Bajor,
Sternzeit 55598.2
Es fiel Picard noch immer schwer, die Unwirklichkeit des vergangenen Tags zu verarbeiten.
Er erinnerte sich an das Boot und die Markierungsbojen. An die Disruptorenergie, die Sedge Nirra desintegrierte. An den Sprung, der Kirk und ihn selbst ins Wasser und damit in Sicherheit brachte.
Er entsann sich ans Auftauchen. An die Explosion. Und dann … Etwas hatte ihn nach unten gezogen, ihn und Kirk … Schatten, Dorne, Tentakel, die …
Anschließend gab es keine klaren Erinnerungsbilder mehr. Einmal hatte er gedacht, dass Anij zu ihm gekommen war. Er erinnerte sich daran, wie seltsam ihm das erschienen war. Sie hatte nie schwimmen gelernt – wie konnte sie unter Wasser bei ihm sein?
Und Worf hatte ihm ebenfalls Gesellschaft geleistet. Als die Verwirrung überwältigend zu werden drohte, hatte der Klingone Befehle gerufen, die ihm halfen, bei Sinnen zu bleiben. Und dann Will. Und Deanna. Selbst der junge Wesley Crusher, der ihn einerseits ärgerte und andererseits mit Stolz erfüllte.
Eine Zeit lang hatte Picard vermutet, dass er sich auf einem defekten Holodeck befand. Aber Data erklärte ihm, dass er an Halluzinationen litt, hervorgerufen von Sauerstoffmangel – er ertrank im Meer einer fremden Welt. Und dann hatte Beverly ihm gesagt, er solle nicht auf den Androiden hören. Sie war zu ihm gekommen, um ihn fortzubringen, und es folgte eine endlose Umarmung in Schwerelosigkeit.
Das Gefühl jenes Moments war so angenehm gewesen, dass Picard den Wunsch verspürt hatte, sich ihm ganz hinzugeben.
Und genau dieser Wunsch veranlasste ihn, gegen das Gefühl anzukämpfen.
Dann war er erwacht, reglos an – in? – etwas, das fester Fels zu sein schien, umgeben von dunklem, öligem Wasser, das ihm bis zur Brust reichte, unter sonderbaren gelben und grünen Flecken, die keinen bekannten Sternbildern entsprachen.
Das Gefühl der Kälte, der Erschöpfung und des Hungers wies ihn darauf hin, dass dies die Realität war. Er widerstand den verlockenden Erinnerungen an Anij und Beverly, wandte sich stattdessen der Kälte und dem Schmerz zu.
Kirks Stimme zu hören, während er sich auf unangenehme Empfindungen konzentrierte … Er hielt es irgendwie für angemessen. Bei dieser Reise schienen sie beide unzertrennlich zu sein. Picard erhoffte sich eine Gelegenheit, es Kirk heimzuzahlen.
Doch zuerst ging es darum, die Rückkehr zur Oberfläche zu überleben. Und als in der Höhle die Energie eines Transporterstrahls aufglühte, begriff Picard, dass seine Überlebenschancen drastisch sanken.
Denn es handelte sich nicht um einen Starfleet-Transporter. Und auch nicht um einen bajoranischen.
Mit einem letzten Flackern verschwand Corrin Tals Leiche.
»Ein cardassianischer Transporter«, sagte Kirk.
»Ja.«
Beide Männer wandten sich den Atemgeräten zu, hoben sie auf und wussten, dass ihnen vielleicht nur Sekunden blieben, bis …
Hinter ihnen erstrahlte erneut goldenes Licht.
Picard sah Kirk an. »Weißt du, was hier vor sich geht?«
»Das dachte ich bis eben. Aber …«
»Legen Sie die Atemgeräte auf den Boden«, sagte Sedge Nirra.
Kirk und Picard drehten sich zu dem Mann um, dessen Tod sie beobachtet hatten.
»Jetzt verstehe ich«, sagte Kirk leise.
