Kapitel 18

 

Bajor,

Sternzeit 55597.0

 

Kirk ließ sich vom Licht der Lampen leiten, die in den Zelten des Lagers brannten, als er die Plattform zurück zum Ufer steuerte.

Die drei jungen Gelehrten warteten auf ihn: Freen Ulfreen, Rann Dalrys und Exsin Morr, der angeblich Ben Sisko begegnet war.

Sie stapften durchs Wasser, um die Plattform zu sichern. Freen band ein Seil an der Reling fest – mit zu vielen Knoten und völlig unprofessionell. Rann und Exsin halfen Kirk von der Plattform herunter und stützten ihn, als er die Höhe des Sprungs falsch einschätzte und das verletzte Knie erneut nachgab.

In einen dicken Umhang gehüllt trat Aku Sale von der Wassergrenze zurück. Zwar wirkte er sehr besorgt und schien es kaum abwarten zu können, Kirk Fragen zu stellen, aber er bot ihm zuerst eine kleine Karaffe an, die etwas Heißes enthielt, das wie süßer Essig roch. Kirk versuchte, mit dem Mann zu reden, aber er schaffte es nicht. Die Zähne klapperten zu heftig.

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Alte. »Wir haben alles gesehen … wir haben alles gesehen. Trinken Sie dies. Es ist erhitzter torlanischer Wein.«

Aku füllte einen metallenen Becher mit der Flüssigkeit aus der Karaffe, aber Kirks Hände zitterten so sehr, dass er ihn nicht halten konnte. Er gestattete es dem alten Gelehrten, ihm den Becher an die Lippen zu setzen.

Kirk spürte weder Hitze noch Kälte, nur den Druck des Bechers, und er schloss daraus, dass seine Lippen taub waren. Aber der Wein brannte, nachdem er Zunge und Kehle hinter sich gebracht hatte.

»Ich habe ihn verloren«, krächzte Kirk. Seine Stimme klang so rau, dass sie einem Fremden zu gehören schien.

Aku klopfte Kirk auf die kalte Hand und gab ihm noch einen Schluck vom heißen Wein.

»Ich habe ihn verloren«, wiederholte Kirk.

Andere umringten ihn. Jemand legte ihm eine Decke über die Schultern und anschließend leiteten ihn Hände über den Hang zu den Zelten.

Er konnte das rechte Bein nicht mehr belasten, aber der Schmerz im Knie bedeutete ihm längst nichts mehr. Und obgleich die Leute um ihn herum sprachen: Das einzige Geräusch, das er wirklich hörte, stammte von den Wellen hinter ihm – ihr Rauschen rief ihn zurück, zu seinem Freund, zu dem Schicksal, das ihn ereilt hatte.

Jene Nacht brachte unerwünschten Schlaf, den Schlaf der Erschöpfung, und Kirk träumte von Wellen und Dunkelheit, von riesigen, formlosen Schatten und Dingen, die sich in ihnen bewegten. Einmal erwachte er und schnappte nach Luft, davon überzeugt, dass ihn etwas unter Wasser festhielt und er nie wieder würde atmen können.

Aber es war nur ein Traum, flüsterte eine sanfte Stimme.

»Jean-Luc …?«, fragte Kirk. War alles ein Traum gewesen, ein Albtraum?

Nein.

Jean-Luc war tot.

Im matten Glühen der Zeltlampe sah Kirk den weißen Bart und das strenge Gesicht von Prylar Tam.

»Schlafen Sie«, sagte der Prylar.

Auf keinen Fall, dachte Kirk, und dann zogen die Schatten ihn erneut in die Tiefe.

 

Der Morgen war grau und bedeckt. Regentropfen tüpfelten den Boden außerhalb des Zelts.

Kirk strich die Zugangsplane beiseite und hielt das, was er sah, für angemessen. Die kalte, farblose Welt des nassen Lagers spiegelte seine Empfindungen wider. Auch die Welt schien zu trauern und das gehörte sich so.

