut mir so leid. Ich hab lang geschlafen – ich war so erschöpft. Dann bin ich spazieren gegangen, um auf Touren zu kommen. Aber ich wollte dich anrufen, sobald ich zurück bin, und jetzt bin ich gerade reingekommen.« Sie runzelte die Stirn. Das war eine Lüge. Aber wie sollte sie ihrem Ehemann erklären, dass sie ihn völlig vergessen hatte? Dass sie zwar wirklich »spazieren« gewesen war, aber eben mit einem Mann, von dem sie sexuelle Fantasien hatte und, und … und den ich im Wald regelrecht besprungen habe?

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich schätze, ich überreagiere. Ich weiß doch, wie sehr dich diese Stadt aus der Bahn wirft. Außerdem hatte ich …« Er machte eine kurze Pause. »Ach, ich bin vermutlich nur ein dicker, weinerlicher, unsicherer Trottel, aber letzte Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. Du hast mit einem anderen Mann geschlafen.«

Für die Überzeugungskraft und Spontaneität, mit der Patricia sofort ihren Kopf zurückwarf und lachte, hätte sie einen Oscar verdient. »O Byron«, sagte sie. »Manchmal machst du dich wirklich lächerlich. Es gibt in Agan’s Point nicht einen Mann, der kein Redneck-Landei mit einem zerschrammten Pick-up ist. Du könntest wenigstens träumen, dass ich mit Tom Cruise oder Johnny Depp rummache.« Trotz ihrer Widerrede dachte sie Scheiße, Scheiße, Scheiße aber auch!

Zu ihrer Erleichterung lachte jetzt auch Byron. »Ja, war wohl ein ziemlich dämlicher Traum. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht.«

Sie nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln. »Tatsächlich gab es gerade heute früh einen echten Schock. Die Polizei war hier …«

»Polizei?«

»… und offenbar sind zwei der Squatter, die auf dem Grundstück meiner Schwester wohnen, letzte Nacht umgebracht worden.«

»Was?!«, rief er aus.

»Ja, völlig verrückt. Hier wurde noch nie jemand umgebracht, und dann wird plötzlich Dwayne ermordet und jetzt das.«

»Ich will, dass du da sofort abhaust«, sagte Byron. »Das klingt, als wäre in diesem hinterwäldlerischen Kaff die Kacke mächtig am Dampfen. Steig sofort ins Auto und komm nach Hause!«

»Byron, jetzt überreagierst du wirklich . Die Polizei sagt, dass es um Drogen ging. Und auch wenn es natürlich tragisch ist und all das, ist es nichts, worüber wir uns aufregen müssen. Ein Squatter-Pärchen hat heimlich Drogen verkauft, und dann hat eine rivalisierende Gang sie umgelegt – so was eben. Es ist ja nicht so, dass ein Serienmörder Agan’s Point unsicher macht.«

»Das gefällt mir trotzdem nicht«, beharrte Byron. »Die Beerdigung ist vorbei, es gibt also keinen Grund, warum du dortbleiben solltest. Du hasst die Stadt doch sowieso.«

»Byron, ich bin in erster Linie hergefahren, um meiner hochgradig labilen und alkoholkranken Schwester in dieser schweren Zeit beizustehen. Ich komme nächste Woche, wie wir es ausgemacht haben.«

»Na gut. Aber das gefällt mir immer noch nicht. Ruf mich an, wenn …«

»Das werde ich, Schatz«, versprach sie. »Der Trubel ist jetzt vorbei, es wird also nicht mehr so viele Ablenkungen geben. Sobald ich Judy ein bisschen aufgebaut habe, komme ich so schnell wie möglich heim.«

»Gut.« Er hielt kurz inne.

»Ich vermisse dich sehr.«

»Ich dich auch, und ich liebe dich. Du bist erst seit ein paar Tagen weg, und ich merke schon, wie wichtig du mir bist. Vermutlich zeige ich das nicht sehr oft …«

»Byron, natürlich tust du das, also hör auf, so zu reden.« Sie liebte ihn aufrichtig – mehr als alles andere – und sie wollte wieder zu ihm zurück. Die Anspannung, hier zu sein, hatte zu dem kleinen Fehltritt mit Ernie im Wald geführt; nur ein kurzfristiger Kontrollverlust. Ich liebe Byron, dachte sie. Ernie war nichts weiter als ein Mann in einer Werbekampagne, den sie zufällig bemerkt hatte.