Sedge trug eine Uniform aus schwarzem Leder, doch das Brustteil und die Schulteröffnung waren viel zu groß für ihn. Es war eine cardassianische Uniform und ein cardassianischer Disruptor zielte auf die beiden Menschen. Sedge lächelte. »Sie bleiben hier.«
Kirk und Picard ließen die Atemgeräte sinken und legten sie vorsichtig auf den Höhlenboden, ganz offensichtlich mit der Absicht, sie noch einmal zu benutzen.
Sedge sah Kirk an und winkte kurz mit dem Disruptor. »Und auch die Bolzenpistole.«
Kirk löste die Schnüre des Halfters und legte es ab.
»Schon besser«, sagte Sedge. »Jetzt können wir reden.«
»Worüber?«, fragte Picard, trat einen kleinen Schritt zur Seite und wusste, dass Kirk verstand. Wenn sie Abstand voneinander hielten, boten sie ein schwerer zu treffendes Ziel.
Sedge wandte sich an Picard und lächelte. »Ich würde gern wissen, wie Sie es geschafft haben zu überleben, Picard. Aber zuerst werde ich Kirk einige Fragen stellen.«
Kirk zuckte unschuldig mit den Schultern. »Was wollen Sie von mir wissen?«
»Wann kamen Sie zu dem Schluss, dass Corrin der Mörder war?«
Kirk runzelte die Stirn. »Nach Ihrem Tod.«
Das schien Sedge zu faszinieren. »Unmittelbar danach?«
»Bis dahin dachte ich, dass Sie der Mörder sind.«
Sedge nickte. »Ich wusste, dass es darauf hinauslaufen würde. Deshalb habe ich meinen … Abgang von der Bühne arrangiert.«
»Chromatische Manipulation der Lichtsignatur des Transporterstrahls«, sagte Picard.
»Wie Sie meinen, Captain. Ich habe einfach nur einem Techniker im Ruhestand erklärt, worauf es mir ankam – eine Entmaterialisierung, die genauso aussieht wie die Desintegration durch einen Disruptorstrahl. Er versicherte mir, es sei überhaupt kein Problem.«
»Warum all diese Mühe?«, fragte Kirk.
»Sie kennen die Antwort, Captain.«
»Ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben«, sagte Kirk.
»Ich nicht«, warf Picard ein.
Kirk achtete nicht darauf. »Ich verstehe nur nicht, warum Sie sich all die Umstände gemacht haben. Weshalb nicht mit den Schiffssensoren nach der Träne suchen?«
»Träne?«, wiederholte Picard. »Welche Träne?«
»So einfach ist das nicht«, sagte Sedge. »Zunächst einmal: Ich habe kein Schiff. Zumindest keines, das über Fundstätte Vier im Orbit bleiben könnte, ohne Verdacht zu erregen.«
»Fundstätte Vier?«, fragte Kirk.
Sedge winkte mit dem Disruptor, eine Geste, die der Höhle und ihrem Inhalt galt. »Die Ausgrabungen bei Bar'trila. Während der Jahre der cardassianischen Befreiung nannten wir sie ›Fundstätte Vier‹.«
Etwas in Picard versteifte sich, als er diese Worte und den darin anklingenden Hohn hörte.
»Die Jahre der cardassianischen Befreiung?«, fragte Kirk.