Kirks Augen fühlten sich angeschwollen an und sein Hals war wund. Ob Letzteres am geschluckten Meerwasser oder Professor Akus heißem Wein lag, ließ sich kaum feststellen. Ein dicker, aus mehreren Schichten bestehender Verband umgab sein rechtes Bein von der Mitte des Oberschenkels bis zur Wade. Das rechte Hosenbein war abgeschnitten worden, damit man ihm den Verband hatte anlegen können. Aber es handelte sich nicht um die Hose, in der er nach Bajor gekommen war, sondern um eine andere in ähnlichem Stil. Er fragte sich, welche anderen Ereignisse der vergangenen Nacht sich seiner Kenntnis entzogen. Eigentlich erinnerte er sich nur daran, mit der Plattform zum Ufer zurückgekehrt zu sein. Es beunruhigte ihn, sich nicht an alle seine Aktivitäten zu entsinnen, was auch immer der Grund dafür sein mochte.

Neben dem schmalen Bett hatte jemand ein frisches Hemd, einfache Sandalen und einen weiten braunen Umhang bereit gelegt. Kirk streifte die Kleidung über und humpelte dann aus dem Zelt. Er roch etwas, das über offenem Feuer kochte, und als er um die Ecke trat und zum offenen Bereich zwischen den Zelten sah, bemerkte er sechs Personen, die dort am langen Holztisch saßen, wo Picard und er am vergangenen Tag über die Erste Direktive diskutiert hatten.

In Kirks Brust krampfte sich etwas zusammen.

Picard hatte ihm gestern zweimal das Leben gerettet.

Kirk hatte niemanden vor dem Tod bewahrt.

Freen Ulfreen stand auf und trat Kirk entgegen, um ihn zu stützen und zu einem der einfachen, aus Holz und Stoff bestehenden Stühle am Tisch zu führen. Kirk nahm Platz und der Verband zwang ihn, das rechte Beine gestreckt zu halten.

»Danke für die erste Hilfe«, sagte er und seine Stimme klang noch immer sehr rau. Er ließ den Blick umherschweifen, um festzustellen, wer seinen Dank entgegennahm. Niemand reagierte darauf.

Dann sah Exsin Morr auf seinen Teller mit Brei und erwiderte: »Lara hat Sie behandelt. Mit medizinischen Dingen kann sie gut umgehen …«

»Ah«, sagte Kirk. Die Köchin saß nicht am Tisch, aber ein Topf über dem Feuer deutete darauf hin, dass sie bereits tätig geworden war.

»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte Freen, als die Stille unangenehm zu werden begann.

Kirk verzieh dem jungen Mann seine Nervosität und die bedeutungslose Frage. Er bezweifelte, dass er jemals wieder gut schlafen oder an geselligem Beisammensein Freude finden würde.

»Ich verlange Antworten«, sagte Kirk. Er mochte seine Stimme noch nicht wieder voll unter Kontrolle haben, aber es gelang ihm durchaus, Autorität zum Ausdruck zu bringen.

Dr. Rowhn antwortete ihm in einem ähnlichen Ton. »Sie gehören nicht hierher.«

»Das interessiert mich nicht«, erwiderte Kirk schonungslos. »Professor Nilan wurde ermordet. Sedge …«

Rowhn unterbrach ihn. »Das wissen Sie nicht!«

»Doch, das weiß ich«, beharrte Kirk. »Ein Konverterunfall ist möglich. Aber einer, der einen Mann tötet und alle Kommunikationsgeräte beschädigt? Das ist nicht möglich.«

»Dies ist nicht Ihre Welt.« Diesmal gab Rowhn jedem Wort den Klang einer Drohung.

Kirks Blick warnte sie davor, ihn noch einmal zu unterbrechen. »Sie ist es jetzt. Nilan: ermordet. Sedge Nirra: ermordet. Picard …«

»Aber … das Boot explodierte!« Dieser Einwand stammte von Rann Dalrys.

