(II)
»Ich will, dass du da sofort abhaust! Noch mehr Morde? Die Stadt ist gefährlich …«
Patricia saß bequem auf ihrem Bett und ließ sich vom Sonnenlicht, das ins Zimmer flutete, das Gesicht wärmen. Sie telefonierte mit Byron, und dessen ziemlich lauter Ausruf war seine Reaktion auf ihre Schilderung des Brandes der letzten Nacht und der grausamen Tode von David Eald und seiner Tochter gewesen. »Schatz, du überreagierst schon wieder. Da haben einfach nur ein paar Leute draußen in der Bucht Probleme mit Drogen.«
»Und was ist mit den beiden, die neulich umgebracht worden sind – wie hießen die gleich? Die Hilds? Die Halds? Egal! Die hatten auch mit Drogen zu tun! Und deshalb will ich, dass du deinen Hintern in deinen Wagen schwingst und sofort nach Norden fährst!«
Patricia verdrehte die Augen. »In D. C. gibt’s massenhaft Drogenverbrechen und wir sind deshalb auch nicht weggezogen.«
»Vier Morde in einer Woche«, gab Byron zurück. »Nein, fünf. Vergiss Dwayne nicht. Immerhin war er der Grund, warum du überhaupt in diese durchgeknallte Stadt gefahren bist.«
»Die Ealds wurden nicht ermordet. Ihre Wohnung ist abgebrannt, es war vermutlich ein Unfall. Das passiert offenbar ständig bei diesen improvisierten Meth-Laboren. Wenn man das Zeug herstellen will, braucht man diverse brennbare Lösungsmittel.«
»Und das soll mich jetzt beruhigen? Alles ist okay, weil Drogenlabore ständig abbrennen?«
»Nein, ich will nur sagen …«
»Und es könnte doch auch sein, dass jemand den Laden angezündet hat, oder etwa nicht? Noch so ein Revierkampf. Hattest du nicht erzählt, diese Hilds seien umgebracht worden, weil sie einer rivalisierenden Drogengang in die Quere gekommen sind?«
»Na ja, das ist möglich. Wenigstens glaubt das die Polizei. Aber …« Sie hielt inne. Warum streite ich überhaupt mit ihm? Er hat ja recht. Die Hütte könnte durchaus von einer rivalisierenden Drogengang abgebrannt worden sein. »Schatz, trotzdem, du überreagierst. Hier ist alles okay und wir sind absolut sicher. Judy hat an der Beerdigung und allem zu knabbern, deshalb bin ich auch noch hier. Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht länger als eine Woche bleibe.«
»Versprich es mir.«
Sie lachte. »Ich versprech’s!«
»Was hast du heute vor? Tabak kauen? In einem Schaukelstuhl auf einer Veranda sitzen?«
»So hinterwäldlerisch ist Agan’s Point auch wieder nicht. Ich will heute in die Stadt fahren …«
»Du solltest nicht in die Stadt fahren, sondern lieber raus aus der Stadt.«
Sie schüttelte nur den Kopf und fuhr fort: »… und dann werde ich vermutlich ein bisschen im Haus rumhängen und Judy bei ihrem Kram helfen.« Sie erzählte ihm von dem großen Clan-Festessen am nächsten Tag – falls die Squatter das überhaupt noch durchziehen wollten –, aber während sie sprach, schweifte ihre Aufmerksamkeit ab. Hörte sie da ein Platschen? Ja, und ein Zischen. Sie bemerkte, dass ihre Zimmertür einen Spalt offen stand, und als sie in den Flur spähte, sah sie, dass auch die Tür zum Badezimmer ein paar Zentimeter geöffnet war.
Ernie ist dadrin und duscht, dachte sie. Er ist so daran gewöhnt, diesen Flügel des Hauses für sich zu haben, dass er vergessen hat, die Tür zuzumachen … Eigentlich war das für sie bedeutungslos, aber …
Sie erspähte nackte Haut.
Dank eines vorteilhaften Winkels konnte sie durch den Türspalt die Reflexion der Dusche im Badezimmerspiegel sehen.
Während sie weiterhin mit ihrem Ehemann sprach, stand sie auf und ging näher an die Tür, um besser sehen zu können. Ernie hatte den Duschvorhang nicht zugezogen.
Mein Gott, was mache ich? Was, wenn er mich sieht? Er würde denken, ich bin total pervers … was ich vermutlich auch bin. Eine Voyeurin? Eigentlich hatte es nie zu ihren Vorlieben gehört, andere Leute heimlich zu beobachten, aber seit sie wieder hierhergekommen war, hatte sie einen Haufen Veränderungen an sich bemerkt. Was würde Dr. Sallee zu all dem sagen?, fragte sie sich. Es handelte sich nur um den sexuellen Gipfel einer jeden Frau mittleren Alters, also …
War es wirklich so schlimm?