»Die Bezeichnung der Cardassianer für die Besatzung«, sagte Picard. Er richtete einen anklagenden Blick auf Sedge. »Sie waren ein Kollaborateur!«
Aber Sedge schüttelte ungerührt den Kopf. »Corrin war der Kollaborateur, Captain. Damals hieß er Rals Salan und zählte zu den Vertrauten. Er arbeitete hier für mich und beaufsichtigte die Angehörigen seines eigenen Volkes, um in den Genuss gewisser Privilegien zu gelangen. Ein gutes Beispiel für bajoranische Solidarität, finden Sie nicht?«
»Ein Vertrauter …«, sagte Picard. »Und er arbeitete für Sie …?«
Sedge strich mit der Hand über die Seite seines Halses, der so gar nicht zum breiten Kragen der cardassianischen Uniform passen wollte – er war für den Kobrahals eines Cardassianers bestimmt. »Der Eingriff war sehr schmerzhaft«, meinte er. »Aber er lohnte sich.«
Picard verstand sofort, eine Sekunde später auch Kirk. »Sie sind Cardassianer?«
»Das ist einer der Gründe, warum mir nie jemand vorwerfen konnte, ein Kollaborateur zu sein«, erklärte Sedge. »Während der Jahre der Befreiung existierte Sedge Nirra überhaupt nicht.«
Picard wählte einen formellen Ton. Er erinnerte sich an seine Begegnungen mit Cardassianern. Sie hatten Narben bei ihm hinterlassen, ihn aber auch gelehrt, wie man am besten mit ihnen fertig wurde: indem man von einem Standpunkt arroganter Stärke aus sprach.
»Nennen Sie uns Ihren wahren Namen«, sagte Picard und klang dabei nicht wie ein besorgter Gefangener, sondern wie ein Offizier, wie ein Gleichberechtigter.
Sedge reagierte so, wie Picard es von ihm erwartet hatte.
»Gul Atal, Präfekt der geschützten Enklaven von Lharassa. Zumindest war ich das damals«, fügte Sedge hinzu, »bis die bajoranische Widerstandsbewegung unsere Ausgrabungsstätte angriff. Das Obsidian-Kommando wusste, dass die Tränen der Propheten tatsächlich existierten. Dort hielt man sie für eine Quelle unermesslicher Macht. Und man versuchte alles, um in ihren Besitz zu gelangen.«
Der Cardassianer schnitt ein grimmiges Gesicht. »Und wenn das Kommando eine bestimmte Träne nicht bekommen konnte, so verhinderte es mit allen Mitteln, dass sie den Bajoranern in die Hände fiel.« Erneut wies er mit dem Disruptor auf die Höhle. »Nur ein Tag trennte uns von der Entdeckung dieser Höhlen, als die Widerstandskämpfer angriffen. Ich forderte Hilfe an. Das Obsidian-Kommando schickte eine Einsatzgruppe – um das gestaute Wasser des Flusses freizugeben und alles zu überfluten, damit weder wir noch die Bajoraner die Träne bekamen. An jenem Abend wurde ich verraten. Rals Salan war bei mir. Der dumme Glin, der glaubte, uns erschossen zu haben … Er vergewisserte sich nicht, ob wir wirklich tot waren. Jetzt ist er tot, ebenso wie Rals, und nur ich bin übrig, um jenen Verrat zu rächen.«
»Welchen Kampf auch immer Sie gegen Ihr eigenes Volk führten – er ist vorbei«, sagte Picard. »Das Obsidian-Kommando hat seine Macht verloren. Niemand schert sich mehr darum. Aber die Bajoraner würden Sie sicher zur Rechenschaft ziehen wollen, für das, was Sie damals waren: kein Präfekt, sondern ein Sklavenhalter!«
Gul Atal, der Cardassianer mit dem Gesicht eines Bajoraners, lächelte kurz, als wüsste er Picards Elan zu schätzen. »Würden Sie ein Pferd als einen Sklaven bezeichnen, Picard? Bajoraner sind Tiere. Also können es gar keine Sklaven sein, nur Werkzeuge.«
»Sie vertrieben die Cardassianer von diesem Planeten«, sagte Kirk.
Atals Lächeln verschwand. »Wir haben uns alle Mühe gegeben, ihnen zu helfen, aber sie stellten unsere Geduld auf eine harte Probe.«
»Selbstsüchtige Lügen!«, stieß Picard hervor. »Sie verließen Bajor, als Sie diese Welt ausgeplündert hatten und es nichts mehr gab, das Sie nach Cardassia schicken konnten!«
Atal schoss auf das Atemgerät neben Picard. Funken stoben vom Gehäuse und dann platzte ein Tank. Es zischte laut, als unter Druck stehende Luft entwich und das Gerät ins Wasser rutschte.