»Ja«, pflichtete ihm Kirk bei. »Nachdem Sedge von einem Disruptorstrahl getroffen wurde.«

Erneut breitete sich Stille aus und Kirk beobachtete, wie die Bajoraner Blicke wechselten. Sie suchten nach einer Bestätigung für seine Worte und fanden keine.

»Niemand von Ihnen hat es gesehen?«, fragte Kirk. Er wandte sich an Professor Aku. »Gestern Abend wiesen Sie darauf hin, Sie hätten alles gesehen.«

»Die Explosion«, erklärte der alte Archäologe. »Ich habe die Explosion gehört, den Rauch und das Feuer gesehen. Trufor und Kresin … Sie liefen sofort zur Plattform.«

Kirk musterte die Bajoraner nacheinander. »Sedge Nirra wurde von einem Disruptorstrahl getroffen. Ich habe gesehen, wie er sich auflöste.«

Corrin Tal räusperte sich. Er saß am Ende des Tisches, getrennt von den anderen. »Wir haben hier keine Waffen.«

»Keine Waffen in einem Lager mitten in der Wildnis?«, fragte Kirk skeptisch.

»Zur Ausrüstung der Plattform gehören einige Bolzenpistolen«, sagte Exsin.

»Es gibt hier einen Disruptor«, stellte Kirk fest. »Entweder hier im Lager oder in der Nähe versteckt. Wir können Ihre archäologischen Sensoren verwenden und …« Er hielt inne, als er Exsins entschuldigenden Gesichtsausdruck sah und seine Bedeutung verstand. »Sie haben keine archäologischen Sensoren.«

Die drei jungen Bajoraner schüttelten den Kopf.

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Captain Kirk«, sagte Rowhn kühl. »Ihre Freunde kommen in zwei Tagen. Ziehen Sie sich in Ihr Zelt zurück und bleiben Sie dort, bis sie eintreffen.«

Kirk schwieg und dachte über das nach, was er wusste. Inzwischen hatte er genug gesehen und gehört, um mit einer Einschätzung des Gegners zu beginnen. Es beunruhigte nicht, dass alle Personen am Tisch ihn bei der Suche nach dem Verantwortlichen für Picards Tod behinderten.

Picards Tod.

Die Worte klangen so hohl, so unangemessen.

Eigentlich konnte man nicht einmal von einem Mord sprechen, begriff Kirk. Zumindest nicht von einem vorsätzlichen.

Über Jahrzehnte hinweg hatte Jean-Luc Picard den gefährlichen Dienst verrichtet, die Sicherheit der Föderation zu gewährleisten und den galaktischen Frieden zu wahren. Jetzt war er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Wegen Kirk.

Und Kirk lehnte es ab, dafür die Schuld zu übernehmen.

Es gab einen Mörder in diesem Lager. Professor Nilan war sein erstes Opfer gewesen. Dann Sedge Nirra. Und weil Jean-Luc Picard in der Nähe gewesen war, hatte er ebenfalls sterben müssen.

Kirk fühlte sich noch immer halb betäubt vom Schock, von dem Verlust und jenen Dingen, die am vergangenen Abend so stark auf ihn eingewirkt hatten. Doch tief in ihm brannte auch ein Feuer, das erst dann erlöschen konnte, wenn er den Mörder von Nilan und Sedge fand.

Denn er wusste, dass die gleiche Person auch Jean-Luc Picard auf dem Gewissen hatte.

Kirk hielt Rowhn für besonders verdächtig. Sie hatte keine fremden Besucher im Lager gewollt und Kirk praktisch aufgefordert, so schnell wie möglich zu verschwinden. Ganz offensichtlich gab es bei ihr starke xenophobische Tendenzen, aber es war auch möglich, dass ihre Haltung nicht auf planetaren Nationalismus zurückging, sondern auf etwas anderes, das sie verbarg.

