15

(I)

»Das ist doch alles nicht zu fassen«, sagte Byron sehr leise.

Mit dem Handy am Ohr blickte Patricia ausdruckslos aus dem Fenster. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich komme mir so nutzlos vor. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Eigentlich bin ich hergefahren, um meiner Schwester beizustehen, und jetzt weiß ich nicht mal, wo sie ist.«

»Es reicht. Du musst endlich nach Hause kommen.«

Sie kaute an ihrer Unterlippe. Sie wollte ja nach Hause, aber das konnte sie doch nicht einfach machen, oder? »Byron, Judy ist verschwunden . Ich kann nicht weg, solange ich nicht weiß, ob es ihr gut geht.«

Selbst durch die Leitung konnte sie spüren, wie unzufrieden Byron mit dieser Aussage war. »Das ist mir mittlerweile egal. Ich will dich einfach nur wieder hier bei mir haben. Und zwar jetzt, in unserer Wohnung – in Sicherheit. Judy kümmert mich nicht und diese irren Squatter-Leute kümmern mich auch nicht. Und schon gar nicht irgendwelche brennenden Häfen oder Hütten. Da werden Leute umgebracht, Patricia. Steig sofort in dein Auto und komm nach Hause. Jetzt. Augenblicklich.«

Es kam selten vor, dass Byron derart außer sich war; er war sogar wütend, was noch seltener vorkam. »Ich will ja auch heim, Byron. Aber ich kann nicht weg hier, solange ich nicht weiß, was mit Judy ist.«

»Vermutlich ist sie betrunken im Wald eingeschlafen!« Jetzt explodierte Byron. »Wer immer der Brandstifter ist – diese Drogentypen wahrscheinlich –, könnte als Nächstes Judys Haus abfackeln. Wenn du drin bist!«

»Schatz, beruhig dich«, versuchte sie zu beschwichtigen. Die Sonne brannte ihr ins Gesicht. Er hatte ja recht. Mittlerweile …

Mittlerweile macht mich Agan’s Point einfach nur krank. Ich will diese Stadt nie wiedersehen. »Ich komme bald zurück …«

»Verdammt noch mal! Du bist so gottverdammt stur!«

Das weiß ich. Aber ich kann wirklich noch nicht weg hier. »Drei Tage, mehr nicht. Ich verspreche es dir.«

»Und wenn du sie bis dahin nicht gefunden hast? Was, wenn sie tot ist? Das klingt unsensibel und das tut mir leid, aber deine Schwester ist mir egal. Mir geht es nur um dich.«

Patricia seufzte. »Ich bin sicher, dass sie bis dahin wieder da ist.«

»Aber was, wenn nicht?«, brüllte Byron.

»Dann fahre ich trotzdem. Egal was passiert, ich komme Sonntag nach Hause.«

Jetzt seufzte auch Byron. »Ich vermisse dich einfach so sehr. Und ich liebe dich. Ich will dich hier haben, weit weg von dieser verrückten Stadt.«

»Ich komme nach Hause, Schatz. Sonntag.«

Er beruhigte sich, und nachdem Patricia versprochen hatte, ihn bis zu ihrer Abreise mehrmals am Tag anzurufen, legten sie auf. Meine Sturheit macht ihn fertig, dachte sie. Ich bin schon eine tolle Ehefrau, was? Sie erinnerte sich an ihre abgebrochenen Verführungsversuche bei Ernie, wie betrunken sie gewesen war, und ihre totale Rücksichtslosigkeit Byron gegenüber, seit sie hier angekommen war. Ja, ich war in letzter Zeit eine lausige Ehefrau. All das wiedergutzumachen war so ziemlich das Einzige, worauf sie sich freuen konnte.

Waren das Sirenen in der Ferne? Sie war sich nicht sicher. O bitte, lass nicht noch was in Flammen aufgehen … Rasch rief sie bei der Polizeistation an. »Wurde Judy Parker bereits gefunden?«

»Nein, Ma’am«, antwortete eine Frauenstimme.

»Was ist mit Ernie Gooder?«

Die Telefonistin wirkte hektisch. »Auch ihn hat man noch nicht gefunden, und Chief Sutter ebenfalls nicht.«

»Ist Sergeant Trey zu sprechen?«

Ein entnervtes Seufzen. »Nein, Ma’am. Er ist mit der State Police draußen auf der Suche.«

»Wenn es neue Entwicklungen gibt, könnten Sie bitte anrufen …«

»Tut mir leid, Ma’am, da kommt ein Funkspruch rein. Ich muss auflegen. Rufen Sie gegen fünf oder sechs noch mal an, dann sollte Sergeant Trey zurück sein. Einen schönen Tag noch.«

Klick .

Das Quietschen des Funkgeräts im Hintergrund hatte dringend geklungen. Vielleicht waren das vorhin wirklich Sirenen …

Sie duschte und zog sich an. Ein Gefühl von Unwohlsein überfiel sie, Unruhe. Ich bin allein hier, dachte sie. In der vergangenen Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Auch da war sie bereits ganz allein im Haus gewesen. Dieses Mal hatte sie ihr Nachthemd angezogen und das Fenster geschlossen und verriegelt, genau wie ihre Schlafzimmertür. Dennoch hatte sie sich nicht eingestehen wollen, dass sie Angst hatte.

Der wundervolle Morgen hätte sie aufheitern sollen, schaffte es aber nicht. Was geht hier nur vor?, dachte sie, als sie durch die Nebenstraßen der Stadt fuhr. Überall bescheidene Häuser hinter kleinen Gärten. Die Stadt mochte normal erscheinen, malerisch und gemütlich. Aber in dieser Woche hatte sie erfahren, wie trügerisch solche Annahmen sein konnten. Wer weiß denn schon, was hinter diesen Türen vor sich geht, dachte sie.

Sie lenkte den Cadillac aus der Stadt hinaus und in die ungefähre Richtung, in der sie die Sirenen gehört zu haben glaubte. Ein schwammiges Gefühl von Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus, und nach ein paar Minuten wurde ihr klar, woher es stammte: Sie fuhr in Richtung Bowen’s Field …

Vergiss das. Du bist längst darüber hinweg. Es kam ihr wirklich so vor, als wäre sie über den Vorfall hinweg, genau wie Dr. Sallee es ihr erklärt hatte.

Einige Meilen vor der Straße, die zu Bowen’s Field abging, sah sie einen Einsatzwagen der State Police, der in den Wald fuhr. Da draußen geht TATSÄCHLICH etwas vor, dachte sie.

Die Straße war nicht mehr als ein aufgewühlter Pfad. Hinter einer Biegung hielt sie abrupt an. Mein Gott! Was ist hier los? Ein Krankenwagen und drei Polizeiautos parkten mit blinkenden Blaulichtern auf der Wiese. Sergeant Shannon, der schroffe State Trooper, mit dem sie gestern gesprochen hatte, stand bei einigen seiner Kollegen. Er hatte die Arme verschränkt und blickte auf einen Mündungsarm, der sich wie ein Finger von der Bucht in den Wald grub. Als er ihren Wagen hörte, drehte sich Shannon um. Dann ließ er seine Kollegen stehen und kam auf sie zu.

»Miss White«, sagte er und hob warnend die Hand. »Bleiben Sie weg, das wollen Sie nicht sehen.«

»Was ist los?«, stieß sie mit rasendem Herzen aus. Zwei Sanitäter holten eine Trage aus dem Krankenwagen. Einer von ihnen entfaltete einen schwarzen Leichensack. »Es ist doch nicht meine Schwester, oder?«

Der Trooper stellte sich ihr in den Weg. Er sah ein wenig blass aus. »Nein, nein. Es ist einer der anderen Vermissten – Ernie Gooder. Ich fürchte, er ist t…«

Patricia stieß ihn beiseite. Nein! Das darf nicht sein! Aber ehe die Bitte ihre Lippen verlassen konnte, wusste sie, dass es stimmte.