Aus einem Reflex heraus wich Picard einen Schritt zurück und war geistesgegenwärtig genug, auch noch einen zur Seite zu treten. Zufrieden stellte er fest, dass auch Kirk die Gelegenheit nutzte und einen Schritt zur Seite trat, was die Entfernung zwischen ihnen vergrößerte. Sie konnten mit einem Atemgerät zur Wasseroberfläche zurückkehren, sobald sie das Problem namens Atal gelöst hatten.
»Es wird Zeit, dieses Gespräch zu beenden«, sagte der chirurgisch modifizierte Cardassianer. Er richtete die Waffe auf Kirk. »Sie haben den Tempel gefunden, Captain. Ich bin angemessen beeindruckt.«
Kirk runzelte ungläubig die Stirn. »Wieso haben Sie ihn nicht entdeckt?«
»Professor Nilan verbarg ihn vor mir. Er manipulierte die Daten der Taucher und hielt Informationen zurück.«
Kirk schien diesen Hinweis zu verstehen, aber Picard fragte verwirrt: »Warum sollte Nilan irgendetwas vor Ihnen verbergen? Vor Sedge Nirra, meine ich?«
Atal nickte Kirk zu. »Erklären Sie es ihm.«
»Offenbar geht man davon aus, dass sich eine Träne der Propheten in Bar'trila befindet. Ich vermute, jemand wollte sie mit der Absicht finden, sie zu stehlen. Und Nilan versuchte, ihre Entdeckung zu verhindern, um sie zu schützen.«
Picard zog den richtigen Schluss aus diesen Worten und sah Atal an. »Sie haben Nilan ermordet, damit er nichts mehr vor Ihnen verbergen konnte. Und dann inszenierten Sie Ihre eigene Ermordung, um Kirk von Ihrer Spur abzulenken.«
»In Einfachheit liegt viel Freude«, erwiderte Sedge. »Meinen Sie nicht auch?«
»So einfach ist das nicht«, sagte Kirk. »Ihre angebliche Ermordung brachte zwei unschuldige Bajoraner um, Trufor und Kresin.«
»O nein, Captain. Sie haben sie ins Wasser geschickt, damit sie nach Picard suchen. Für ihren Tod bin nicht ich verantwortlich.«
Picard erfuhr erst jetzt, dass die beiden Taucher nicht mehr lebten. »Wie starben sie, Jim?«
Kirk zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand. Ihre Leichen wiesen keine Verletzungen auf. Eines steht fest: Sie sind nicht ertrunken.«
»Es spielt keine Rolle. Ihr Tod ist ohne jede Bedeutung.« Atal wandte sich wieder an Kirk. »Wir haben darüber gesprochen, wie Sie den Tempel fanden.«
»Da gibt es nicht viel zu sagen.« Erneut hob und senkte Kirk die Schultern. »Ich habe die Bereichskarten der Taucher mit der großen Übersicht verglichen und dabei eine Stelle entdeckt, wo es keine Übereinstimmung gab. Anschließend überredete ich Corrin – beziehungsweise Rals oder wie auch immer Ihr Partner hieß –, mich zu begleiten. Ich sagte ihm, er sei die einzige Person, der ich trauen könnte.«
Atal lachte und für Picard klang es echt. »Ausgezeichnet, Captain. Ich werde daran denken, wie geschickt Sie sind, wenn es um Täuschung und Irreführung geht. Nun, was haben Sie sonst noch herausgefunden?«
Kirk verschränkte trotzig die Arme. »Sie möchten wissen, wo sich die Träne befindet.«
Atal neigte wie ein ungeduldiger Vater den Kopf zur Seite. »Ich brauche Sie nicht zu foltern, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen.« Er richtete den Disruptor auf Picard. »Wenn Sie nicht reden, erschieße ich ihn.«
Atal feuerte und der Strahlblitz bohrte sich dicht vor Picard in den Boden. Steinsplitter stoben auf und Picard wich erneut einen Schritt zurück.