Bei den drei jungen Männern Freen, Rann und Exsin sah die Sache ganz anders aus. Sie waren zu unerfahren, zeigten ihre Gedanken und Gefühle zu offen. Vielleicht wussten sie etwas, das Kirk bei seinen Ermittlungen weiterhelfen konnte, aber er hielt sie weder einzeln noch gemeinsam für fähig, mehrfachen Mord zu begehen und ihre Beteiligung an dem Verbrechen geheim zu halten.

Prylar Tam Heldron war ihm ein Rätsel. Welches Motiv konnte ein Mönch für einen Mord haben? Was Kirk über Bajor und die vielen Glaubensrichtungen auf diesem Planeten gelesen hatte, deutete auf ein gemeinsames Merkmal hin: Alle teilten eine wirkliche Hingabe an ihren Glauben. Dass Tam zu einem religiösen Orden gehörte, schloss ihn nicht automatisch aus dem Kreis der Verdächtigen aus, aber nach Kirks Ansicht kam er als Täter kaum in Frage.

Das galt auch für die Köchin Avden Lara, die Mutter des Mädchens, dem Picard und er hatten helfen wollen. Ja, auf Sedge Nirras Verdächtigenliste hatte sie an erster Stelle gestanden, aber Kirk konnte sich nicht vorstellen, dass eine Mutter durch mehrfachen Mord riskierte, ihre Tochter zu verlieren. Wenn das Mädchen bereits tot gewesen wäre und Avden Lara nichts mehr zu verlieren gehabt hätte … Unter solchen Umständen wäre Kirk bereit gewesen, sie als Täterin in Betracht zu ziehen. Aber nicht in der gegenwärtigen Situation.

Was Aku Sale betraf, den alten Professor … Er war schwach und gebrechlich, hatte Picard außerdem sehr geschätzt. Das genügte Kirk, um seinen Namen ganz unten auf die Liste zu setzen.

Corrin Tal hingegen war ebenso verdächtig wie Dr. Rowhn. Er verhielt sich seltsam und er passte nicht zu der archäologischen Gruppe. War er wirklich auf der Suche nach dem Mörder gewesen, als er Kirk und Picard in der Wüste aufgelesen hatte? Und wenn nicht … Welchen anderen Grund gab es für seine Fahrt durchs Ödland?

So berechnend und kühl überlegend, als säße er im Kommandosessel und gäbe den Befehl, einen Photonentorpedo vor den Bug eines Bird-of-Prey zu feuern, beschloss Kirk, eine erste Testsalve abzugeben. »Dr. Rowhn, es ist völlig ausgeschlossen, dass ich den hiesigen Ereignissen den Rücken kehre. Aber Ihr Beharren darauf, den in diesem Lager verübten Verbrechen keine Beachtung zu schenken, könnte als Zeichen dafür interpretiert werden, dass Sie an ihnen beteiligt sind.«

Prylar Tam sprang noch vor Rowhn auf. Professor Aku verschüttete ein Glas mit scharfem bajoranischem Tee.

»Sie haben kein Recht, solche Anklagen zu erheben«, intonierte der Prylar. Es klang so, als wollte er Segen herbeiflehen. Oder vielleicht einen Fluch. »Sie sind ein Außenweltler. Diese Dinge gehen Sie nichts an.«

Kirk blieb sitzen und legte beide Hände auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Angesichts des verletzten Knies hatte es keinen Sinn, zornigen Bajoranern gegenüberzutreten. Doch an der Schärfe seiner Erwiderung änderte sich dadurch nichts. »Prylar, Sir, diese Dinge gehen mich sehr wohl etwas an. Jean-Luc Picard … war mein Freund. Ich habe ihn hierher gebracht. Ich werde nicht gehen, ohne dass die schuldige Person …« Er sah Rowhn an, die seinem durchdringenden Blick standhielt. »… beziehungsweise die schuldigen Personen …« Er sah zu Corrin Tal, der den Blick sofort abwandte. »… für ihr Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden.«

Stille folgte. Nur das leise Klopfen der Regentropfen auf der über dem Tisch gespannten Plane war zu hören.