Andererseits – so liebevoll und aufrichtig er auch war – hatte Byron in der Tat seine Momente der Unsicherheit. Er war immerhin ein übergewichtiger Mann mittleren Alters und Patricia eine nach wie vor gut gebaute, attraktive Frau. Ihr war vollkommen klar, dass es ihm von Zeit zu Zeit schwerfallen musste, damit umzugehen.

»Du musst doch nichts ›machen‹, um mir deine Liebe zu beweisen«, fuhr sie fort. »Dass du einfach du bist, ist Beweis genug. Bitte vergiss das nie. Und ich liebe dich auch, sehr. Vergiss auch das nie.«

»Werde ich nicht«, antwortete er ein wenig erstickt.

»Ich rufe heute Abend wieder an, jeden Abend, solange ich hier bin. Und ich hab’s nicht vergessen. Ich habe sogar eine Kühltasche.«

»Was?«

»Deine Agan’s-Point-Krebsküchlein, Dummkopf!«

»Sehr gut. Sobald du wieder hier bist, werde ich sie von deinem wunderschönen nackten Körper essen. Das verspreche ich dir.«

»Byron, nichts macht mich mehr an als kulinarischer Sex«, sagte sie lachend, und dann verabschiedeten sie sich unter Liebesschwüren und legten auf.

Patricia warf sich aufs Bett und seufzte tief. Nach dem Gespräch fühlte sie sowohl Erleichterung als auch Scham, keine gute Kombination. Sie hatte ihn angelogen – zwar nur Notlügen, aber trotzdem – und sich Ausreden ausgedacht. Sie hatte das Gefühl, hier etwas Wichtiges über sich zu lernen.

Es liegt nur an mir. Nicht an Byron. Mit meiner Ehe ist alles in Ordnung und mit ihm auch. Also …

Und dann war da dieser seltsame Zufall. Er hat geträumt, dass ich ihn betrüge, und ich habe geträumt, dass ich ihn betrüge. Und heute HÄTTE ich ihn fast betrogen, mit Ernie.

Spontan ging sie die Nummern im Adressbuch ihres Handys durch, stoppte bei der von Dr. Sallee, und ehe ihr bewusst wurde, was sie tat, klingelte es auch schon.

Vermutlich erinnert er sich nicht mal an mich, dachte sie. Sie war nur ein einziges Mal bei ihm gewesen, als sie und Byron nach Judys Hochzeit aus Agan’s Point zurückgekommen waren.

Die Sprechstundenhilfe nahm ab, und sie sagte: »Hi, mein Name ist Patricia White. Ich hatte vor einigen Jahren eine Sitzung bei Dr. Sallee, und jetzt wollte ich fragen, ob ich einen Termin für eine telefonische Beratung bekommen kann. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen meine Kreditkartennummer geben.«

»Ist Ihre Adresse noch dieselbe?«

»Ja.«

Sie hörte das Klappern einer Tastatur. »Ja, wir haben noch alles in der Akte.«

»Sehr schön. Könnten Sie mir dann einen Termin für ein Gespräch geben?«

»Einen Moment bitte.«

Während Patricia wartete, überlegte sie, was sie überhaupt sagen sollte, wenn sie ihren Beratungstermin hatte. Ich weiß ja nicht mal, warum ich überhaupt angerufen habe …

»Dr. Sallee ist jetzt zu sprechen«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Ich stelle Sie durch.«

»Danke.«

»Patricia White?«, fragte eine andere Stimme.

»Ja, Herr Doktor. Vermutlich erinnern Sie sich nicht an mich, aber …«

»Die Immobilienanwältin mit dem feuerroten Haar – natürlich erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«

Es schmeichelte ihr, dass er sich erinnerte. »Alles in allem geht es mir gut, aber … Ich hatte in den letzten Tagen ein paar Probleme.«

»Als Sie das letzte Mal bei mir waren, konnten wir Ihr Problem als eine Reaktion auf eine monopolare Depression eingrenzen. Sie hatten die Stadt verlassen, um zur Hochzeit Ihrer Schwester zu fahren, in einen Ort namens …«

»Agan’s Point«, half sie ihm auf die Sprünge.

»Genau, die Krebsstadt. Ihre Depression war von Erinnerungen an ein sexuelles Trauma ausgelöst worden – eine Vergewaltigung, als Sie 16 Jahre alt waren. Wir stellten fest, dass diese Depression rein örtlich getriggert wurde, und entschieden, dass sie nicht zurückkehren würde, solange Sie sich von Agan’s Point fernhielten. Da ich nie wieder von Ihnen hörte, hatte ich angenommen, dass diese Strategie funktionierte. Lag ich falsch?«

»Es hat funktioniert«, sagte sie. »Es ging mir nach unserem Gespräch gut, genau wie die ganzen fünf Jahre seitdem. Aber in den letzten paar …«

»Wo sind Sie im Moment?«, unterbrach er sie.