»Sag ihm nichts, Jim. Er bringt uns ohnehin um!«
»Es gibt viele Arten zu sterben, Captain Picard. Ich biete Ihrem Freund eine Wahl. Der Tod eines Soldaten, sauber und ehrenhaft. Oder das qualvolle Ende eines Tieres. Wofür entscheiden Sie sich, Captain Kirk?«
»Na schön. Ich weiß, wo sich die Träne befindet.«
»Jim, nein.«
»Seien Sie still, Picard«, zischte Atal. Und zu Kirk: »Sagen Sie es mir.«
Kirk gab eine klare Antwort. »Nein.«
Atal kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht in der Position, mit mir zu verhandeln.«
»Ich bin sogar in einer sehr guten Position«, widersprach Kirk. »In gut einem Tag schwenkt die Enterprise in eine Umlaufbahn um Bajor und ich garantiere Ihnen: Zwanzig Minuten nach ihrer Ankunft statten hundert Starfleet-Sicherheitswächter Ihrem Lager einen Besuch ab. Nach einer Stunde haben die Sensoren alle Steine und Körper in Bar'trila sondiert. Nach zwei Stunden hat man DNS-Proben aus Ihrem Zelt untersucht und festgestellt, dass Sedge Nirra ein Cardassianer ist. Und nach einem Tag wird man aufgrund der DNS-Spuren in dieser Höhle wissen, dass Sie nach Ihrer Ermordung hier bei uns waren. Überlegen Sie, Atal. Wenn Starfleet nach Ihnen sucht, gibt es in der ganzen Galaxis kein Versteck für Sie. Und der Umstand, dass Ihnen kein eigenes Schiff zur Verfügung steht, dürfte darauf hindeuten, dass Sie nicht auf die Hilfe Ihrer Heimatwelt zurückgreifen können. Wenn der Föderationsrat weitere Wiederaufbauhilfe für Cardassia Prime von der Bereitschaft der cardassianischen Regierung abhängig macht, nach Ihnen zu suchen … Ich schätze, dann wird Ihr Volk bereit sein, die Föderation bei der Fahndung nach Ihnen zu unterstützen.«
Picard war beeindruckt. Zorn glitzerte in Atals Augen, aber er ließ den Disruptor sinken.
Dann überlegte er es sich anders und hob ihn wieder. »James T. Kirk. Meister des Bluffs. Ich glaube nicht, dass Sie die Träne gefunden haben.«
Picard seufzte. Es war ein besonders guter Bluff gewesen. Er hatte selbst halb daran geglaubt.
»Ich brauchte die Träne gar nicht selbst zu entdecken«, erwiderte Kirk. »Die Köchin des Lagers hat mir gesagt, wo sie sich befindet.«
Erneut senkte Atal den Disruptor.
»Seien Sie nicht so überrascht«, fuhr Kirk fort und Picard bewunderte ihn dafür, wie gut er den arroganten Tonfall des chirurgisch veränderten Cardassianers nachahmte. »So hat doch alles begonnen, oder? Mit den Informationen, die Sie von Avden Laras Ehemann erhielten.«
Picard wusste nicht genau, was Kirk bezweckte oder ob er überhaupt einen Plan hatte. Atal teilte seinen Zweifel.