Sie sah zum Wasser runter. Sie blinzelte. Dann wandte sie rasch den Blick ab.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht herkommen, Miss White«, sagte Shannon. »In dieser Stadt passieren ziemlich schlimme Dinge.«

Schlimme Dinge. Was Patricia in den paar Sekunden, die sie hatte hinsehen können, erkannt hatte, war nicht einfach nur schlimm. Man hatte Ernies Leiche aus dem flachen Wasser gezogen … beziehungsweise bedeutend weniger als seine Leiche.

Von der Brust abwärts wirkte der Körper verätzt oder angefressen. Sämtliche Haut und ein beträchtlicher Teil der Muskulatur fehlten, sodass die blanken Knochen weiß hervorstanden. Ab der Hüfte war es am schlimmsten – dort war so gut wie nichts mehr übrig, nur noch ein paar Sehnen und Stücke von Muskelfleisch, die die Knochen der Beine und Hüften zusammenhielten: ein nasses Skelett.

An den Unterschenkeln hingen knöcherne Füße. Ernies wassergetränktes Hemd war aufgerissen und hing an seinen Schultern, während seine Hose wie mit den Resten seiner Knöchel verschmolzen wirkte. Auf irgendeine obskure Art war alles Fleisch verzehrt und dieser Rest menschlichen Abfalls hinterlassen worden. In der letzten Sekunde ihres kurzen Blicks hatte Patricia verstanden, wie das hatte passieren können.

Als man den Leichnam aus der Bucht hob, zog sich ein Dutzend sehr großer Blaukrebse von den skelettierten Beinen zurück und verschwand im Wasser. Ernie war als Krebsfutter missbraucht worden.

Um ein Haar hätte sich Patricia übergeben. Ihr wurde schwindlig und sie musste sich an einem Baum abstützen. »Mein Gott«, keuchte sie.

»Es tut mir leid, dass Sie das sehen mussten«, sagte Shannon. »Diese Drogenkriege können ganz schön schmutzig werden.«

»Ich kannte ihn sehr gut«, murmelte Patricia trotz ihrer Übelkeit. »Er war einfach nicht der Typ, der Drogen verkauft oder konsumiert.«

Shannon schien vom Gegenteil überzeugt. »Wir haben in seinem Zimmer Crystal Meth gefunden. Wie erklären Sie …«

»Sergeant Shannon?«, rief einer der Sanitäter. Er kniete neben Ernies grauenerregendem Leichnam, um ihn in den Leichensack zu schieben. »Ich habe etwas in seiner Hosentasche gefunden. Sieht aus wie Crystal Meth. Sie sollten das als Beweisstück einpacken.«

»Was sagten Sie gerade?«, fragte Shannon Patricia provozierend.

Als sie hörte, dass man den Reißverschluss des Leichensacks zuzog, zwang eine morbide Kraft sie, einen letzten Blick darauf zu werfen. Ernie lag zum größten Teil in dem Sack, nur sein Kopf ragte noch heraus, der Nacken überstreckt. Da bemerkte sie …

Seine Zähne … Mein Gott, seine Zähne …

»Ist alles in Ordnung, Miss White?«

»Zwei seiner Schneidezähne fehlen«, krächzte sie. »Das hätte ich in den vergangenen Tagen unmöglich übersehen können.«

»Haben Sie je von Prothesen gehört? Vermutlich hat er sie verloren, als ihn seine Angreifer ins Wasser schleppten.«

Was er noch sagte, ehe er sie verließ, um die Beweismittel zu sichern, hörte Patricia nicht mehr.

Zwei seiner Schneidezähne fehlen. Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Das war die eine Sache, die sie niemals würde vergessen können. Dem Mann, der sie vor über 25 Jahren vergewaltigt hatte, hatten zwei seiner Schneidezähne gefehlt …

Patricia hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Sie stand mit Shannon am Ende der Straße und beide sahen schweigend zu, wie der Krankenwagen und die übrigen Polizisten wegfuhren. Nur ein Staubschleier blieb hinter ihnen zurück. Als alle weg waren, sah Patricia ihnen wie betäubt nach. Das Summen der Zikaden dröhnte in ihren Ohren.

»Ich kann Ihnen sagen«, setzte Shannon an. »Nichts zerstört eine Stadt schneller als Drogen. Überall. Und in den meisten Fällen sind es die Leute, von denen man es am wenigsten erwartet.«

»Es ist nur … Ernie …«, sagte sie. »Er war einfach nicht der Typ dafür.«

»Man muss nur einmal an einer Methpfeife ziehen und ist verloren. Jeder Junkie, den ich je festgenommen habe, erzählt dasselbe. Es verändert einen über Nacht. Und sobald man einmal mit dem Zeug in Berührung gekommen ist, fängt man an, es selbst herzustellen oder zu verkaufen, um bloß den Nachschub zu sichern. Es verwandelt anständige Menschen in Diebe, Mörder, Verbrecher – Tiere. Nicht mal der Entzug hilft. Bei diesem Zeug und bei Crack ist die Erfolgsquote so niedrig, dass es sich einfach nicht lohnt. Sie können einen Methjunkie zehn Jahre lang einsperren – sobald er wieder draußen ist, hängt er an der Pfeife. So süchtig macht das Zeug.«

Patricia blickte kopfschüttelnd in den Wald.

»Verstehe ich das richtig, dass Sie den Mann sehr gut kannten?«, fragte der Trooper.

»Das dachte ich zumindest. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich wohne in D. C., aber ich bin zu Besuch in Agan’s Point – zum ersten Mal seit Jahren.«

»Na, da sehen Sie, was in all den Jahren aus ihm geworden ist.«

»Ich schätze, ich habe gemerkt, dass etwas nicht stimmt – aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit Drogen zu tun hatte. Er war einfach nicht der Typ dafür.«

»Es gibt keinen Typ . Das kann jedem zustoßen. Man experimentiert damit, denkt sich ›Ach, ich probier’s nur mal, um zu sehen, wie es ist‹. Und dann ist man nie wieder derselbe. Wir sind ziemlich sicher, dass Ernie Gooder für das Feuer an den Docks vor zwei Nächten verantwortlich ist.«

»Was sagten Sie, um wie viel Uhr das Feuer ausgebrochen ist?«

»3:30 Uhr.«

Patricia verzog das Gesicht. »Gegen Viertel nach hat er noch an meinem Fenster spioniert.«

»Wirklich?«, fragte Shannon interessiert. »Sie haben Glück, dass er nur geguckt hat. Wie auch immer, es ist offensichtlich, was hier vorgeht: ein Meth-Krieg zwischen zwei Gangs. Ernie und ein paar der anderen Leute aus dem Ort sind in der einen und eine Gruppe Squatter in der anderen. Und jetzt fechten sie es untereinander aus. Das erscheint an einem Ort wie diesem undenkbar, aber ich sagte es ja schon: Das passiert überall, im ganzen Land.« Shannon zuckte die Achseln. »Dass Chief Sutter verschwunden ist, sieht auch nicht gerade gut aus.«

»Glauben Sie, dass er auch mit Drogen zu tun hat?«

»Ein Polizist, besonders ein Polizeichef, ist genau die Machtperson, die jede Drogengang bezahlen würde, damit er sie beschützt und ihre Lieferungen bewacht. Sie ahnen nicht, wie viel Geld ein korrumpierter Cop verdienen kann.«

»Glauben Sie das wirklich? Dass Chief Sutter für einen Drogenring arbeitet?«

»Entweder das oder er wurde bei dem Versuch, sie hochgehen zu lassen, getötet. Ein Polizeichef haut nicht einfach ab.«

Langsam fand sich Patricia mit Trooper Shannons Verdacht ab.

Die Hitze nahm immer mehr zu und die Schwüle trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.

