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(I)

Als Ricky nach Hause kam, fühlte er sich wie auf Drogen. Lüsterne Gedanken an seine Verbrechen putschten sein Gehirn so effektiv auf, wie es sonst nur Opiate vermochten. Das Mädchen hatte ihn wirklich angemacht. Ich mag’s, wenn die Schlampe so zuckt, dachte er, als er sich die Folter erneut ins Gedächtnis rief. Und dann auch noch direkt neben ihrm toten Daddy aufm Boden! Ja, es war eine großartige Nacht gewesen, auf jeden Fall. Später hatte er die Bude professionell abgefackelt und war längst wieder tief im Wald verschwunden, als der Brand so richtig Fahrt aufnahm.

Ricky war der perfekte Psychopath.

Kann’s kaum erwarten, das Junior zu erzählen, dachte er. Er hielt sich den ganzen Heimweg über im Wald, damit ihn auch bloß niemand sah. Das war eine Geschichte, die man bei ein paar Bier erzählte. Er freute sich so darauf, seinem Bruder von dem Mädchen zu berichten …

Jawollja, mein kleines Brüderchen wird ganz schön neidisch werden!

In der Ferne hörte er die Sirenen, ein befriedigendes Geräusch. Er fühlte sich wie nach einem üppigen, reichhaltigen Essen.

Um ihn herum pulsierten die Geräusche der Nacht. Schließlich wichen die Bäume und er stand in seinem Hinterhof. Im Haus brannte kein Licht. Junior pennt wohl schon, dachte er. Normalerweise blieben sie beide lange wach, tranken und sahen Pornos. Was Brüder eben so machten.

Jetzt war Ricky zu aufgekratzt, um ebenfalls ins Bett zu gehen. Erst mal ein paar Bier und ein bisschen Kautabak, und vielleicht würde er dann seinen liebsten Porno einlegen: Natale Begierde . Er durchquerte den Hof, stieg dabei über diverse vom Mondlicht erleuchtete Müllhaufen und trat durch die Hintertür ein.

Das Innere des Hauses wirkte …

Komisch, dachte er.

Dunkelheit hüllte ihn ein, und als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, wurde die Stille bedrückend, als läge ein schwacher, unangenehmer Geruch in der Luft. Er schaltete das Küchenlicht ein, aber es half nicht. Das Gefühl ließ sich nicht abschütteln, und er wusste nicht mal, was für ein Gefühl das war. Als er den Kühlschrank öffnete, um sich ein Bier zu nehmen, erstarrte er mit erhobener Hand.

Das darf doch verdammt noch mal nich’ wahr sein.

Der volle Kasten, den er am Nachmittag in den Kühlschrank gestellt hatte, war unberührt. Junior muss krank sein, dass er noch keine zehn oder zwölf gekippt hat.

Er nahm eine Flasche und schloss die Tür, dann ging er mit gerunzelter Stirn ins Wohnzimmer, machte Licht und …

Die Bierflasche zerschellte am Boden.

Bei dem Anblick drehte sich Ricky der Magen um.

Junior Caudill lag mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund mitten im Zimmer auf dem Boden. Er atmete nicht. Sein Gesicht sah aus wie eine blasse Maske, weil die Schwerkraft alles Blut in die unten liegenden Regionen seines Körpers gezogen hatte und die Haut weiß wie Schnee färbte.

Rickys Trauer äußerte sich in einem schrillen Keuchen. Er fand keine Worte oder auch nur Gedanken für das, was er hier vor sich sah. Offensichtlich war Junior bereits seit Stunden tot, aber das war es nicht, was Ricky so sehr entsetzte.

Juniors Hose wirkte mehrere Nummern zu groß; sie hing so lose, dass sie sicherlich runtergerutscht wäre, hätte der Mann aufstehen können.

Als der erste Schock nachließ, brüllte Ricky »Junior!« und eilte zu ihm, wo er auf die Knie fiel. Er fuchtelte hilflos in der Luft herum.

»Junior! Was ist passiert?«

Er wusste, dass sein Bruder tot war; die Blässe machte es offensichtlich. Dennoch fühlte er am Hals nach einem Puls, spürte aber nichts als kaltes Fett. Dann schwang er sich rittlings auf den Körper und versuchte es mit unbeholfener Wiederbelebung, wie er es im Fernsehen gesehen hatte. Genauso gut hätte er es bei einem Sack voll Dünger probieren können.

»Junior …«

Er kletterte wieder runter, betäubt, nach wie vor auf den Knien.

Er muss ’nen Herzinfarkt oder so gehabt ham …

Was sollte es sonst gewesen sein?

Er sieht so verdammt merkwürdig aus, dachte er.

Tatsächlich waren Arme und Beine noch so rund wie eh und je – Junior war genau wie sein Bruder ein kräftiger Mann. Fett, um genau zu sein. Die fetten Arme und Beine sahen ganz normal aus, genau wie die fette Brust und das runde Gesicht.

Warum also wirkte Junior so merkwürdig fremdartig?

Ricky schob das fleckige T-Shirt seines Bruders über dessen aufgedunsene, haarige Brust nach oben.

Er schüttelte angewidert den Kopf.

Es gab keine poetische Art, es auszudrücken. Juniors ehemals stolzer und sehr ausgeprägter Bierbauch … war weg.

Hatte er Diät gehalten? Scheiße, nein, war Ricky überzeugt. Sein Bruder hatte in seinem ganzen Leben keine Diät gemacht. Diäten waren was für Schwuchteln!