»Sie bluffen noch immer«, sagte Atal. »Einem Ungläubigen hätte Lara nie verraten, wo sich die Träne befindet.«
»Sie war sich gar nicht bewusst, dass sie mir darüber Auskunft gab«, sagte Kirk. »Sie wies nur auf eine rätselhafte Bemerkung ihres Mannes hin.« Die nächsten Worte waren an Picard gerichtet und Kirk formulierte sie mit besonderem Nachdruck. »Kurz bevor wir eine kleine Bar besuchten, beim Raumhafen von Lharassa.« Er schien sich jetzt hämisch zu freuen. »Als ich diese Höhle fand und begriff, dass sie einst als Tempel diente … Da wurde mir klar, was Laras Mann ihr mitgeteilt hatte.«
»Ich habe Avden Trul selbst gefoltert«, knurrte Atal. »Er wusste nicht, wo sich die Träne der Propheten befindet. Er hatte nur einen beschädigten Datenzylinder, der vor Jahrzehnten für das Obsidian-Kommando vorbereitet worden war. Die darin enthaltenen Informationen bestätigten bajoranische Legenden von einer verlorenen Träne in Bar'trila, aber mehr nicht. Wenn ihm mehr bekannt gewesen wäre, hätte er es mir gesagt, Kirk. Ich bin sehr geschickt bei meiner Arbeit.«
»Und er war ein Vater, der Tochter und Ehefrau schützte. Folter kann ein solches Band nicht zerreißen.«
»Ich habe weder seine Frau noch das Kind bedroht«, sagte Atal verärgert.
»Weil er Ihnen nie gesagt hat, dass Avden Lara von den Propheten träumte. Und in diesem Traum teilten ihr die Propheten mit, wo sich die Träne befindet.«
Picard bemerkte Atals Unschlüssigkeit und bestimmt spürte Kirk sie ebenfalls.
»Was ist daran so schwer zu glauben?«, fragte Kirk. »Lieben Cardassianer ihre Kinder nicht?«
Einmal mehr senkte Atal den Disruptor und diesmal blieb er unten. »Wie lauten Ihre Bedingungen?«
»Die Träne für unser Leben.«
»Jim, du darfst einem Cardassianer keine Träne der Propheten überlassen!«
Kirk wandte sich an Picard. »Es ist ein Artefakt, Jean-Luc. Von den Wurmloch-Entitäten hergestellt. Unser Leben ist mehr wert.«
Atal lächelte breit. »Eine gute Entscheidung, Kirk. Sie haben völlig Recht.« Das Lächeln verschwand wieder. »Leider ändert Ihr Angebot nichts an der Verfolgung durch Starfleet.«
Kirk war auch darauf vorbereitet. »Wenn wir nicht zu Schaden kommen, gibt es kein Verbrechen. Zumindest keines, an dem Starfleet interessiert wäre. Dann beschränken sich Ihre Sorgen auf die Bajoraner. Und aus irgendeinem Grund glaube ich, dass Sie wegen der Bajoraner nicht sehr besorgt sind.«
Atal nickte. »Ich nehme Ihr Angebot an. Jetzt müssen wir die Logistik ausarbeiten.«
»Jim …«, sagte Picard in einem drängenden Tonfall. »Was du vorschlägst, verletzt alle Vereinbarungen zwischen der Föderation und Bajor. Ein heiliges religiöses Artefakt fortzugeben, das einer anderen Kultur gehört … Das ist Einmischung der schlimmsten Art! Ein krasser Verstoß gegen die Erste Direktive!«
Kirk warf Picard einen verärgerten Blick zu. »Zunächst einmal: Du weißt, was ich von der Ersten Direktive halte. Und außerdem: Es handelt sich um eine Starfleet-Vorschrift und ich gehöre nicht mehr zu Starfleet. Aber ich bin fest entschlossen, meinen Ruhestand zu genießen, und deshalb – sei still!«
Picard setzte zu einem weiteren Einwand an, doch Kirk hob warnend den Zeigefinger.
Daraufhin verschränkte Picard die Arme und trat einen weiteren Schritt fort. Er fand es ein wenig seltsam, dass auch Kirk zur Seite wich, so als hätte er noch immer einen Angriffsplan. Picard hielt seinen Gesichtsausdruck neutral, aber er begriff plötzlich, dass Kirk gar nicht beabsichtigte, dem Cardassianer die Träne zu überlassen. Er bluffte tatsächlich. Aber um was für eine Art von Bluff handelte es sich? Und wann wollte er aktiv werden?
Nur in einem Punkt war Picard sicher: Wenn es so weit war, würde es eine Überraschung sein.
Das war bei Kirk immer der Fall.