»Agan’s Point«, gab sie langsam zu. »Dieses Mal wegen einer Beerdigung. Der Ehemann meiner Schwester.«

Nach einer langen Pause sagte Dr. Sallee: »Das ist bedauerlich. Ihre Depression ist also zurückgekehrt …«

»Nein, das ist das Überraschende daran. Es ist eher das Gegenteil. In den Tagen, die ich jetzt in Agan’s Point verbracht habe, war ich absolut nicht depressiv. Ich fühle mich toll. Aufgedreht.«

»Seltsam«, sagte der Arzt, »aber interessant.«

Patricia suchte angestrengt nach den richtigen Worten. »Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber …«

»Sagen Sie es einfach«, schlug Dr. Sallee vor.

Die Worte kamen nur langsam: »Irgendetwas an meiner Rückkehr hat meine Libido auf eine Art gesteigert, die mir fremd ist. Das macht mir fast Angst, und ich habe das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.« Obwohl viele Meilen zwischen ihnen lagen, lief ihr Gesicht rot an. »Ich … masturbiere viel mehr als sonst und habe jede Nacht intensive erotische Träume, was für mich recht ungewöhnlich ist …«

»Erotische Träume? Masturbation? Daran ist nichts unnormal«, erklärte der Arzt. »Das sind alles Aspekte einer unterdrückten Sexualität. Nichts daran ist ungewöhnlich.«

Unterdrückte Sexualität, dachte sie. Sie schämte sich noch mehr, ihm den Rest zu erzählen. Ihre Kehle wurde eng. »Es ist mir fast unangenehm, das zu sagen …«

»Patricia«, er lachte leise. »Ich bin Ihr Therapeut. Wir sind im Grunde Fremde, ganz davon abgesehen, dass alles, was Sie mir sagen, der Schweigepflicht unterliegt. Meine Gebühren sind hoch, Sie sollten etwas für Ihr Geld kriegen. Lassen Sie mich dafür arbeiten. Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie mir genau erklären, warum Sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren.«

Das klang logisch, also gab sie es zu: »Ich habe vor etwa einer Stunde um ein Haar meinen Ehemann betrogen. So etwas kam noch nie vor. Und ich wollte es wirklich tun …«

Dr. Sallee schien absolut nicht überrascht. »Haben Sie Eheprobleme?«

»Nein«, sagte sie. »Ich führe die beste Ehe, die sich eine Frau nur wünschen kann. Mein Ehemann hat mich sexuell immer völlig befriedigt. Wir passen in jeder Hinsicht perfekt zueinander, auch sexuell – besonders sexuell.«

»War die Person, mit der Sie fast einen Seitensprung gehabt hätten, ein Fremder?«

»Nein. Es ist ein Junge – ähm, ich meine, ein Mann meines Alters –, mit dem ich aufgewachsen bin. Wir waren seit unserer Kindheit beste Freunde.«

»Gab es jemals sexuelle Begegnungen mit ihm, vor Ihrer Ehe? Eine High-School-Romanze vielleicht, Experimente, als Sie jünger waren – Doktorspiele oder Ähnliches?«

»Nein. Ich weiß, dass er es wollte, aber ich war damals nicht interessiert. Als Jugendliche war ich sehr zielorientiert, sogar noch im College.« Ernie, Ernie, Ernie, dachte sie. All die Jahre habe ich dich nie richtig bemerkt. Warum ausgerechnet jetzt? »Seit ich Agan’s Point vor mehr als 20 Jahren verlassen habe, habe ich ihn vielleicht dreimal gesehen. Aber jetzt, als ich zur Beerdigung herkam … Da ist etwas passiert. Urplötzlich finde ich ihn sehr anziehend.«

»Mhm«, antwortete der Therapeut. »Von einem medizinischen Standpunkt aus – soweit ich das sehe, zumindest – klingt das alles sehr gut.«