»Captain Kirk«, sagte Professor Aku und seine Stimme war so sanft wie die des Regens. »Bei allem Respekt … Captain Picard war mein Kollege und ich bedauere seinen Tod sehr. Ich bin sicher, dass viele um ihn trauern werden. Aber ich frage Sie: Können Sie wirklich sicher sein, dass es sich um ein Verbrechen handelt?«

Aus Achtung vor dem hohen Alter und dem freundlichen Wesen des Professors hielt sich Kirk bei seiner Reaktion zurück. »Nilans Tod war kein Unfall, Sir. Und der von Sedge Nirra ebenfalls nicht.«

Aku hob und senkte die Schultern, schien sich damit abzufinden. »Gehen wir einmal davon aus, zumindest im Fall des armen Professor Nilan. Aber Lokim Sedge … Captain, das Boot explodierte. Und es war eine sehr heftige Explosion.«

Kirks Vorrat an Geduld ging allmählich zur Neige. Jeder mit solchen Diskussionen vergeudete Moment bot Picards Mörder länger Gelegenheit, sich zu verbergen. »Sedge Nirra löste sich in Disruptorenergie auf.«

»Aber das haben nur Sie gesehen, obgleich wir alle uns im Lager oder am Ufer befanden.«

»Picard hat es ebenfalls gesehen! Deshalb sprang er und stieß mich ins Wasser.« Er hat mir das Leben gerettet, dachte Kirk.

Aku hob die weißen Brauen und in seinem Gesicht zeigte sich trauriges Mitgefühl. »Ich verstehe. An Ihrer Stelle würde ich das ebenfalls glauben wollen.«

Kirks Ärger wuchs und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er kam nicht weiter, wenn er jetzt die Beherrschung verlor, aber er war nicht daran gewöhnt, dass man immerzu sein Wort und seine Erinnerungen in Frage stellte.

»Es ist nicht etwas, das ich glaube, Professor. Ich spreche von Ereignissen, die sich zugetragen haben. Niemand von Ihnen hat den Disruptorstrahl gesehen, weil niemand von Ihnen zum Boot blickte, bevor es explodierte.«

»Jene Geschehnisse … ob ein Strahl oder die Explosion … das alles spielt keine Rolle«, sagte Prylar Tam.

Die Worte des Mönchs verblüfften Kirk so sehr, dass er schwieg und auf eine Erklärung wartete.

»Die Dinge, nach denen Sie fragen, haben nichts mit dem Tod Ihres Freunds und dem der Brüder Arl zu tun.«

»Wie können Sie so etwas behaupten?«

»Sie haben selbst darauf hingewiesen, Captain. Picard sprang. Denken Sie darüber nach. Er sprang ins Meer. Und das erhob Anspruch auf ihn. Ein tragischer Unfall, ja, aber kein Mord.«

Kirk glaubte, sich lange genug zurückgehalten zu haben. Schluss mit sondierenden Vorstößen und geschickten Fragen.

»Was verbergen Sie hier?«, fragte er zornig. »Und Sie verbergen etwas, das steht fest.«

Exsin zuckte mit den Schultern. »Wenn das stimmt … Warum hat Lokim Sie dann hierher eingeladen?«

»Auch Lokim Sedge ist tot«, entfuhr es Kirk. »Woraus folgt: Was auch immer in diesem Lager vorgeht – er wusste nichts davon.«

Dr. Rowhn schob abrupt ihren Stuhl zurück. »Es wartet Arbeit auf mich.«

Prylar Tam faltete die Hände und verneigte sich höflich vor Kirk und den anderen. »Ein anderes Mal«, sagte er und folgte Rowhn.

Die drei jungen Männer standen auf und sprachen alle gleichzeitig. »Ohne die Arl-Brüder … die Ausrüstung … muss überprüft werden … damit die Arbeit fortgesetzt werden kann.« Sie eilten fort, erweckten dabei den Eindruck, wie von einem Schlachtfeld zu fliehen.