»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich nehme an, das haben Sie bereits selbst erkannt«, sagte Shannon dann. »Es ist sehr gut möglich, dass auch Ihre Schwester involviert war. Auch sie ist verschwunden. Es ist möglich, dass …«

»Ich weiß, Sergeant.« Patricia musste sich den Fakten stellen. »Meine Schwester ist vermutlich tot. Ihre Leiche liegt sicherlich irgendwo im Wald.«

Shannon erwiderte nichts.

Als er sich wieder an die Arbeit machte, fuhr Patricia zurück in die Stadt. Sie kurvte ziellos herum, die Klimaanlage voll aufgedreht. Was mache ich hier?, fragte sie sich. Hoffe ich, dass Judy hier irgendwo auf der Straße rumläuft? Dass sie mir zuwinkt, mit einem breiten Lächeln? Sie wusste genau, dass das nicht passieren würde.

Sie fuhr weiter in der Stadt herum, bis sie die Vororte erreichte. So was hab ich noch nie gesehen, dachte sie. Agan’s Point wirkte verlassen, wie leer gefegt. Nicht mal jemand, der den Hund ausführt … Der kleine Parkplatz vor dem QWIK-MART war leer, und auch im Laden sah sie niemanden. Dann entdeckte sie das Schild: GESCHLOSSEN .

Ohne dass sie es bemerkte, vergingen Stunden. Patricia wollte nicht an das denken, was doch am wahrscheinlichsten war. Aber irgendwann musste sie sich den Grund für ihr zielloses Umherfahren eingestehen: Ich will nicht wieder in das Haus.

Das gemütliche alte Haus, in dem sie aufgewachsen war, schien ihr nun voller Spukgestalten. Nicht nur ihre mürrischen Eltern, sondern Mordopfer, die sie gar nicht kannte, trieben hier ihr Unwesen – und Judy und Ernie und jede ihrer eigenen düsteren, traurigen Erinnerungen. Als sie die lange Sackgasse vor dem Haus entlangfuhr, brachen all diese Erinnerungen über sie herein und zwangen sie weiterzufahren, bis zum Südende der Bucht.

Hatte die Stadt wie leer geräumt gewirkt, war das Räumen hier in vollem Gange. Ein Exodus, stellte sie fest. Sie fragte sich, wie viele der Squatter wirklich mit Drogen zu tun gehabt hatten. Nur ein paar? Oder war die ganze Gemeinde zu einem großen Drogenring verkommen?

Das werden wir niemals erfahren. Sie gehen alle weg.

In kleinen Gruppen, beladen mit verschlissenen Koffern und Säcken voll mit ihren Habseligkeiten, wanderten sie den Hügel hinauf. Patricia fühlte sich an Flüchtende erinnert, die zerbombte Städte verließen. Niemand weiß, wo sie sich als Nächstes niederlassen, und es kümmert auch niemanden …

Die Sonne ging unter. Patricia fuhr um die neue Produktionshalle am Hafen herum und zuckte zusammen, als sie den abgebrannten Pier sah. Vom Bootshaus waren nur verkohlte Reste übrig. Die verbrannten Boote waren an Land gehievt worden, ihre Hüllen geschwärzt und löchrig. Der Geruch des Rauchs lag noch in der Luft, überwältigend wie der Gesang der Zikaden.

Draußen in der Bucht standen die blassen Holzplanken: die Squatter-Graffiti, ihr Glückssymbol. Das Brett ragte vor dem zerstörten Dock auf wie ein Mahnmal, ein Symbol weniger für das Glück als vielmehr für das Unglück des Clans.

Das Unvermeidliche überfiel sie wie ein Raubtier ein Rehkitz. Die Sonne war einem großen gelben Mond gewichen, der sie auf ihrem Rückweg zum dunklen Haus verfolgte.

Sie stellte den Cadillac davor ab und blieb ein paar Minuten schweigend sitzen. Unter der Haube klopfte der Motor. Ich will da nicht rein. Dadrin ist jetzt niemand mehr.

Sie schleppte sich die Stufen hoch und betrachtete stirnrunzelnd den Türklopfer, der ein nur halb ausgeformtes Gesicht abbildete. Sie fantasierte davon, einzutreten und den Duft selbst gebackener Kekse zu riechen, und Judy würde am Ofen stehen und ihr erklären, wo sie die letzten zwei Tage gewesen war, und es wäre so unschuldig und sie würden lachen und sich umarmen und alles wäre wieder gut.

Patricias Hände zitterten, als sie eintrat und die Empfangshalle durchquerte. Die Dunkelheit hing überall im Haus. Ängstlich ging sie durch das ganze Erdgeschoss und schaltete die Lichter ein. Aber die Beleuchtung ließ das Gebäude nur noch größer erscheinen … und noch leerer.

In der Küche roch es natürlich nicht nach Keksen. Es roch steril, leblos. Instinktiv wollte sie nach Judy rufen, ließ es aber bleiben. Ihre Schwester war nicht hier und würde womöglich auch nie mehr wiederkommen.

Sie ging zum Anrufbeantworter. Hatte jemand angerufen? Hatte die Polizei eine Nachricht hinterlassen, dass man Judy gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatte, um ihr den Blinddarm zu entfernen oder so was, und dass es ihr schon viel besser ging und ihre Schwester sie erwartete?

»Sie haben … keine … neue Nachricht«, sagte das Gerät mit seiner mechanischen Stimme.

Als sie sich umwandte, um sich etwas Saft aus dem Kühlschrank zu nehmen, erstarrte ihre Hand in der Luft. An der Tür hing ein Magnet in Form einer Erdbeere: ›Mehl, Milch, Eier, Kaffee.‹ Es war eine Einkaufsliste, verfasst in Judys nachlässiger Schrift. Patricia starrte die Liste an und begann zu weinen.

Als sie ins Bett ging, zog sie sich nicht um. Das Schlafzimmerfenster schien sie anzuglotzen. Es war verschlossen und die Vorhänge zugezogen, aber allein der Gedanke an das, was Ernie vor ein paar Nächten da draußen getan hatte, machte ihr ein unbehagliches Gefühl. Auf meinem Fenstersims klebt der Samen eines Toten, dachte sie. Nur ein paar Meter entfernt … Bei dem Gedanken spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie hätte auch in einem anderen Zimmer schlafen können, aber diese Idee gefiel ihr überhaupt nicht. Welches Zimmer sollte sie denn nehmen? Ernies? Das ihrer Schwester? Oder vielleicht das alte Schlafzimmer ihrer Eltern im Obergeschoss? Nein, sie alle waren jetzt vollgestopft mit Geistern.

In der körnigen Dunkelheit des Zimmers starrte sie an die Decke. Tauchten da Gesichter auf? Das Fenster, das Fenster, flüsterte ein Teil ihres Geistes ihr zu.

Da ist nichts, also vergiss es und schlaf!, rief sie in Gedanken zurück, aber auch das konnte sie nicht trösten. Schließlich warf sie das Laken von sich, seufzte und zog die Vorhänge auf.

Siehst du? Niemand da. Keine Spanner, keine Monster. Durch die Scheibe wirkte der weitläufige Garten ruhig und unberührt. Die Nachtblumen öffneten gerade ihre Blüten. Der Mond war höher gestiegen und hatte sich weiß gefärbt, sein Licht flutete den Garten. Sie sah absolut nichts, das dort nicht hingehörte.

Zurück im Bett rollte sie sich zu einem Ball zusammen.

Kam das Geräusch, das sie hörte, von der großen Uhr im Flur? Das Haus knarrte ein paarmal. Sie zuckte jedes Mal zusammen. Bitte, Judy, komm nach Hause. Bitte, lass alles in Ordnung sein, betete sie, als sie einschlief.