Die Bemerkung irritierte sie. »Gut? Ich bin völlig aufgewühlt!«

»Ich sagte, von einem medizinischen Standpunkt aus. In der Vergangenheit verfielen Sie jedes Mal in eine Depression, wenn Sie nach Agan’s Point zurückkehrten, aber jetzt sind Sie nicht depressiv. Sie fühlen sich toll – um Ihre eigenen Worte von vorhin zu verwenden. Sie sind aufgedreht . Ihre Depression ist verschwunden, das ist etwas Gutes.«

Jetzt verstand sie, was er meinte, aber das brachte sie nicht weiter. »Ja, ich bin aufgedreht. Aber ich bin auch sehr, sehr sexuell erregt …«

»So sehr, dass Sie um ein Haar untreu geworden wären«, ergänzte er. »Und das ist es, was Sie belastet.«

»Genau. Es ergibt keinen Sinn. Ich habe das Gefühl, als wäre ich krank oder so, denn …«

»Denn«, beendete er auch diesen Satz für sie, »es kommt Ihnen unpassend vor, ausgerechnet an dem Ort erotische Gefühle zu verspüren, der Sie immer an das schlimmste Trauma Ihres Lebens erinnert hat, das zufälligerweise auch noch ein sexuelles Trauma war.«

»Das ist genau das, worauf ich hinauswollte«, sagte sie und seufzte, erleichtert über seine Unterstützung.

Als er weitersprach, klang er fast gelangweilt. »In meiner Praxis hatte ich schon viele Patienten, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Wiederholte Vergewaltigung, Folter und Schlimmeres. Sie wären überrascht, wie viele Frauen sich jahre- oder sogar jahrzehntelang nicht eingestehen – nicht einmal gegenüber ihren Therapeuten –, dass sie während ihres traumatischen Erlebnisses einen Höhepunkt erlebten. Es erscheint ihnen falsch, es ist ihnen peinlich, es kommt ihnen krank vor, dass sie während einer so belastenden Tortur Freude empfanden.

In Wahrheit erlebt eine enorme Anzahl von Vergewaltigungsopfern körperliche Befriedigung, was aber nicht heißt, dass sie in irgendeiner Form krank wären. Es ist einzig ihr Körper, der auf primitive Reize reagiert. Es ist nicht krank, es ist keine Schande und auch nicht abnorm.«

Patricia dachte darüber nach. Auch sie hatte bei ihrer Vergewaltigung einen Orgasmus erlebt – ihren ersten überhaupt –, und auch sie hatte niemals jemandem davon erzählt, und zwar aus denselben Gründen, die der Arzt gerade genannt hatte. Ich hab’s nicht mal Dr. Sallee gesagt, dachte sie. Und jetzt ist wohl auch klar, warum er nie gefragt hat.

Sie bemerkte eine Träne in ihrem Augenwinkel, aber es war eine Freudenträne. »Sie ahnen nicht, was für ein gutes Gefühl mir das gibt.«

»Das freut mich«, sagte der Arzt. »Und auch Sie sollten sich freuen, über viele Dinge – zumindest wenn ich von dem ausgehe, was Sie mir gerade erzählt haben. Der Hauptanteil der Verarbeitung nach einer Vergewaltigung liegt nicht so sehr in Psychotherapie, Medikation oder Gruppengesprächen, sondern beim Individuum und seiner persönlichen Entwicklung. Es geht darum, sich mit dem Geschehenen abzufinden und damit leben zu lernen. Mit scheint, dass Sie genau das geschafft haben.«

Es war gut, das zu hören, aber es löste nicht ihr momentanes Problem. »Es kommt mir vor, als wäre ein altes Problem gelöst, aber dafür ist ein neues da.«

»Aber ist es denn ein schwerwiegendes Problem?«, fragte er, obgleich er die Antwort bereits kannte. »Hemmt es Sie? Nein. Tatsächlich hat es absolut nichts mit Ihrem alten Trauma zu tun. Ich will versuchen, es Ihnen an einem Beispiel zu erklären. Kennen Sie sich mit Computern aus?«

Bei dieser Frage runzelte sie die Stirn. »Ich denke, schon. Wir arbeiten im Büro in einem Netzwerk, und ich schätze, ich stelle mich nicht allzu blöd an.«

»Gut, dann benutze ich meinen liebsten Vergleich.« Er kicherte. »Anwälte tendieren dazu, sehr ergebnisorientiert zu denken. Sie betrachten die meisten Probleme als schwarz oder weiß. Aber das hier ist nicht so ein Fall, nicht wahr? Das menschliche Gehirn ist der komplexeste Organismus der Welt. Zehn Billionen Gehirnzellen, 100 Billionen Synapsen. Betrachten Sie es als einen Computer.