Kirk sah von Aku zu Corrin und fragte sich, wer als Nächster gehen würde. Aber sie blieben. Der Exodus schien beendet zu sein.

»Ich glaube nicht, dass es jemand im Lager ist«, sagte Corrin Tal.

Professor Aku richtete einen überraschten Blick auf ihn. »Corrin … Sie glauben also, dass es sich um Mord handelt?«

»Das habe ich von Anfang an gesagt.« Er sah Kirk an. »Fragen Sie ihn. Er weiß es.«

Aku wandte sich schockiert an Kirk.

»Als Corrin uns in der Wüste fand, teilte er uns mit, auf der Suche nach Nilans Mörder zu sein.«

»Meine Güte«, murmelte Aku und Kirk sah, wie die Hände mit der papierartigen Haut zitterten. »Ich hatte ganz vergessen … so viele Dinge funktionieren nicht … das Ausrüstungsmaterial ist begrenzt …« Er sah Kirk an und lächelte wehmütig. »Fern der Städte ist Bajor eine gefährliche Welt, Captain. Wenn die Technik versagt, geht das eine oder andere schief.«

Kirk war oft von Technik abhängig gewesen und wusste viel zu gut darüber Bescheid, was passieren konnte, wenn sie versagte.

»Wer ist es, Corrin?«, fragte er. Ist es wirklich möglich, dass ich die Antwort so leicht bekomme? »Wer ist der Mörder und warum verübte er die Verbrechen?«

Über den Tisch hinweg griff Corrin nach einem hohen Zylinder mit Tee, der dort stand, wo Dr. Rowhn gesessen hatte. »Beantworten Sie mir zuerst eine Frage.«

»Eine«, sagte Kirk und seine Wachsamkeit nahm zu.

»Der Disruptorstrahl … War er gezielt auf Sedge gerichtet?«

Kirk dachte über die möglichen Bedeutungen dieser Frage nach und glaubte zu verstehen, worauf Corrin hinauswollte. »Er war nicht auf Jean-Luc oder mich gerichtet, wenn Sie das meinen. Das Boot lag ruhig im Wasser. Sedge stand am Motor. Picard und ich saßen uns an den Seiten des Bootes auf dem Dollbord gegenüber.«

Corrin nickte, als er Tee aus dem Zylinder in ein Glas goss. Dampf stieg auf.

»Worum geht es Ihnen?«, fragte Kirk.

»Sedge war mein Hauptverdächtiger.«

»In Hinsicht auf Nilans Ermordung?«

»Er war Geschäftsmann. Nach dem, was ich über ihn hörte, hätte er genauso gut ein halber Ferengi sein können.«

»Er trat als Schirmherr dieser Ausgrabung auf«, sagte Kirk. »Das ist keineswegs ungewöhnlich.«

»Allerdings war dies die erste von ihm finanzierte Ausgrabung. Und es geschah zum ersten Mal, dass er dem Institut etwas stiftete.«

Kirk sah an den Zelten vorbei zum grünen Binnenmeer. Die auf den Wellen tanzenden orangefarbenen Markierungsbojen waren leicht zu erkennen. »Was befindet sich dort draußen?«, fragte er.

Professor Aku antwortete sofort. »Die verlorene Stadt Bar'trila, Captain. Daran besteht kein Zweifel.«

Endlich ein Motiv, dachte Kirk, überrascht darüber, wie schwer ihm die Ermittlungen fielen. Und welche Mühe es ihn kostete, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Liegt es daran, dass ich mich für Jean-Lucs grässlichen, sinnlosen Tod schuldig fühle?

Er zwang sich, das weiterzuführen, was er begonnen hatte. »Wie wertvoll sind die Artefakte aus der Stadt?«

»Für Bajor haben sie einen unermesslichen Wert«, sagte Corrin. »Für Außenweltler … Es wären nichts weiter als Kuriositäten für einige Sammler.«

»Wenn es hier keine Möglichkeit gibt, Geld zu verdienen … In dem Fall war Sedge tatsächlich nur ein Schirmherr«, schloss Kirk.