Sie geriet direkt in den Schlund eines Albtraums. Es war dieses Zimmer, in derselben körnigen Dunkelheit und auf demselben Bett, aber jetzt war sie nackt. Das Mondlicht fiel ins Zimmer und brachte ihre blasse Haut zum Strahlen. Helle, blendend weiße Haut gegen den tintenschwarzen Schatten ihres Bauchnabels. Ihre Beine lagen weit gespreizt dem Fenster zugewandt, ihre behaarte Scham lüstern entblößt.

Sie konnte bei aller Mühe ihre Beine nicht schließen.

Sie konnte sich auch nicht zudecken.

Wie kann es sein, dass Mondlicht ins Zimmer fällt?, dachte sie. Die Vorhänge sind zu. Ich weiß, dass sie das sind. Ich hab sie gerade erst zugezogen. Das musste sie denken, denn noch hatte sie nicht verstanden, dass das hier ein Traum war.

Als sie den Gedanken weiterspann, überfiel sie eine nagende Angst: Jemand hat die Vorhänge aufgezogen.

Und dann: das Fenster …

Gerade hatte sie beschlossen, keinesfalls hinzusehen, da hob bereits eine ominöse Kraft – vielleicht die Geisterhand ihres Vaters – ihren Kopf an und zwang sie. Sie blickte direkt geradeaus zwischen den Hügeln ihrer Brüste hindurch, über ihren Bauch, durch die gespreizten Beine. Der kleine Schamhaarbusch zeigte wie ein Zielfernrohr in Richtung Fenster.

Die Vorhänge waren nicht nur offen, sondern ganz weg. Das Mondlicht fiel wie ein ungebetener Eindringling ins Zimmer. Sie kam sich missbraucht vor, beschämt. Jeder konnte sie von dort draußen völlig entblößt hier liegen sehen, mit ihren intimsten Körperstellen wie auf dem Präsentierteller. Was sollten die Leute von ihr denken, wie sie hier auf dem Bett lag, vollkommen nackt?

Aber …

Ein Glück; da ist niemand.

Die Uhr in der Empfangshalle tickte lauter als sonst und auch viel schneller. Patricia blickte an ihrem Körper entlang zum Fenster. Ihre Brüste hoben und senkten sich schneller, ihr flacher Bauch bebte. Plötzlich hörte sie neben dem Ticken der Uhr noch etwas anderes.

Ein Knirschen.

Schritte, erkannte sie.

Patricias Lähmung hielt an; sie kam sich vor, als wäre sie aus Zement, eine Statue. Als sich ein Schatten in den Fensterrahmen schob, blieb ihr ein Schrei im Hals stecken.

Es war Ernie.

Sein Kadaver glotzte mit einem löchrigen Grinsen zu ihr herein, die Augen wie rohe Austern, seine Haut weiß wie der Bauch eines Fisches. Er onanierte. Seine tote Hand bearbeitete heftig einen verfaulten Penis. Schlimmer als die Tat und dieser tote, nasse Glanz in seinen Augen war die Zahnlücke, die dieses Grinsen entblößte: die fehlenden Schneidezähne. Er schob seine schwarze Zunge durch die Lücke und wackelte damit.

Bald gesellten sich weitere Gestalten zu ihm: David Eald und seine tote Tochter, beide verkohlte Leichen. Die Hilds, nackt, ausgemergelte Strichmännchen. Chief Sutter, im Tod genauso aufgebläht wie im Leben. Sein Gesicht hatte die Farbe und Beschaffenheit von Käsekuchen, zwei Löcher bildeten die Augen. Und schließlich auch noch Judy, nackt und gebeugt, die Gesichtshaut wie eine Strumpfmaske über ihren Schädel gespannt. Von ihr ging erstickender Verwesungsgestank aus.

Ja, sie alle hatten sich versammelt – eine Gruppe Leichen –, um lüstern Patricias Nacktheit zu begaffen. Mit einem Beben seiner knöchernen Hüften und aufgeblasenen Wangen verteilte Ernie seinen stinkenden Samen auf dem Fensterbrett. Patricia sah, dass er in seiner Begeisterung beim Orgasmus die Haut seines Glieds regelrecht auswrang. Außerdem sah sie, dass sich in dem Sperma Maden wanden, als es aus dem Leichnam herausschoss. Ihr wurde übel.

Zum Glück ist das Fenster verriegelt, dachte Patricia.

In diesem Moment öffneten Ernie und Sutter mit ihren bleichen Totenfingern das Fenster. Anfangs waren sie damit zufrieden gewesen, sie einfach nur anzusehen, jetzt wollten sie sie anfassen …

Als der Gestank in den Raum drang, erwachte Patricia laut schreiend.

O Gott, o Gott, o Gott …

Wurde sie wahnsinnig? Sie legte eine Hand auf ihre Brust; ihr Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment explodieren. Zumindest trug sie noch ihre Kleidung – zumindest konnte sie sich sicher sein, dass es nur ein Traum gewesen war.

Wie ein Schleier hing die körnige Dunkelheit vor ihren Augen. Das Ticken der Uhr im Flur hatte wieder einen normalen, stetigen Rhythmus. Als das Haus erneut knarrte, empfand sie das Geräusch als tröstlich – sie wusste, dass es real war.

Das Fenster lockte sie. Natürlich waren die Vorhänge noch immer zugezogen, aber …

Ihre Paranoia holte sie ein. Verdammt noch mal, dachte sie. Verdammt, VERDAMMT! Sie musste nachsehen, nur um sicherzugehen …

Sie stand auf und wartete einen Moment, bis sie auch sicher ganz wach war. Doch dann zögerte sie erneut. Mach schon, Patricia. Was bildest du dir schon wieder ein?

Was bildete sie sich ein? Dass sie den Vorhang aufziehen und draußen einen Haufen Toter sehen würde, die zu ihr reinglotzten?

Lächerlich .

Dennoch musste sie sich überzeugen, sonst würde sie nicht schlafen können.

Da, siehst du? Sie war regelrecht begeistert, als sie durch die Vorhänge spähte und absolut nichts entdecken konnte. Der Garten lag genauso still und friedlich da wie vorher. Keine Bewegung war zu entdecken, die Nachtblumen hatten sich geöffnet, der Mond schien hell.

Dann machte ihr Herz einen schmerzhaften Satz.

Moment mal …

Etwas da draußen war vorher noch nicht da gewesen – zumindest hatte sie es nicht bemerkt.

Ernies Pick-up.

Einige Zentimeter der Wagenfront ragten in ihr Blickfeld. Das kann nicht sein! Sie schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Ernie ist tot. Ich habe seine LEICHE gesehen. Und sein Truck war vorhin noch nicht hier!

Sie war sicher, absolut sicher, dass er vorher noch nicht da gewesen war.

Dann kam ihr ein weiterer Gedanke: O mein Gott, vielleicht ist es Judy! Sie hat sich seinen Truck geliehen, um irgendwo hinzufahren! Und jetzt ist sie zurück und wollte mich nicht wecken.

Jetzt war es Freude, die sie aus ihrem Zimmer trieb. »Judy! Bist du zurück?« Sie eilte durch den Flur, ins Treppenhaus und die Stufen hinauf. Dann platzte sie in das Schlafzimmer ihrer Schwester und machte das Licht an.

»Judy?«

Das sorgfältig gemachte Bett war leer.

Dann ist sie irgendwo unten! Patricia war davon überzeugt. Es muss so sein! Nur so lässt sich erklären, dass Ernies Truck im Hof steht. Sie ist unten in der Küche und macht sich etwas zu essen!

Als sie in die Küche kam und Licht machte, brach Patricia zusammen. Ihre Knie prallten auf den Boden. Sie schrie.

Judy war tatsächlich in der Küche. Aber sie machte sich kein Essen. Auf dem Boden lag ein umgeworfener Korbstuhl, daneben ein Paar Sandalen. Judy hing an einer Schlinge von einem der Deckenbalken.