Dieser Computer wird von all Ihren Lebenserfahrungen gefüttert, guten wie schlechten. Manchmal sind die Dateien fehlerhaft, manchmal fangen sie sich einen Virus ein und müssen bereinigt werden. Eine Vergewaltigung beispielsweise kann man durchaus als infizierte Datei betrachten, eine schlechte Datei, eine Datei, die nicht mehr zu den anderen passt, mit denen sie aber laut Programmcode interagieren soll. Wenn man eine solche korrupte Datei nicht löschen kann, muss man sie in Quarantäne stecken. Aber manchmal kann man nicht einmal das tun, weil die Datei so kaputt ist.

Ihre Vergewaltigungserfahrung ist eine solche kaputte Datei, Patricia. Sie haben sie jahrelang in Quarantäne gesteckt, was auch gut funktioniert hat, aber jetzt will der Computer erneut auf diese Datei zugreifen, weil er sie für das Gesamtsystem braucht – er überschreibt die Datei. Das ist eine etwas hochtrabende Analogie, aber vielleicht hilft sie Ihnen zu verstehen. Was Ihre Vergewaltigung angeht, wurde diese Datei überschrieben; sie hat keinen negativen Einfluss mehr auf das System.«

Dr. Sallees Vergleich funktionierte, sie sah ihr Problem jetzt klarer. »Aber was ist mit …«

»Der unerklärlich gesteigerten Libido in einer nicht sexuellen Umgebung?«, vervollständigte er zum wiederholten Male ihren Satz. »Selbes Phänomen, anderes Programm. Nur dass es in diesem Fall nie eine korrumpierte Datei gab. Stellen Sie sich das eher wie eine planmäßige Wartung vor. So wie Ihr Kalender Sie zu vorgegebenen Zeiten an Meetings erinnert.« Wieder kicherte er. »Sie sind fast Mitte 40, Patricia. Die meisten Frauen erreichen dann den Höhepunkt ihrer Libido. Ihr soziales und berufliches Umfeld hat Sie geprägt – ein sehr spezielles Umfeld. So wollten Sie zum Beispiel nie Kinder haben, denn die hätten nicht in Ihren Lebensplan gepasst, und teilweise haben Sie genau deshalb Ihren Partner gewählt, weil auch er keine Kinder will.

Manche Menschen wollen vielleicht nicht, aber alle Menschen – alle Säugetiere, um genau zu sein – besitzen einen inneren Trieb, sich fortzupflanzen. Es steckt in unseren Genen, ob es uns gefällt oder nicht. Es steckt in unseren Gehirnen, unseren Computern sozusagen – es ist eines der Grundprogramme. Je älter wir werden – und das gilt insbesondere für Frauen –, läuft dieses Programm immer schneller und schneller und versucht, andere Programme auszubooten. Es versucht, die Unausweichlichkeit eines konkurrierenden Programms zu überwinden – die Menopause –, ein Programm, das zur Unfruchtbarkeit führt.

Ihr Körper weiß, dass Sie in zehn Jahren, vielleicht auch weniger, nicht mehr fähig sein werden, sich fortzupflanzen. Also steigert er Ihren Sexualtrieb, um die letzte Chance zu reproduktivem Erfolg zu nutzen. Das ist rein genetisch und läuft komplett unbewusst ab. Es existiert vollkommen unabhängig von Ihren Werten und Wünschen.

Was ich damit sagen will, Patricia, ist, dass eine unerklärliche Steigerung der Libido in Ihrem Alter vollkommen normal ist. Das hat nichts mit Ihrer Vergewaltigung zu tun, und es bedeutet auch nicht, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Es bedeutet nicht, dass Sie eine Schlampe oder eine Betrügerin oder eine falsche Schlange sind. Es bedeutet einfach nur, dass Sie eine gesunde Frau mittleren Alters sind.

Ihr ganzes Erwachsenenleben lang waren Sie in allem, was Sie getan haben, überragend, und Sie hatten sich immer vollständig unter Kontrolle. Das haben Sie immer noch. Was Ihnen jetzt passiert, liegt schlicht daran, dass Sie an einem anderen Ort sind, weit weg von Ihrem Partner, und Ihr Unterbewusstsein ›Angriffsziele‹ für erotische Optionen auswählt. Nahezu alle Patientinnen Ihres Alters in meiner Praxis machen diese Erfahrung. Das ist normal, Patricia.