»Er war ein Sympathisant der Cardassianer, Kirk. Vermutlich sogar ein Kollaborateur.«

»Wollte er vielleicht für die Sünden der Vergangenheit Buße tun?«

»Sedge?« Corrin schnaubte. »Wenn er etwas bedauerte, dann nur, nicht mehr Latinum verdient zu haben.«

Kirk sah kaum einen Sinn darin, das Gespräch in dieser Richtung fortzusetzen. »Na schön. Sedge Nirra ist der perfekte Verdächtige. Die Sache hat nur einen Haken: Er ist tot. Wer steht an zweiter Stelle auf Ihrer Verdächtigenliste?«

»Sie«, sagte Corrin. »Sie sind Außenweltler. Vielleicht haben Sie Picard jahrelang gehasst und geplant, ihn in der gesetzlosen Wildnis zu ermorden, an einem Ort, an dem Sie andere Morde vorbereiteten, die nicht mit Ihnen in Zusammenhang stehen. Dadurch wollten Sie den Anschein erwecken, dass Picards Tod auf ein bajoranisches Verbrechen zurückgeht und …« Corrin unterbrach sich, als Kirk langsam die Faust ballte und ihn ansah.

»Sagen Sie so etwas nie wieder«, zischte er.

Corrin verstand die Warnung. »Bitte entschuldigen Sie. Es ist nur … Nach Sedges Tod weiß ich nicht, wer sonst von den Leuten im Lager in Frage kommen könnte. Deshalb glaube ich, dass es jemand anders ist.«

»Jemand, der von dort draußen kommt?« Kirk nickte in Richtung Wüste. Er wollte Corrins Hypothese nicht in Erwägung ziehen, denn es hätte bedeutet, dass Picards Mörder leicht entkommen konnte. Es sei denn, er – oder sie – hatte noch nicht alles erledigt.

»Vielleicht.« Der Bajoraner klang noch immer nervös.

»Was uns zum Motiv zurückbringt«, sagte Kirk. Er maß Corrin und Aku mit einem aufmerksamen Blick. Corrin sprach als erster.

»Vor der Suche nach einem Motiv sollten wir nach einem Muster Ausschau halten, Captain. Und dabei dürfen wir uns nicht von unwesentlichen Details verwirren lassen.«

»Von welchen Details zum Beispiel?«

Corrin sah übers ferne Wasser. »Sie waren dort draußen. Angenommen, der Disruptorstrahl galt Sedge. Angenommen, er wurde aus dem gleichen Grund umgebracht wie Professor Nilan. Aber warum Picard? Warum Kresin und Trufor? Es sei denn …« Er sah Kirk erwartungsvoll an.

»Ich weiß. Es sei denn, ihr Tod war nicht geplant«, sagte Kirk. »Da haben Sie Recht. Aber Fakt bleibt: Ohne den Angriff auf Sedge und das Boot wäre Picard nicht ertrunken.«

Aku räusperte sich behutsam. »Sie sind nicht ertrunken.«

»Weil Picard mir das Leben rettete, als …« Ganz plötzlich erwachten Erinnerungen in Kirk. Vor dem inneren Auge sah er dunkles Wasser und Schatten, die sich darin bewegten.

»Captain …?«, fragte Aku.

»Da … war etwas im Wasser, in unserer Nähe … etwas Großes …« Wieso hatte er das vergessen? Rankenartige Gebilde, dunkel, mit Stacheln besetzt, hin und her gleitende Schatten, etwas griff nach seinem Bein, hielt Picard fest …

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Ertrinkende Halluzinationen haben«, sagte Corrin.

Kirk fühlte sich desorientiert und reagierte mit Bestürzung darauf, dass ihm dies erst jetzt wieder einfiel. »Welche großen Fische oder andere Tiere gibt es im Binnenmeer?«

»Die größten Geschöpfe ähneln terranischen Aalen«, sagte Corrin.