Das Seil knarrte, ähnlich wie es das Haus vorhin getan hatte. Judys Gesicht war aufgequollen. Es war hellrot mit blauen Flecken und ihre Zunge hing heraus. Sie trug noch das geblümte Sommerkleid, das sie beim Festessen des Clans angehabt hatte. Als wäre das noch nicht genug, war ihr Genick durchgebrochen, sodass sich ihr Hals unter dem Henkersknoten mehrere Zentimeter in die Länge zog. Leichenflecken färbten die Füße ihrer Schwester fast schwarz, ebenso die Unterschenkel. Die Venen standen hervor wie fette Regenwürmer.

O Judy … O mein Gott, meine arme Schwester …

Sie war schon immer eher labil gewesen, und mit Veränderungen konnte sie nicht umgehen. Deshalb war sie so lange bei Dwayne geblieben, trotz seiner Misshandlungen. Und deshalb hatte sie auch immer in diesem Haus gelebt. Sie war nur glücklich, wenn alles so blieb, wie es schon immer gewesen war.

Aber Selbstmord? Patricia rappelte sich hoch. Das Grauen wich einer Realität voller Verzweiflung: Die Squatter haben sie betrogen und Drogen verkauft, während sie gleichzeitig Lohn von Judy angenommen haben. Jede Nacht musste die Polizei wegen Mord oder Brandstiftung anrücken. Man kann wohl sagen, dass sich die Lage hier sehr verändert hat.

Es war unerklärlich, und doch geschah es jeden Tag: Menschen brachten sich selbst um. Es war die einzige Heilung für die grausame Krankheit, mit der sie weiß Gott wie lange leben mussten, während ihr Umfeld nicht einmal ahnte, dass es überhaupt ein Problem gab.

Ich muss die Polizei rufen, dachte Patricia. Das Wissen, dass direkt hinter ihr der Leichnam ihrer Schwester hing, verstörte sie, aber Patricia hatte schlicht nicht die Kraft, sie selbst abzuschneiden. Sie wollte zum Telefon gehen …

… und brach fast noch mal zusammen.

Im Durchgang zum Wäscheraum stand Sergeant Trey, als wäre er gerade zur Hintertür hereingekommen. Er wirkte genauso erschrocken wie sie.

»Verflixt, Miss White. Sie ham mir ’nen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Patricia sah ihn irritiert an.

»Komm gerade von draußen. Vor ’ner Stunde ungefähr hab ich durchs Fenster in der Wache Ernies Truck vorbeifahren sehn, aber Judy is’ gefahren«, erklärte er. »Also bin ich raus und in den Dienstwagen gesprungen, aber der Tank war fast leer, also musst ich erst an die Tankstelle. Bis ich das erledigt hatte, war Judy schon hier und …«

Er blickte zu der Leiche.

»Sie … haben sie fahren sehen?«, fragte Patricia zögerlich.

»Ja, und ’s tut mir so leid. Wenn mein verdammter Tank nich’ leer gewesen wär, wär ich vielleicht rechtzeitig hier gewesen, um sie aufzuhalten.«

»Aber …« Seine Ausführungen verwirrten sie nur noch mehr. »Aber Sie sind doch gerade erst reingekommen! Sie scheinen gar nicht überrascht, dass sie Selbstmord begangen hat?«

»Ich wusst’s schon. Ich habe sie vor etwa fünf Minuten gefunden«, sagte er. »Also bin ich wieder raus zum Auto, um die State Cops anzufunken. Dann kam ich wieder rein und traf Sie.«

»Oh.« Patricia sah ihn unverwandt an. Etwas stimmte nicht. »Aber … Ihr Funkgerät hängt doch an Ihrem Gürtel.«

Treys Blick schoss zu seinem Waffengurt, wo in einem Lederholster sein Motorola hing. »Ja, ähm, klar, aber das is’ nur mein, ähm, Außenfunkgerät.« Treys Blick wanderte umher. Er biss sich kurz auf die Lippe, dann fiel seine gespielte Coolness von ihm ab. »W… Wissen Sie, dieses Funkgerät, ähm, es hat nich’ die Frequenz der State Police. Nur die Frequenzen für die Wache und das County.«

»Warum das County und nicht der Staat?«

Trey blinzelte. »Das … na, so … so funktionieren Frequenzen nun mal.«

Patricia dachte nicht über das nach, was sie als Nächstes sagte. Sie sprach es einfach aus. »Ich glaube Ihnen nicht. Sie verhalten sich, als würden Sie lügen. Sie benehmen sich wie ein Staatsanwalt, der genau weiß, dass sein Fall Mist ist.«

Wieder blinzelte Trey, sein Gesicht war ausdruckslos. Dann setzte er sich an den Küchentisch und richtete seine Waffe auf Patricia. »Verdammt noch mal, Patricia. Warum konntest du’s nich’ gut sein lassen?«

Patricias Herz hämmerte so laut, dass sie es hören konnte. »Sie haben meine Schwester umgebracht, richtig?«

»Scheiße«, murmelte er. Der Fluch war an ihn gerichtet, nicht an Patricia. »Ja. Willste wissen, wie ich’s gemacht hab? Ich hab sie mir nach dem Essen bei den Squattern geschnappt und sie weit draußen an der Bucht in ’nem alten Schuppen gefesselt. ’n paarmal hab ich ihr das Hirn rausgevögelt, dann hab ich die Schlampe im Wald aufgeknüpft.« Er zuckte gleichgültig die Achseln. »Dann hab ich sie hinten auf Ernies Truck geworfen, sie hergebracht und mit demselben Seil an den Dachsparren gehängt. Ganz einfach. Wer würd das schon anzweifeln? Eine gestörte Alkoholikerin, depressiv, seit Dwayne abgemurkst wurde. Sieht doch aus wie die typische Witwe, die’s nich’ aushält, ohne ihren Mann leben zu müssen. Passiert ständig.«

»Sie ist nicht die Einzige, die Sie umgebracht haben, oder?«

Trey schnaubte. »Diese Landeier? Squatter? Niemande wie Ernie? Die zählen doch nich’. Aber bei dir is’ das anders. Du kannst nich’ einfach so verschwinden. Du kannst nich’ tot wiederauftauchen, die Taschen voller Dope. Das würd niemand glauben. Du bist kein Redneck, du bist ’ne Großstadtanwältin. Jemand würd kommen und rumschnüffeln.« Er schüttelte den Kopf. Plötzlich wirkte er erschöpft. »Du hast alles versaut.«

In sich gekehrt blickte Trey an ihr vorbei. Patricia stand mit dem Rücken an der Wand. Der Durchgang zur Eingangshalle war nur wenige Zentimeter entfernt. Als sie sich einen kleinen Schritt zur Seite schob …

Trey entsicherte die Pistole. »Glaub nich’, dass ich’s nich’ machen würd. Scheiße, seit über ’nem Monat leg ich Leute um.«

»Sie und wer noch? Sutter? Er muss Ihnen doch geholfen haben.«

»Nee, der fette alte Kerl ließ sich nich’ überzeugen. Nich’ mal als er das Geld echt brauchte. Erst waren’s nur ich und Dwayne. Es sollten einfach nur ’n paar Squatter verschwinden – damit die andern Angst kriegen. Aber das reichte nich’ aus, wir mussten härtere Geschütze auffahren. Also ham wir uns die Hilds vorgenommen und ihnen das Crystal untergeschoben, damit’s aussah wie zwei Drogengangs in ’nem Revierkampf. Dann ham wir die Ealds abgefackelt und genug Mist in ihrer Hütte versteckt, dass es aussah wie in ’nem Methlabor.«

»Damit die State Police annimmt, die Squatter würden eine der Gangs bilden?«, fragte Patricia.