Er verharrte eine Weile und ordnete seine Gedanken. Vermutlich sollte er einen Krankenwagen rufen, aber das war gerade nicht die beste Idee. Die Krankenwagen der Gegend waren alle an der Bucht und bargen die Leichen von David Wie-auch-immer und seiner kleinen Füchsin von Tochter. Das würde wie ein zu großer Zufall aussehen. Außerdem würde ein Notruf eine polizeiliche Befragung nach sich ziehen. Ich muss wohl warten, dachte er, verstand aber nach wie vor die Situation nicht recht, in der er sich so plötzlich befand.

Langsam wurde Ricky sauer. Verdammt, Junior. Warum musstest du sterben? Ich konnt dir nich’ ma’ von dem geilen Ding erzählen, das ich mit den beiden Assis abgezogen hab …

Er ging in die Küche, um sich ein neues Bier zu holen, und wanderte dann durch das Haus. Dieses Mal ließ er die Lichter ausgeschaltet. Er brauchte Ruhe und Dunkelheit, um sich über seine nächsten Schritte klar zu werden.

Es muss ’n Herzinfarkt gewesen sein. Geht nich’ anders. Jeden Morgen Eier un’ Speck? Scheiße, vermutlich muss ich ’ne Diät machen …

Er schlenderte noch ein wenig durch die Dunkelheit, bis er wieder im Wohnzimmer stand. Wo er langging und was er überhaupt machte, bekam er gar nicht mit. So funktionierte Redneck-Trauer: mit einem Bier in der Hand und leerem Blick durchs dunkle Haus schlurfen …

Auf einmal knisterte etwas unter seinem Fuß.

Ein Stück Papier. Was zum Teufel is’n das?, fragte er sich und hob es auf. Er wollte gerade Licht machen, um es genauer anzusehen, als …

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Er fuhr herum und …

Das zweite Bier dieser Nacht krachte auf den Boden.

Aus dem Flur, der zu den Schlafzimmern führte, starrte ihn eine dünne Gestalt an. Es war so dunkel, dass Ricky nichts erkennen konnte. Nur ein Schemen, etwas, das kaum greifbarer war als ein Schatten …

Ein Einbrecher? Höchstwahrscheinlich. Aber verdammt, der hatte sich eindeutig das falsche Haus für seinen Einbruch ausgesucht! In dieser Müllhalde gab es nichts zu stehlen. Außerdem: Dieser beschissene Einbrecher hat grad sein TODESURTEIL unterschrieben!, dachte Ricky mit einiger Überzeugung.

Außer …

»Wer bist du, Arschloch?«, rief Ricky herausfordernd.

Die Gestalt verharrte einfach im Dunkel und sagte nichts.

»Ich werd …« Dann hielt Ricky mitten im Satz inne. In seinem wenig bemerkenswerten Hirn hatte es klick gemacht: Vielleicht war dieser Typ da der Mörder von Junior.

Dann sprach die Gestalt mit einer tiefen, kratzenden Stimme, die klang, als liefe dicke schwarze Flüssigkeit durch ihre Kehle: »Dein Bruder ist in der Hölle …«

Mit diesen Worten verschwand der Schemen in Sekundenschnelle im Flur.

»Ich werd dich so was von töten, du Wichser!«, brüllte Ricky in heller soziopathischer Wut. Er walzte durch den Flur, dass seine Stiefel nur so auf dem Boden trommelten. In der Dunkelheit erhaschte er einen Blick auf die Gestalt, die gerade in Juniors Schlafzimmer verschwand. Nur eine Sekunde später war auch Ricky dort und suchte die Dunkelheit ab.

Es war niemand sonst hier.

Das Fenster stand offen, Mondlicht fiel hindurch.

Dann schien die bizarre Stimme in einem irren Reigen durch seinen Kopf zu tanzen: »Dein nichtsnutziger Bruder ist nun die fette Hure für die Helfer des Teufels, genau wie du es schon bald sein wirst …«

Ricky starrte in die Dunkelheit.

Dieses Mal konnte er der Stimme keinen Ursprung zuordnen. Sie konnte von überall kommen oder von nirgendwo.

Er steckte den Kopf aus dem Fenster und sah die Gestalt zwischen zwei Bäumen am Ende des Hofes stehen.

Der Wichser is’ echt schnell! Wie isser so schnell dahin gekommen?

Mit dem Forttreiben einer Wolke fiel kurz ein Streifen Mondlicht auf das Gesicht der Gestalt, und Ricky knirschte mit den Zähnen, als er sie erkannte …

Dann kehrte die Stimme ein letztes Mal zurück, nicht von dem Schemen selbst ausgehend, sondern erneut als breiiges Gurgeln in Rickys Kopf, um ein letztes Versprechen abzugeben, ehe das Wesen verschwand.

»Verflucht seist du«, sagte die Stimme.

Eine Verfolgung wäre zwecklos, also zog Ricky sich ins Zimmer zurück. Er war verwirrt und wütend. Aber etwas dämpfte diese Wut – selbst Soziopathen war das Gefühl der Angst vertraut.

Er atmete ein paarmal tief durch. Jetzt fluteten statt der bösartigen Stimme die Geräusche der Zikaden den Raum, und in diesem Moment wurde Ricky klar, dass er immer noch den Zettel in der Hand hielt, den er im Wohnzimmer gefunden hatte.

Er machte Licht und betrachtete ihn.

Auf ein Stück weißes Papier war mit etwas wie brauner Kreide ein einzelnes Wort gekritzelt: WENDEN .