Sie werden Ihren Mann auch nicht betrügen, selbst wenn es scheint, als wollten Ihr Körper und Ihr Geist genau das. Stattdessen werden Sie schon bald wieder nach Hause fahren und vermutlich eine Menge sehr guten Sex mit Ihrem Mann haben.«

Jetzt war es Patricia, die kicherte.

Der Arzt kam zum Ende. »Bis Sie allerdings nach Hause fahren, werden Sie damit leben müssen, machen Sie sich also bereit dafür. Es ist okay zu masturbieren. Es ist okay, erotische Träume zu haben. Das ist alles Teil Ihrer Sexualität. Machen Sie sich einfach keine Sorgen darüber. Niemand kennt Sie besser als Sie selbst, Patricia. Sie wissen doch, dass Sie Ihren Ehemann nicht betrügen werden, nicht wahr?«

Jetzt konnte sie voller Selbstvertrauen antworten: »Ja.«

»In dem Fall kann ich sagen, dass es mir eine Freude war, heute mit Ihnen zu sprechen, und falls es nicht noch etwas gibt, das Sie belastet, sollten wir jetzt auflegen, damit ich Ihnen nicht fälschlicherweise therapeutische Dienste in Rechnung stellen muss, für die ich gar nichts geleistet habe.«

Der Mann war zum Brüllen. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

»Ich danke Ihnen. Dass Ihre Depression verschwunden ist, bedeutet immerhin, dass ich ein ziemlich guter Arzt bin.«

»Das sind Sie in der Tat. Einen schönen Tag noch.«

Überglücklich legte Patricia auf. Ich bin also doch keine untreue, intrigante Sexbesessene. Und er hat recht, meine Agan’s-Point-Depression ist geheilt.

Mit diesem Wissen konnte sie beruhigt den Rest des Tages begehen.

Nun, da diese Sorgen aus dem Weg geräumt waren, fielen ihr allerdings die viel ernsteren Probleme wieder ein. Judy, dachte sie. Gerade hat sie eine Tragödie überstanden, da bricht schon die nächste über sie herein: der Mord an den Hilds. Mittlerweile musste Ernie ihr alles erzählt haben, was sie darüber wussten. Patricia musste nach ihr sehen und herausfinden, wie sie die üblen Neuigkeiten aufnahm. Aber zuerst …

Sie fuhr ihren Laptop hoch und ging online. Da in ihrem Postfach keinerlei Nachrichten aus dem Büro waren, googelte sie ein wenig.

Crystal Meth, dachte sie. Natürlich hatte sie davon gehört, hier und da ein paar Informationen in den Nachrichten, aber Genaueres wusste sie darüber nicht. Sie rief die Seite der DEA auf, der Drogenbehörde.

»Entsprechend dem Betäubungsmittelgesetz hoch suchterzeugendes Betäubungsmittel der Klasse II«, las sie. »Superstimulans, das lang anhaltende Euphorie auslöst.«

Als sie bei ihrer Suche das Wort »Inhaltsstoffe« ergänzte, tauchten andere, obskurere Seiten auf. »Aktive Wirkstoffe: Pseudoephedrin.« Nie gehört, dachte sie und las weiter, um herauszufinden, dass diese Chemikalie durch einen komplizierten Destillations- und Filterungsprozess gewonnen wurde, der damit begann, dass man legale Antiallergika mit bestimmten Lösungsmitteln behandelte. Das passte zu dem Lager von Erkältungsmitteln im Schlafzimmer der Hilds.

Der nächste Hauptinhaltsstoff in der Liste war irgendeine Phosphorverbindung, noch so ein Stoff, von dem sie noch nie gehört hatte, den sie aber erkannte, als sie weiterlas: Der einfachste Weg, an diese Verbindung heranzukommen, bestand in einer weiteren komplizierten Destillation, bei der man die Reibefläche von Streichholzbriefchen verwendete. Das hat Chief Sutter auch gesagt . Daher der beeindruckende Müllsack voller Streichhölzer im Schrank der Hilds.

Kaum zu fassen, dachte sie. Die Hilds. Aber so schwer es zu glauben war, es musste stimmen. Judy würde es vermutlich auch nicht glauben, aber sie war auch recht naiv. Die Squatter sind wie ihre Kinder, sogar die älteren. Niemand würde glauben wollen, dass seine »Kinder« heimlich harte Droge herstellen.

Und jetzt waren sie auch noch von Drogendealern von außerhalb brutal ermordet worden.