»Klar. Und es funktionierte auch. Wir ham Ricky Caudill für die Drecksarbeit angeheuert. Die ham übernommen, nachdem Dwayne ermordet worden is’.«

Irgendwie schaffte es Patricia, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. »Lassen Sie mich raten. Gordon Felps hat das alles eingefädelt.«

Trey sah beeindruckt auf. »Genau, der Kerl mit dem Geld. Kapierst du’s nicht? Agan’s Point is’ ’n beschissenes Loch voller beschissener Leute ohne Zukunft, und ich bin einer davon. Aber Gordon Felps hätt alles verändert, hätt die Stadt zu etwas Besonderem gemacht. Und es hätt sich für jeden gelohnt, der ihm hilft.

Scheiße, deine Schwester hätt einfach nur ihr Grundstück an Felps verkaufen müssen, dann wär alles gut gewesen. Aber nein, die dumme Schlampe konnt ja die beschissenen Squatter nich’ fallen lassen – als wären die so was wie ihre verschissene Familie, ihre Waisenkinder. Wie eine von diesen alten Verrückten, von denen man immer liest, die alle möglichen Streuner aufnimmt.«

Er zeigte auf Judys hängenden Leichnam. »Das hat sie nun von ihrer Loyalität zu den verfickten Squattern. Wir mussten sie ausm Weg schaffen. Wenn sich kleine Leute großen Veränderungen in den Weg stellen, dann werden sie überrollt. Dieser ganze Kleinkram macht mich krank. Es macht mich krank, für alle der Depp zu sein, in ’ner schwanzlosen Zweimannwache in ’ner wertlosen Kackstadt. Aber wenn Agan’s Point erst mal aufblüht und die ganzen Reichen Felps’ Luxuswohnungen kaufen, dann werd ich endlich zu ’nem richtigen Polizeichef. Und das werd ich, glaub bloß nich’, dass du mich aufhalten kannst. Wir müssen nur den Plan ein wenig anpassen.«

»Wegen mir«, stellte Patricia fest.

»Mhm. Ich schätz, morgen wirste zurück nach Washington fahren.«

»Was?«

»Du fährst zurück nach Washington, und dabei wirst du ’nen unglücklichen Unfall mit deinem schicken Caddy haben. Weit genug von hier entfernt, dass deine Leute in D. C. es auch glauben.«

»Das werden sie auf keinen Fall glauben, Trey. Außerdem habe ich sowohl meinem Boss als auch meinem Mann längst erzählt, dass ich Sie und Felps verdächtige, etwas mit all diesen Morden zu tun zu haben.«

Trey lächelte. »Ich erkenn Bullshit, wenn ich ihn höre. Und was da grad aus deinem Mund kam, is’ astreiner Blödsinn.« Er atmete durch und stand dann auf. »Na los, erst mal ’n bisschen Spaß.« Er trat direkt vor sie.

Patricias Herz raste. »Ich habe sehr viel Geld, Trey.«

»Nich’ genug.«

»Seien Sie nicht dumm. Wenn Sie mich umbringen, wird es jemand erfahren.«

»Nein, das glaub ich nich’.« Mit diesen Worten schoss seine Hand nach oben und schlug den Knauf seiner Waffe gegen ihre Schläfe.

War das wieder der Traum, der Albtraum? Patricia lag nackt und mit gespreizten Beinen vor dem Fenster auf dem Bett. Die Vorhänge waren offen und das Mondlicht fiel durchs Glas.

Das ist er wieder, dachte sie überzeugt. Der Traum, den ich hatte, bevor ich Judys Leiche gefunden habe …

Aber in dem Traum war da überhaupt kein Vorhang gewesen, und die Uhr, die jetzt ganz normal klang, hatte wie wild getickt. Im Traum hatte sie gelähmt auf dem Bett gelegen, jetzt dagegen …

Sie drehte ihren Kopf in alle Richtungen und bemerkte, dass ihre Hand- und Fußgelenke an die Bettpfosten gefesselt worden waren.

Als sie sich an die Szene in der Küche erinnerte, übermannte sie die Furcht. Trey hatte Judy umgebracht und es wie einen Selbstmord aussehen lassen. Er und seine Komplizen waren es, die sämtliche Morde zu verantworten hatten, nicht irgendwelche Drogenringe. Und all das nur, um die Squatter zu verunglimpfen und vom Grundstück zu vertreiben, damit Judy endlich an Felps verkaufte.

Aber Judy wollte nicht, also haben sie auch sie umgebracht …

Patricia schluckte. Ihr wurde übel.

Und jetzt bin ich an der Reihe.

Vermutlich würde Trey sie erwürgen und dann einen Autounfall fingieren. Aber erst nachdem er sich ein wenig mit ihr vergnügt hatte.

Er stand versteckt im Schatten der Zimmerecke. Jetzt trat er ein paar Schritte vor, aus der Dunkelheit ins strahlende Mondlicht. Er hatte sein Hemd ausgezogen und legte gerade seinen Waffengurt ab. Dann ließ er die Hose zu Boden fallen. Patricia war dankbar, dass der Mond die einzige Lichtquelle war; er verbarg die Details. Treys Körper war mager wie der eines Schakals. Die Vorfreude auf den Mord – und auf das Davor – hatte ihm bereits eine Erektion beschert.

»Gut, du bist wach«, sagte er. »Macht keinen Spaß, ’n Mädel zu knallen, das bewusstlos is’. Bin gespannt, ob du ’ne Schreierin bist wie deine Schwester. O ja, Baby, das macht mich an. Kannst schrein, so viel du willst. Hier hört dich niemand.«

Angst drückte sie regelrecht nieder. Sie weinte. Ich hätte schon vor Tagen nach Hause fahren sollen, zu meinem Mann. Warum musste ich nur bleiben?

Die eine Hälfte seines Körpers erschien im Mondlicht schneeweiß, die andere lag schwarz im Dunkeln. Er zeigte zum Fenster. »Du hast bestimmt nich’ gewusst, dass ich ’n paar Nächte lang hergekommen bin, um dich durchs Fenster zu beobachten. Mann, du bist echt ma’ ’n hübscher Anblick, ich sag’s dir, wenn du dich so nackt rumwälzt und im Schlaf an dir rumspielst. Du verdorbenes Stück.«

Ihre Übelkeit verdreifachte sich. »Himmel, und ich habe geglaubt, es wäre Ernie gewesen.«

Trey schnaubte. »Ernie? Das lahme Stück Scheiße? Ich hab ihm das Rückgrat gebrochen, bevor ich ihn ins Wasser gesteckt hab … So konnt er zugucken, wie die Krebse ihn bei lebendigem Leib fressen. Der Wichser.«

»Aber er hat dir doch ebenfalls geholfen, oder etwa nicht? Er hat den Hafen angezündet – das hat die State Police gesagt.«

Trey runzelte die Stirn. »Der Redneck hat ’nen Dreck angezündet. Ich war das. Er wollt mich aufhalten, also hab ich ihm den Arsch versohlt, ihm Dope untergeschoben und ihn den Krebsen gegeben.«

Trotz ihres Entsetzens empfand Patricia Erstaunen, sogar Erleichterung. »D… Das wusste ich nicht.«

»Ich wette, was andres weißte auch nich’.« Treys Stimme klang jetzt bedrohlich. Er machte irgendetwas an seinem Gesicht, und dann …

Patricia kniff die Augen zusammen, um im Dunkeln etwas erkennen zu können.

Trey entfernte eine Zahnprothese, eine Brücke. Als Patricia die Wahrheit erkannte, musste sie sich beherrschen, um sich nicht zu übergeben.

Trey fehlten zwei seiner Schneidezähne.

»Jetzt erinnerste dich an mich, oder?«, säuselte er.

»Mein Gott«, keuchte sie. »Ich dachte, es wäre Ernie gewesen. Ihm fehlten zwei Schneidezähne, als die Sanitäter ihn aus der Bucht geholt haben.«

»Ah, stimmt, da war ja was. Als er und ich am Hafen gekämpft ham, hab ich ihm ’n paar Zähne ausgeschlagen. Hab ihm auch ’ne Rippe gebrochen, ehe ich seine Lichter ausgeknipst hab. ’s passt mir nich’, wenn Ernie die Lorbeeren für meine Eier kriegt, klar? Ich hab dir damals in Bowen’s Field die Jungfräulichkeit ausgetrieben.«

Patricia wollte am liebsten sterben.