Schuldgefühle mischten sich in ihre Gedanken – während sie nach wie vor mit ihrem liebenden Ehemann sprach –, aber sie verdrängte sie einfach.
Und sah zu.
Und träumte.
Plötzlich sah sie sich selbst bei Ernie in der Dusche, und je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde diese Vision …
Er war nicht einmal überrascht, als sie in die Wanne trat; es war, als hätte er sie erwartet, als zöge seine Haut sie magnetisch an. Das kühle Wasser traf Patricias Brüste und sofort stellten sich ihre Brustwarzen auf. Etwas anderes stellte sich ebenfalls auf, wie sie merkte, als sie ihre Hand an seine schaumigen Lenden legte. Sie spürte, wie er pulsierte.
Dann, fast schon grob, packte er sie mit seinen schwieligen Händen an der Hüfte, drehte sie herum und bedeckte ihren Körper mit Seifenschaum. Er stand hinter ihr, seine Männlichkeit heiß an ihren Hintern gepresst. Seine Hände glitten über ihre Haut wie die eines Bildhauers über Ton. Sofort stockte Patricia der Atem. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen, Mund und Augen weit aufgerissen. Die rauen Finger zwirbelten abwechselnd ihre Brustwarzen und massierten ihre Scham. Sie stand einfach nur da und ließ zu, dass er sie berührte …
Sie sprach weiter mit Byron, wie gefangen in zwei verschiedenen Strömen ihres Geistes: Ein Teil von ihr kommunizierte halbherzig mit ihm, ohne seine Antworten richtig wahrzunehmen, während der Rest tiefer in die erotische Fantasie eintauchte. Ernie stand immer noch hinter ihr, über ihnen zischte die Dusche. Er legte einen starken Arm um ihre Taille und hob sie einfach hoch, bis ihre Füße vom Boden abhoben. Sie spürte, wie ihr Hintern an seinem Penis vorbeiglitt, als sie angehoben wurde und er sich bereit machte, sie von hinten zu nehmen. Ihre Scham loderte, zuckte …
O Gott, nein …
»Patricia?«
Als Nächstes würde er mit einem Stoß in sie eindringen.
»Patricia? Verdammt, ich glaube, du hast keinen Empfang mehr. Hörst du mich?«
Die Muskeln in ihren Beinen spannten sich an und sie drückte den Rücken durch, presste ihre erhitzten Brüste und Nippel nach vorn, als der Orgasmus heranrollte.
»Patricia!«
Die Realität holte sie ein, schmerzhaft. Nein, sie stand nicht mit Ernie in der Dusche, sie telefonierte mit ihrem Ehemann! »Ich bin noch da«, versicherte sie ihm und hoffte, dass ihr Herzschlag wieder langsamer werden würde.
»Du klangst, als wärst du ganz weit weg.«
Nicht weit weg, dachte sie und lief rot an. Nur drüben in der Dusche . »Der Empfang hier unten ist nicht immer so toll. Wenn ich dich morgen anrufe, benutze ich Judys Telefon.«
»Wie geht’s Judy denn jetzt?«
Patricia riss sich vom Türspalt los und setzte sich wieder aufs Bett. Als letztes reales Bild hatte sie im Spiegel Ernie aus der Dusche treten sehen. Sie wappnete sich gegen den erneuten Ansturm von Schuldgefühlen. »Tatsächlich recht gut, glaube ich. Seit ich hier bin, scheint sie mit Dwaynes Tod irgendwie zurechtzukommen. Aber jetzt ist sie natürlich durcheinander wegen all dem, was letzte Nacht passiert ist. Sie hat sogar etwas in der Art gesagt, dass es besser wäre, wenn sie ihr Grundstück doch verkaufen würde.«
»Das finde ich auch. Es klingt, als würde bei euch alles im Drogensumpf versinken. Sie sollte verkaufen, ehe der Wert des Grundstücks ins Bodenlose sinkt.«
»So schlimm ist es wirklich nicht, Byron. Auf der anderen Seite des Flusses bauen sie Luxuswohnungen. Das wird das Gesocks schneller vertreiben als alles andere.«
»Ich hoffe, du liegst richtig.«
»Mach dich wieder an die Arbeit«, sagte sie. »Ich rufe morgen noch mal an. Und du solltest noch was wissen.«
»Was denn?«
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch, also komm bald zurück, okay?«
»Das werde ich«, versprach sie. Damit legten sie auf.
Patricia seufzte. Meine Fantasien sind außer Kontrolle! Es ärgerte sie. Aber immerhin gab es den Trost, dass Dr. Sallee gesagt hatte, das sei für Frauen ihres Alters normal. Es gibt keinen Grund, mich schuldig zu fühlen, denn es sind nur Fantasien. Ich würde Byron niemals wirklich betrügen …
Ehe sie weiter nachdenken konnte, sah sie, wie Ernie in einem Bademantel den Flur herunterkam.
»Hey, Ernie?«, rief sie.
Er steckte seinen Kopf ins Zimmer, sein langes Haar hing in nassen Strähnen herab. »Oh, hey. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
O ja, ich bin so was von hier und beobachte dich beim Duschen. »Ich wollte eigentlich früh aufstehen, aber als wir aus Squatterville zurückkamen, konnte ich nicht richtig einschlafen. Wie geht’s Judy?«
»Es ist seltsam«, sagte er. »Sie is’ wegen der Ealds eher genervt als traurig. Es gefällt ihr nich’, dass die Squatter auf ihrem Grundstück Drogen herstellen könnten.«
»Na ja, es sind ja nur ein paar von ihnen.«
»Ja, ich weiß. Sie wird schon klarkommen. Es is’ einfach gerade alles zu viel auf einmal. Sie packt das nich’.«
Patricia mied den Augenkontakt. Allein seine Anwesenheit im Zimmer entfachte das Feuer der Duschfantasie. »Ich habe eine Frage. Weißt du, wer Dwayne offiziell für tot erklärt hat? Ich weiß, dass er im Bestattungsinstitut eingeäschert wurde, aber wo hat man die Autopsie durchgeführt? Gibt es einen Familienarzt oder so was?«
»Die Sanitäter ham seine Leiche von der Bucht abgeholt«, erklärte Ernie. »Und die haben ihn in die Leichenhalle des Countys gebracht. Ich schätz also, dass sie dort die Autopsie gemacht haben. Aber mehr weiß ich auch nich’. Vielleicht fragst du besser Chief Sutter.«
»Das hab ich schon«, sagte sie und blickte in die Ferne. Und er ist mir ausgewichen.
»Warum willst du das wissen?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich würde nur gern den Autopsiebericht sehen. Niemand scheint alle Details zu dem Mord zu kennen, nicht mal Judy.«
»Das liegt daran, dass Judy sie gar nich’ wissen will. Du kennst sie doch. Sie könnt ’ne Kopie von dem Bericht kriegen, übers Gericht.«
Übers Gericht, dachte Patricia. Sogar die hinterwäldlerische Art, auf die er sprach, wirkte attraktiv. »Klar kenne ich sie, und ich kann ihr das auch nicht wirklich zum Vorwurf machen. Die Information, auf welche Art ihr Ehemann seinen Kopf verloren hat, würde sie nur noch tiefer in diese ganze Tragödie stoßen. Ich habe einfach so viel komisches Zeug über den Vorfall gehört, aber niemand scheint zu wissen, was genau passiert ist.«
Ernie nickte. »Wie in jedem kleinen Kaff. Gerüchte überall.«
»Was für Gerüchte gibt’s denn noch?« Sie konnte nicht anders, sie musste fragen.
»Na ja, in den letzten paar Monaten sind ’ne Menge Squatter verschwunden – das ist gerade das heißeste Ding.«
»Davon hab ich auch schon gehört. Aber die sind doch nicht verschwunden . Sie haben einfach nur ihre Sachen gepackt und sind weggezogen. Sogar Squatter wollen nicht zwingend immer am selben Ort bleiben.«
»Klar, und bestimmt is’ das auch so. Aber das mein ich ja: So sind die Leute in ’ner Stadt wie dieser nun mal. Es muss immer ’n Rätsel geben, auch wenn da gar keins ist. Es heißt, dass einige dieser Squatter ermordet worden sind. Von Dwayne.«
Diese Bemerkung ließ sie hochschrecken. »Dwayne?«
»Mhm. Und willst du auch den Rest hören?«
»Sicher!«
»Everd Stanherd soll seine Hinterwäldler-Magie benutzt haben, um Dwayne umzubringen – aus Rache.«
»Und die Leute glauben das wirklich?«, fragte sie erstaunt.
»O ja.«
»Ich glaube nicht an ›Hinterwäldler-Magie‹ und du sicherlich auch nicht.« Sie hielt inne und sah ihn scharf an. »Oder etwa doch?«
Auch er überlegte, was ihr seltsam vorkam, dann grinste er und sagte: »Natürlich nich’. Ich wollt dir nur erklären, wie die Dinge hier laufen. Es gibt Gerüchte über alles. Und es wär klasse, wenn du Dwaynes Autopsiebericht einsehen könntest, weil das dieses Gerücht bestimmt beenden würd.«
»Keine Sorge, das werde ich.«
»Ich hab noch im Garten zu tun. Wir sehn uns später«, sagte er und ging.
Was für ein seltsames Gespräch. Aber zumindest hat es mich abgelenkt … von ihm. Das Alter macht mich noch zu einer Schlampe! Was die Gerüchte anging, hatte er recht. Die Leute erfanden sie, damit ihr Leben interessanter wurde. Patricia musste zugeben, dass sie selbst ein wenig angefixt war. Sie nahm ihr Handy und rief im Büro an.
Ihr Partner stellte sie zum Chef durch, dem geschäftsführenden Partner Tim McGinnis.
»Wie läuft es denn da unten in … wo noch mal?«, fragte er.
»Agan’s Point, im südlichen Virginia.«
»Nie gehört. Klingt wie so ein Hinterwäldler-Kaff.«
»Ist es ein bisschen auch«, sagte sie lachend. »D. C. und diese Stadt – das sind verschiedene Welten. Ist in der Kanzlei alles gut?«
»Na ja, außer dass hier das Chaos ausgebrochen ist, seit Sie weggefahren sind, läuft alles toll. Ich hoffe, Sie kommen bald zurück. Der Walton-Fall muss eingetütet werden.«
»Überlassen Sie das den Partnern, dafür werde ich nicht gebraucht.«
»Die wollen Sie und sonst niemanden. Sie sind wohl die einzige Anwältin in D. C., der sie vertrauen. Bitte kommen Sie bald wieder.«
»Himmel, Sie klingen wie mein Mann. Keine Sorge, ich werde nicht länger als eine Woche weg sein.«
»Gott sei Dank.«
»Aber ich wollte Sie um etwas bitten«, sagte sie, um zum eigentlichen Grund ihres Anrufs zu kommen. »Hatten Sie nicht mal erzählt, dass einer Ihrer Freunde für den Gouverneur von Virginia arbeitet?«
Tim kicherte höhnisch. »Ja. Er ist kein Freund, sondern mein Bruder. Er ist Leiter für öffentliche Sicherheit. Hat die Aufsicht über jede Polizeidienststelle im Staat, die Feuerwehr, die Sheriffbüros, alles.«
Perfekt, dachte sie. »Könnten Sie ihn um einen Gefallen bitten?«
Jetzt lachte Tim laut. »Da ich seinen Chef im Grunde durch Privatspenden ins Amt gehievt habe, kann ich wohl behaupten, dass er so ziemlich alles machen würde, was ich sage. Warum?«
Die Richtung des Gesprächs gefiel Patricia. »Ich brauche Zugang zu einem Autopsiebericht und habe nicht die Zeit, offiziell Einblick zu beantragen. Der Ehemann meiner Schwester – Dwayne Parker. Niemand kennt den genauen Grund seines Todes und ich will ihn herausfinden.«
Tims Verwirrung war durch die Leitung spürbar. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, er sei geköpft worden! Das ist die Todesursache: Kopf ab.«
Patricia fühlte sich schlecht, weil sie angesichts dieser Tragödie lachen musste. Aber es ist schon witzig, wenn man es so ausdrückt. »Es gibt hier unten Gerüchte über Ungereimtheiten im Hinblick auf diese Enthauptung, und mit dem örtlichen Polizeichef komme ich nicht weiter. Ich brauche das, Tim. Der Autopsiebericht liegt in der Leichenhalle des Bezirkskrankenhauses in Luntville.«
»Ich mache ein paar Anrufe. Fahren Sie da einfach morgen hin, das sollte kein Problem sein.«
»Danke, Tim. Hier gehen seltsame Dinge vor. Ich bin einfach neugierig.«
»Gut, aber vergessen Sie nicht, was Neugier mit der Katze anstellt. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass meine Staranwältin durch die Pampa rennt und Enthauptungen untersucht.«
»Das Seltsamste ist, dass es seit meiner Rückkehr noch weitere Morde gab …«
»Was?«
»Drogen-Sachen. Aber das ist sehr untypisch für einen Ort wie diesen.«
Jetzt wurde ihr Chef ernst. »Warum kommen Sie nicht einfach wieder nach Hause? Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass noch mehr Leute ihre Köpfe verloren haben.«
»Nein, aber es war schon ganz schön brutal. Ich will einfach ein paar Fakten prüfen und meiner Schwester beistehen, dann komme ich zurück.«
»Besser ist das, denn ich sage Ihnen mal was: Wenn womöglich Ihnen der Kopf abgeschlagen wird … Dann wäre ich mächtig sauer.«
Jetzt lachten sie wieder. »Danke für Ihre Unterstützung, Tim. Ich bin bald wieder da, mit meinem Kopf fest auf meinem Hals.«