Patricia las weiter. Crystal Meth war eine menschengemachte Droge; es kam in der Natur nicht vor. Selbst kleine Dosen hielten bis zu zwölf Stunden an, und auf der Straße war das Mittel recht billig: 20 Dollar pro Dosis. Die Abhängigkeitsrate lag bei fast 90 Prozent, nahe der von Crack, und wie Kokain konnte man es auf verschiedene Arten konsumieren: inhalieren, injizieren, rauchen. Die Form, die man rauchte, wurde »Ice« genannt, kleine Kristalle, die man in eine Pfeife steckte. Die Form, die man inhalierte, hieß auf der Straße »Tweak«.

Als sie den nächsten Ausdruck las, war Patricia fast ein wenig amüsiert: »Redneck Crack«, das hatte Chief Sutter ebenfalls erwähnt. Es war alles eine Frage der Logistik, erfuhr sie: Kokain wurde normalerweise in die großen Städte verkauft, auf einem bereits bestehenden Markt. Es war schwieriger zu bekommen und barg ein größeres Risiko, denn alle Sorten Kokain basierten auf der tropischen Kokapflanze, die nur in Afrika und Südamerika wuchs.

Da Crystal Meth rein synthetisch war, konnte man es überall produzieren, und man benötigte keine Zutaten, die aus anderen Ländern importiert werden mussten.

In vielen Trailerparks existierten geheime Methlabore – daher der Spitzname Redneck Crack. Eine Investition von 1000 Dollar in Werkzeuge und Inhaltsstoffe – die man allesamt in Drugstores und Baumärkten bekam – konnte 5000 bis 10.000 Dollar Gewinn bringen, wenn man wusste, was man tat. In anderen Worten: Crystal Meth war die ideale Droge für abgelegene Landstriche …

So wie Agan’s Point, schloss Patricia.

Die Regierungsseiten konstatierten, dass der Konsum von Crystal Meth mehr und mehr zunahm und sich in alle Schichten der Gesellschaft ausbreitete. Es wurde als regelrechte Epidemie angesehen und zog wie alle missbräuchlich verwendeten Betäubungsmittel HIV, Hepatitis und erhöhte Kriminalitätsraten nach sich.

Herrgott. Und jetzt ist dieses Zeug hier …

Patricia ging ins Wohnzimmer. Sie fürchtete die Reaktion ihrer Schwester.

Judy wirkte erschüttert, teils verwirrt und teils wütend. Ernie goss ihr gerade einen Kaffee ein. »Ich schätze, das sind die modernen Zeiten«, sagte sie. »Früher hatten die Leute Brennereien in den Wäldern, um ihren eigenen Maisschnaps zu machen. Jetzt brauen sie eben … dieses Crystal-Zeugs. Und nicht nur irgendwelche Leute, sondern meine Leute. Meine Squatter.«

»Vielleicht ist es ja ein Einzelfall, Judy«, sagte Patricia und setzte sich. Sie wollte optimistisch klingen, war sich aber nicht sicher, ob das aufrichtig war oder nicht. »Vermutlich haben nur die Hilds es gemacht.«

»Du glaubst, du kennst die Menschen«, sagte Judy. Sie schien gar nicht zugehört zu haben. »Du schätzt sie, du hilfst ihnen, und sie scheinen völlig normal zu sein, verlässliche, hart arbeitende Leute. Und dann, eines Tages, erfährst du die Wahrheit. Ich gebe ihnen einen Platz, an dem sie wohnen können, ich gebe ihnen Arbeit, weil sie nirgendwo sonst arbeiten können. Und dann tun sie mir so was an. Sie haben das Geld, das sie von mir bekommen haben, benutzt, um diese Droge herzustellen. Und wir haben so viele Squatter in der Bucht. Ich wäre total bescheuert zu glauben, dass es nur die Hilds sind.«

»Aber Judy, das weißt du doch gar nich’«, sagte Ernie. »Ich glaub auch, dass es nur die Hilds waren. Sie waren doch immer ’n bisschen seltsam. Seltsamer als die meisten andern Squatter. Und Gott möge ihnen vergeben, aber sie haben bekommen, was sie verdient haben. Ich kann nich’ glauben, dass hier in Agan’s Point mehr in der Richtung passiert. Diese Leute sind Krebsfischer, um Himmels willen. Everd hat sie unter seiner Fuchtel, als wäre er Jesus höchstpersönlich. Sie trinken nich’ mal. Ich hab nie einen von ihnen eine Zigarette rauchen oder Tabak kauen sehn. Sie denken alle, Trinken und Rauchen wäre Sünde, da is’ doch das Kochen von Drogen zehnmal schlimmer. Die Hilds waren Ausreißer, das is’ alles. Die gibt’s überall.«

Judy lehnte sich in ihren Sessel zurück und strich sich erschöpft die Haare zurück. »Aber in letzter Zeit höre ich so viel. Squatter, die sich prügeln, Squatter, die ihre Arbeit nicht anständig erledigen, Squatter, die die Stadt verlassen, als wär’s hier nicht mehr gut genug für sie, als wäre die Arbeit, die ich ihnen gebe, nicht mehr gut genug. Ständig kommt mir zu Ohren, dass sich die hübscheren Mädchen verkaufen – rumhuren –, aber alles, was Chief Sutter und so ziemlich jeder andere dazu zu sagen hat, ist immer dieselbe elende Leier. ›Oh, keine Sorge, Judy, das sind nur ein paar Ausreißer.‹ Herrgott, mir kommt es so vor, als gäb’s nur noch Ausreißer!«

Wow, sie ist echt geladen, dachte Patricia. Das kam selten vor. »Judy, ich glaube, du überreagierst. Es ist doch unvermeidlich. Wo immer man hinsieht, gibt es schlechte Einflüsse, die sich ihren Weg suchen und ansonsten gute Menschen korrumpieren.«

»Sie hat recht«, stimmte Ernie zu. »Du musst dir deshalb keine Sorgen machen, schon gar nicht nach allem, was du durchgemacht hast.«

Judys ausladende Brust sank, als sie seufzte. »Vermutlich verändern sich die Dinge, sosehr wir uns auch wünschen, dass sie das nicht tun.« Ihr Blick suchte den von Patricia. »Mom und Dad hatten nie Probleme mit den Squattern. Aber die Welt ist nicht mehr so wie damals.«

»Nein, das ist sie nicht«, sagte Patricia. »Die Gesellschaft macht Fortschritte, und mit dem Fortschritt kommen viele Verbesserungen, aber auch manches Schlechte.«

Jetzt schien Judy mehr in sich hinein als irgendwo anders hinzusehen. »Ich weiß nicht recht, Patricia. Vielleicht sollte ich die Firma doch lieber verkaufen. Alles. Vielleicht ist es an der Zeit.«

O Mann, los geht’s … Das Bild von Gordon Felps blitzte vor ihrem inneren Auge auf – ein wechselhaftes Bild. »Mach dir doch jetzt keine Gedanken über so etwas. Bestimmt ist alles schon bald wieder ganz normal.«

Noch ein tiefer Seufzer. »Gott, das hoffe ich. Ernie, holst du mir bitte ein Glas Wein? Ich brauche etwas, das mir hilft zu entspannen. «

»Klar.«

Toll, dachte Patricia. Sie will sich schon wieder betrinken. »Ich mache Mittagessen«, bot sie an, um irgendetwas zu tun. Der Tag war ganz schön schnell den Bach runtergegangen: erst die Nachricht, dass auf dem Grundstück ihrer Schwester zwei Morde stattgefunden hatten und jemand Drogen herstellte, und jetzt Judy, die wieder völlig am Boden war. Wenigstens eine gute Sache ist passiert, dachte sie und lächelte leicht. Ihr Gespräch mit Dr. Sallee hatte ihr die Sorgen wegen ihrer Träume und ihres Benehmens genommen. Mit mir ist Gott sei Dank alles in Ordnung …

Als sie an Ernie vorbei in die Küche ging, warf er ihr einen kurzen Blick zu. War das einfach nur ein unbedeutender Blick gewesen? Oder hatte er ihre Brüste gemustert? Das ist nur Einbildung, versicherte sie sich. Er war ein wahrer Gentleman gewesen. Aber sie wurde die Erinnerung nicht los. Egal was Dr. Sallee sagte, sie fühlte sich zu ihm hingezogen, und …

Ich hätte heute fast Sex mit ihm gehabt, im Wald …

Sie lenkte sich ab, indem sie Sandwiches mit Aufschnitt belegte. Neben dem Fenster hing ein einfaches Kreuz – ein ganz normales Kreuz –, aber aus irgendeinem Grund erinnerte es sie an die merkwürdigen Gebilde, die die Squatter trugen, und an deren bizarre Glücksbringer. Sie glaubte aufrichtig daran, dass die Tragödie der Hilds ein Einzelfall war, aber tief in ihrem Inneren hatte sie die Befürchtung, dass ihnen allen etwas noch viel Schlimmeres bevorstand.