»Hab dich nackt schwimmen sehn«, gab Trey zu. »Konnt nich’ dagegen an. War ja damals selbst noch ’n junger Bock. Ich mein, ’n Mädel, das nachts ganz allein im Wald nackt badet, das bettelt doch drum.«

»Du machst mich krank«, stieß Patricia hervor. Sie spannte ihre Muskeln unter den Fesseln an.

»Du warst damals ’n ganz schönes Sahnestück. Biste immer noch«, sagte Trey und musterte ihren Körper eingehend. »Tatsächlich biste jetzt sogar noch hübscher. Und weißte, woran ich mich auch noch erinner? Wie gut’s dir gefallen hat …«

Trey steckte seine Zungenspitze durch die Zahnlücke, und in dem Moment überfiel sie der Rest der ekelhaften Erinnerung: wie er vor über 25 Jahren ihre Klitoris durch die Zahnlücke gesaugt hatte, als sie mitten in Bowen’s Field gefesselt am Boden gelegen hatte – genau wie sie jetzt an dieses Bett gefesselt war.

»Jawohl, ’s hat dir damals gefallen und ’s wird dir heut auch wieder gefallen«, versprach er. »Du wirst nun nich’ mehr lang leben, da kannste dich genauso gut zurücklehnen und’s genießen.«

Er kam langsam auf das Bett zu …

»Warte«, sagte sie. »Beantworte mir noch eine Frage.«

Er kicherte. »Das is’ wohl das Mindeste, was ich machen kann.«

»Erklär mir eins. Ihr habt die Squatter ermordet und es aussehen lassen, als hätten Drogendealer es getan, richtig?«

»Japp, und ’s hat funktioniert.«

»Also habt ihr sie umgebracht«, wiederholte Patricia. »Aber wer hat euch umgebracht?«

Trey verstummte.

»Los, Trey, erzähl mir den Rest der Geschichte. Dwayne hat die Squatter ermordet, dann hat jemand Dwayne ermordet. Junior Caudill hat die Hilds ermordet, dann hat jemand ihn ermordet. Stimmt’s?«

Trey zögerte, stimmte dann aber zu. »Ja.«

»Und was ist mit Juniors Bruder? Er hat doch auch für dich und Felps gearbeitet – das hast du mir in der Küche erzählt. Er hat die Ealds auf dem Gewissen, nicht wahr?«

»Stimmt, hat sie in ihrer Hütte abgefackelt.«

»Warum habe ich diese seltsame Ahnung, dass Ricky Caudill auch tot ist? Ist er’s?«

Trey nickte. »Er is’ im Gefängnis an irgend’ner Krankheit verreckt.«

»Eine Krankheit? Was ist passiert?«

Trey wurde nervös. »Keine Ahnung – bin ja kein Arzt. ’s muss irgend’ne Krankheit oder so sein. Ihn hat niemand umgebracht – er war in der Gefängniszelle, als es passiert is’.«

»Als was passiert ist?«, beharrte Patricia.

»Sah aus, als hätt er sein ganzes Blut verloren.«

»Ach ja? Und Dwayne hat seinen Kopf verloren, aber es gab keine Anzeichen einer Wunde. Und Junior hat seine ganzen inneren Organe verloren. Ich war bei Juniors Autopsie, Trey, und das Innere seines Körpers war leer . Aber es gab keinen Einschnitt. Wie entnimmt man einem Mann seine Innereien, ohne ihn erst mal aufzuschneiden?«

»Keine Ahnung«, gab Trey zu.

»Ricky Caudill hatte also kein Blut mehr. Gab es da Einschnitte? Hat jemand seine Adern geöffnet?«

»Ich hab seine Leiche nich’ untersucht, ich hab sie nur vergraben.«

»Du hast gesagt, er sei in der Gefängniszelle gestorben. Ich nehme an, dass der Boden voller Blut war, oder?«

»Nein!«, brüllte Trey. »Der Boden war sauber und es gab keine Einschnitte an ihm!«

Stille.

Die Uhr tickte weiter, und von draußen hörte Patricia das Summen der Zikaden. »Sag mir noch was, Trey.«

»Nein, Scheiße.« Er nahm eines der Kissen vom Bett. »Ich hab mir deinen Arsch schon vorgenommen, als du 16 warst – das muss reichen. Ich werd dich jetzt einfach ersticken und fertig.«

Er hob das Kissen, um es ihr auf das Gesicht zu drücken.

»Hat Ricky Caudill am Tag seines Todes einen Brief bekommen?«, fragte Patricia hastig.

Das Kissen erstarrte und wurde dann zur Seite geworfen.

»Woher weißt du das?« Treys Stimme knirschte.

»Es ist so, oder? Ein Blatt Papier mit einem einzigen Wort darauf, handgeschrieben. Wenden, etwas in der Art, nicht wahr? Es sieht aus wie mit Kreide oder Staub geschrieben. Er hat so einen Brief bekommen, nicht wahr?«

Agan’s Points neuer Polizeichef stand schweigend im Mondlicht.

»Dwayne hat auch so einen Brief bekommen …«

»Blödsinn!«

»Doch. Ich habe ihn im Mülleimer im Büro gefunden. Der Poststempel war vom Tag seines Todes. Sieh nach, wenn du mir nicht glaubst, er ist bestimmt noch da. Und Junior Caudill hat auch so einen Brief bekommen.«

»Nein, hat er nicht.«

»O doch, Trey! Ich habe ihn in einem Beweismittelbeutel in der Gerichtsmedizin gesehen.«

Jetzt stand Trey der Mund offen und seine Augen wurden größer und größer. Er hatte offenbar große Angst.

»Trey?«, fragte Patricia.

Trey sah sie nur an.

»Trey?«

Er blickte fast flehend auf sie herab.

»Trey, hast du auch so einen Brief bekommen? Hast du heute einen bekommen?«

Treys Adamsapfel hüpfte, als er schwer schluckte. »Er steckt in meiner Hosentasche. Der Postbote hat ihn heute gebracht. Kein Absender. Aber ich weiß, wo er herkommt, und ich hab keine Angst.«

»Wer hat ihn geschickt, Trey? Kommt er von …«

»Er is’ von Everd Stanherd, dem kleinen Wichser. Wieder dieser Hinterwäldler-Aberglaube-Mist. Er will uns nur Angst machen. Aber ich hab keine Angst.« Er schluckte wieder. »Ich glaub nich’ an schwarze Magie oder was für ’nen Voodoo-Kram er da abzieht.«

Jetzt stand Patricia der Mund offen. »Jeder, der so einen Brief bekommen hat, ist tot. Sie sind gestorben, weil ihnen etwas weggenommen wurde. Blut, Organe, Dwaynes Kopf.«

»Mir wurd nix weggenommen.« Seine Worte wurden immer undeutlicher …

»Trey«, sagte Patricia. »Ich finde, du solltest das Licht einschalten und in den Spiegel sehen. Etwas geschieht mit dir.«

»Nix bassiert!«

Was ging da vor? Patricia versuchte angestrengt, etwas zu erkennen.

»Mir nimmd niemad waff weg!«, rief Trey. Er wandte sich schwankend um, um aus dem Zimmer zu fliehen, und torkelte hin und her. Als er nach dem Türknauf griff, wurden seine Finger weich wie gekochte Nudeln, dann bog sich sein Arm durch und sackte wie ein Tentakel herab.

Ehe er vollständig zusammenbrach, sah Patricia seinen Kopf einfallen, als hätte sich sein Schädel unter seinem Gesicht aufgelöst.