Aku nickte. »Wir nennen sie Sreen

»In den hiesigen Gewässern werden sie etwa zwei Meter lang. Sie verbergen sich zwischen Felsen und bei den Grundmauern der Stadt dort draußen.«

»Sind sie imstande, einen Mann unter Wasser festzuhalten?«, fragte Kirk. Wie konnte er die Präsenz eines solchen Wesens vergessen haben, einer Kreatur, die sie beide angegriffen hatte und der Picard zum Opfer gefallen war?

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, erwiderte Corrin. »Für gewöhnlich bleiben Sreen in der Nähe ihrer Verstecke. Sie schnappen nach Tauchern, die zu nahe kommen, aber dafür haben wir die Bolzenwaffen. Abseits ihrer Verstecke greifen sie nie an. Und selbst wenn sie sich ins offene Wasser wagen würden … Sie dürften kaum in der Lage sein, einen Taucher daran zu hindern, die Wasseroberfläche zu erreichen.«

»Dann kann das, was uns angegriffen hat, kein Sreen gewesen sein«, sagte Kirk. »Das Geschöpf war größer.« Er stellte sich einen Kraken vor, mit stachelbesetzten Tentakeln.

»Wollen Sie jetzt plötzlich behaupten, dass Captain Picard keinem Mord zum Opfer fiel?«, fragte Corrin. »Dass er von einem Tier angegriffen wurde?«

Kirk kämpfte gegen die Versuchung an, die Stimme zu heben. Was ist los mit mir? Warum fällt es mir so schwer, die Beherrschung zu wahren?

»Das Wesen … es erwischte Picard, weil … weil die Person, die auf Sedge und das Boot schoss, uns zwang, ins Wasser zu springen! Es handelt sich also zweifellos um Mord.«

»Allerdings hat niemand den Disruptorstrahl gesehen«, sagte Corrin. »Und im Binnenmeer gibt es keine Geschöpfe, die groß genug sind, um einen Mann in die Tiefe zu ziehen. Und Sie haben ganz offensichtlich keine klare Erinnerung an die Ereignisse.«

Kirk versuchte aufzustehen – er musste sich bewegen, physisch aktiv werden, um mit dem wachsenden Zorn fertig zu werden. Doch das verbundene Bein machte seine Bewegungen schwerfällig und er konnte sich keine Erleichterung verschaffen.

Aku Sale erhob sich und griff nach Kirks Arm. Als der gebrechliche Alte versuchte, ihn zu stützen, stellte Kirk erschrocken fest, dass er den Tränen nahe war.

»Captain …?«, fragte Aku höflich. »Möchten Sie sich ausruhen?«

Kirk wusste nicht, welche Antwort er auf diese einfache Frage geben sollte. Etwas Unvertrautes ließ ihn innerlich erstarren: Unschlüssigkeit.

Als er nach Worten suchte, bemerkte er, dass Aku und Corrin den Blick von ihm abwandten. Sie sahen beide zum Meer.

Kirk blickte in die gleiche Richtung und erkannte die Köchin des Lagers, Avden Lara. Der Saum ihres langen, dicken Rocks war durchnässt und voller Sand. Sie schritt zum Tisch und in der einen Hand hielt sie ein Objekt, von dem ein langer Schlauch ausging.

Ein Luftschlauch, begriff Kirk.

Das Objekt war eine bajoranische Tauchermaske.

Die Köchin legte die Maske auf den Tisch und der Luftschlauch zitterte wie eine sterbende Schlange.

»Die Leichen sind ans Ufer geschwemmt worden«, erklärte Avden.

Jean-Luc …

Corrins starker Arm bewahrte Kirk davor, zu Boden zu sinken.

Doch nichts hinderte seine Gedanken daran, zu der Geschichte zurückzukehren, deren Rest für Jean-Luc immer unerzählt bleiben würde.