Einige Sekunden später ging die Tür auf und mehrere Gestalten traten ein. Einige hatten Kerzen aus Tierfett bei sich. In dem flackernden Lichtschein erkannte Patricia Everd Stanherd.

»Wenden«, erklang das bizarre Wort in dem noch bizarreren Squatter-Akzent. »Das Wort entstammt unserer heiligen Sprache, aus einer Zeit noch vor den Druiden …«

Sie hatten Patricia losgebunden, in einen Bademantel gewickelt und nach draußen getragen. Dann hatten sie sie in den Wald gebracht, denn der Wald war ihr wahres Zuhause.

Everd Stanherd, seine Frau und ein paar der übrigen Ältesten saßen zusammen mit Patricia in einem Kreis. Ihre Kerzen flackerten.

»Wir können Ihnen das nicht erklären, denn es ist geheim. Aber merken Sie sich dies: Lange vor Jesus Christus sagte Gott ›Auge um Auge‹.«

Patricia musste erst noch richtig zu sich kommen. Ich lebe. Und es war kein Traum …

»Sie sind ein Hexer oder so was«, stieß sie hervor.

»Nein. Ich bin ein Sawon – das bedeutet Seher«, proklamierte Everd. Sein Gesicht war kaum zu erkennen. Wie die Gesichter der anderen Anwesenden auch.

Mondlicht sickerte durch die Äste.

Die Zikaden zirpten.

»Sawon.« Das Wort kam Patricia bekannt vor. Der Squatter auf dem Pier hatte ihnen davon erzählt. »Sie sind also so etwas wie der Weise des Clans, eine Art Anführer?«

»Es bedeutet … Seher «, wiederholte er.

»Was bedeutet Wenden? «, fragte Patricia nun.

Die Stimme eines anderen Ältesten ächzte wie ein Todeskeuchen. »Es bedeutet fort

Fort, dachte Patricia. Dwaynes Kopf, Juniors Innereien. Ricky Caudills Blut. Und Treys Knochen … alles fort.

»Sie haben sie verflucht«, bemerkte Patricia. »Jeden, der den Squattern schaden wollte. Es war wirklich Magie.«

»Wir können nicht mehr sagen«, flüsterte Marthe Stanherd.

Patricia konnte nicht widerstehen. »Aber … wie?«

»Wir können nicht …«, setzte Marthe an, aber Everd lehnte sich vor und stoppte sie. Er hielt etwas in seiner verkrümmten Hand. Ein Gefäß?, fragte sich Patricia. Es war ein kleiner Tontopf, etwa so groß wie ein Einmachglas. In den Topf war ein von den vertrauten Kringeln und Linien der Squatter-Kunst umgebenes Kreuz geritzt worden.

»Das verbrannte Blut«, erklärte Everd. »Es ist unser Sakrament, von dem Sawon vor mir. Und wenn ich sterbe, wird mein Blut das nächste Sakrament werden für den Sawon, der mir nachfolgt. Einer der Männer, die heute Nacht mit uns hier sind.«

Einige der Anwesenden im Kreis wirkten verblüfft, als Everd den Deckel von dem seltsamen Gefäß nahm und es Patricia reichte.

Sie blickte hinein und sah …

Staub?

Bräunlicher Staub. War das die matte, kreideartige Substanz, mit der die Todesbriefe geschrieben worden waren? Es war nur noch sehr wenig übrig, gerade genug, um einen Rand am Boden zu bilden.

Verbranntes Blut, wiederholte Patricia in Gedanken.

»Es ist gesegnet«, sagte jemand.

Und ein anderer: »Durch einen Glauben, der älter ist als jede Religion …«

Patricia war verwirrt, aber sie wusste auch, dass es Dinge gab, die sie nicht verstehen sollte. Die niemand verstehen sollte.

»Ich sterbe«, sagte Everd mit einem Lächeln, das in der Dunkelheit über ihnen zu schweben schien. »Schon bald werde ich das nächste Sakrament werden. Ich werde schon bald wenden sein. Ich werde schon bald fort sein.«

Alle standen auf und bliesen ihre Möwenfett-Kerzen aus.

»Sie sind ein guter Mensch.« Everd ging voran. »Bleiben Sie gut.«

»Aber wo gehen Sie hin?«, rief Patricia von ihrem Platz aus.

»Dorthin, von wo wir kamen: nirgendwohin. Überallhin.«

Wie verlaufende Tintenflecken verschwand einer nach dem anderen zwischen den Bäumen und verschmolz mit der Dunkelheit.

Eine letzte Frage fiel ihr ein. »Warten Sie! Was ist mit Gordon Felps?«

Eine Hand tätschelte ihre Schulter. Das faltige Gesicht des letzten Ältesten neigte sich zu ihr und flüsterte: »Keine Sorge wegen Gordon Felps. Wir haben uns um ihn gekümmert.«

Als Patricia erneut aufblickte, waren sie weg.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang durchquerte Patricia das Tor der Baustelle. FELPS CONSTRUCTION, INC. WIR BAUEN LUXURIÖSE HÄUSER , stand auf einem Schild am Zaun.

Es war ihr als der sinnvollste Ort erschienen, um ihre Suche zu beginnen, denn sie wusste nicht, wo in der Stadt Felps wohnte. Schon von der Straße aus entdeckte sie seinen Wagen vor dem Büro-Container.

Unter ihren Füßen knirschte der Kies, als sie über das Gelände lief. Sie stieg die schmalen Holzstufen an dem Container hoch und blieb dann stehen. Kurz überlegte sie zu klopfen, aber dann drehte sie einfach an dem Knauf. Die Tür öffnete sich.

Er ist bestimmt nicht hier, dachte sie. Drinnen war es stockdunkel. Aus irgendeinem Grund hatte sie keine Angst vor dem, was sie finden mochte.

»Felps? Sind Sie da?«

Eine knarzende Stimme antwortete. »Wer ist da?«

»Patricia White.«

Stille. »Dem Herrn sei Dank.«

»Trey ist tot. Ich weiß alles, Ihr Plan, die Leute, die Sie bezahlt haben, um die Squatter in Misskredit zu bringen. Alles.«

»Es ist nicht mehr wichtig.«

Er musste ganz hinten im Container sein; sie konnte nichts erkennen. Seine leise Stimme begann sie zu ängstigen. Etwas daran klang so hoffnungslos.

Sie tastete die Wand nach einem Lichtschalter ab, fand aber keinen. Verdammt, ich kann nichts sehen!

»Bitte kommen Sie her«, bat Felps sie. »In der obersten Schreibtischschublade liegt eine Pistole. Ich will, dass Sie sie nehmen und mich töten. Um Himmels willen – bitte. Töten Sie mich.«

Sie fand keinen Lichtschalter, aber in dem kleinen Streifen Mondlicht, das durch ein winziges Fenster fiel, erkannte sie eine Taschenlampe, die auf einem Aktenschrank lag.

»Bitte«, flehte Felps.

Sie schaltete die Taschenlampe ein, richtete sie nach vorn und …

Erstarrte.

Auf den ersten Blick sah Gordon Felps ganz normal aus. Er saß in einem bequem wirkenden Bürostuhl. Doch dann bemerkte Patricia etwas.

Ach du Scheiße!

Seine Ärmel waren leer. Sie senkte die Taschenlampe. Seine Hosenbeine waren ebenfalls leer. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief, den sie nicht einmal mehr genauer ansehen musste.

Wenden, dachte sie. Fort . Gordon Felps’ Arme und Beine waren fort.

»Gehen Sie nicht! Ich kann so nicht leben!«, rief er.

Aber da verließ sie bereits den Container.

»Kommen Sie her, nehmen Sie diese Waffe und schießen Sie mir verdammt noch mal in den Kopf – ich FLEHE SIE AN! «

Patricia schaltete die Taschenlampe aus. Sie ging nach draußen, schloss leise die Tür des Containers hinter sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen.